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Blau-grün-gelb verwischter Hintergrund. Darauf der weiße Schriftzug "Was tun gegen die Inflation? Das Beispiel Italien".

Was tun gegen die Inflation?

Das Beispiel Italien

von Roberto Tamborini  |  30.11.2022

­­­Der Inflationsschock in Europa

Dass in den Industrieländern die Inflation zurückgekehrt ist, hat, obwohl die Lage überall ähnlich aussieht, unterschiedliche Gründe. In der Literatur finden wir traditionell die Unterscheidung zwischen nachfrageinduzierter und kosteninduzierterInflation. Beim ersten Typ entsteht ein allgemeiner Preisdruck aus der Tendenz der verschiedenen Komponenten der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, über alle Sektoren hinweg schneller zu wachsen als die Produktionskapazität auf der Angebotsseite. Bei der kosteninduzierten Art hingegen kommt der Inflationsimpuls direkt von den Produktionskosten, die aufgrund „exogener“ Faktoren und damit unabhängig von den anderen makroökonomischen Rahmenbedingungen steigen können. Meist liegt dies an den Kosten importierter Vorprodukte wie Rohstoffen, Energie oder Zwischenprodukten. Die übliche Folge dessen ist auch als Stagflation bekannt, das heißt Inflation, die gemeinsam mit einem Rückgang der wirtschaftlichen Aktivitäten auftritt. Das kann wohlgemerkt unabhängig von geldpolitischen Restriktionen geschehen.

 

Die Kanäle, über die die Stagflation entsteht, laufen dabei sowohl über die Angebots- als auch über die Nachfrageseite der Volkswirtschaft. Auf der Angebotsseite können Unternehmen – in Abhängigkeit von den unterschiedlichen Marktstrukturen, denen sie ausgesetzt sind – zumindest kurzfristig entweder versuchen, höhere Kosten auf die Verkaufspreise umzulegen, und/oder sie müssen bei den teureren Betriebsstoffen oder Vorprodukten sparen, was auch Produktionskürzungen mit sich bringen kann. Auf der Nachfrageseite treibt der Energiepreisschock den Konsumentenpreisindex an, und die privaten Haushalte erleiden Kaufkraftverluste – jedenfalls dann, wenn die Nominaleinkommen nicht sofort und vollständig mit dieser Entwicklung Schritt halten.

 

So gesehen scheint Europa stärker von einer importierten, kosteninduzierten Inflation betroffen zu sein als von einer nachfrageinduzierten Variante, die in anderen Industriestaaten vorherrscht, insbesondere in den USA und Großbritannien. Die weltweiten Einflussfaktoren der kosteninduzierten Inflation sind bereits seit der Frühphase der schnellen postpandemischen Erholung im zweiten Halbjahr 2021 erkennbar – nämlich die Störungen und Engpässe bei den globalen Lieferketten und Transportrouten, die Verknappung industrieller Rohmaterialien und Vorprodukte sowie Spannungen auf den Energiemärkten (für Öl und Gas). Diese Faktoren wurden durch den Ausbruch des Ukrainekrieges noch verstärkt, insbesondere – aber nicht nur – an der Energiefront zu Russland.

 

Wie diese vereinfachte Beschreibung verdeutlicht, ist der stagflationäre Schock umso intensiver, je mehr Energie ein Land verbraucht und je stärker es von Energie aus dem Ausland abhängt. Im Vergleich zu ähnlichen Staaten wie den USA oder Großbritannien kann gesagt werden, dass die kontinentaleuropäischen Länder etwas weniger Energie verbrauchen, aber erheblich abhängiger von ausländischen Energieimporten sind. Insgesamt scheinen bis jetzt die negativen Folgen des importierten Energieschocks in Europa ausgeprägter zu sein als anderswo. Laut Berechnungen von Mitarbeitenden der Europäischen Zentralbank (EZB) ist das Verhältnis der Energiekomponente zum gesamten Konsumentenpreisindex - auch realer Energiepreis genannt - in der Eurozone von 100 im Jahr 2020 auf 200 im ersten Halbjahr 2022 gestiegen.

 

Dies hat wichtige Auswirkungen auf die Geldpolitik: Erstens ist die kosteninduzierte – und insbesondere die importiertekosteninduzierte – Inflation vor allem eine Veränderung der relativen Preise mit realen Effekten sowohl auf der Angebots- wie auch auf der Nachfrageseite. Zweitens ist die Stagflation unabhängig von jeglichen geldpolitischen Restriktionen immanent mit den importierten Energiepreisschocks verbunden. Drittens mögen sich die Zentralbanken, insbesondere die Europäische Zentralbank (EZB), zwar zur Inflationsbekämpfung verpflichtet fühlen, aber es ist allgemein bekannt, dass geldpolitische Maßnahmen zur Korrektur realer, struktureller Schocks schlecht geeignet oder gar kontraproduktiv sind. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass eine geldpolitische Straffung über alle Sektoren hinweg die Nachfrage verringert. Die richtige Reallokationsreaktion würde hingegen darin bestehen, die Nachfrage weg von den teureren importierten (Energie-)Gütern hin zu günstigeren inländischen Gütern zu verlagern. Und viertens sind die Übertragungskanäle der Stagflation in verschiedenen Ländern unterschiedlich. Wie es bereits bei der globalen Finanzkrise 2008/2009 und der Covid-19-Pandemie der Fall war, sollte sich die Europäische Währungsunion darauf vorbereiten, einen „symmetrischen Schock“ mit landesspezifischen „asymmetrischen Effekten“ zu bekämpfen.

 

Auf jeden Fall hat sich Europa die schlimmste Variante des Inflationsvirus eingefangen. Hier grassieren sowohl wirtschaftlicher Abschwung als auch Inflation – und beide sind gefährlich. An Geld oder Inflation ist nichts Magisches, sondern das Ergebnis hängt von den Feinheiten der Übertragungsmechanismen innerhalb der Volkswirtschaft ab, und dabei hat jede Lösung ihren Preis. Also könnte die EZB-Strategie einer vorsichtigen geldpolitischen Straffung vernünftig und gerechtfertigt sein.

 

Italien und die Energiekrise

Wie auf die anderen großen europäischen Wirtschaftsräume trifft dieses allgemeine Umfeld größtenteils auch auf Italien zu. Im dritten Quartal 2021 beschleunigte sich der allgemeine HVPI (der harmonisierte Verbraucherpreisindex) und stieg auf Jahresbasis von 1,3 Prozent im Juni auf 2,9 Prozent im September und auf 4,2 Prozent im Dezember 2021. Angetrieben wurde dieser Anstieg weitgehend durch die Energie- und Nahrungsmittelkomponente, deren Anteil zwischen 65 und 75 Prozent liegt. Die sogenannte Kerninflation blieb bis zum ersten Quartal 2022 noch im Rahmen, hat sich seitdem aber beschleunigt. Im September 2022 erreichte der allgemeine HVPI eine Jahressteigerungsrate von 9,5 Prozent, von der die Hälfte auf das Konto der Kernkomponenten geht.

 

Wie weiter oben erklärt, spielen bei der Übertragung der kosteninduzierten Inflationsimpulse die Marktstruktur und die Preissetzungspolitik der Unternehmen eine entscheidende Rolle. Die immer größere Lücke zwischen der italienischen Kern- und der Nichtkerninflation im Laufe des Jahres 2021 und zu Beginn des Jahres 2022 wird weitgehend durch die Unterschiede zwischen den Produktionsfaktorkosten, den Großhandelspreisen und den Einzelhandelspreisen widergespiegelt (und erklärt). Laut dem Centro Studi Confindustria, dem Forschungszentrum des Italienischen Industrieverbands, stiegen 2021 der Index der Produktionsfaktorkosten um 34 Prozent, die Bruttopreise der Zwischenprodukte um die Hälfte (17,5 Prozent) und die Einzelhandelspreise um 3,5 Prozent. Diese Unterschiede zeigen, wie stark und an welchem Punkt in der Lieferkette der Kostenschock durchgereicht oder von den operativen Gewinnmargen der Unternehmen absorbiert wurde.

 

Was die Rolle der Energieabhängigkeit bei der Übertragung der importierten kosteninduzierten Inflation betrifft, liegt Italien, insbesondere bei Erdgas, im oberen Bereich des europäischen Spektrums – nah an Deutschland, aber etwas weiter entfernt von Frankreich und anderen.

 

An der Schwelle zum neuen Jahrtausend lag der italienische Energiemix bei 52 Prozent für Öl, bei 34 Prozent für Gas, bei 6 Prozent für erneuerbare und bei 8 Prozent für sonstige fossile Energieträger. Seitdem aber ist der Anteil von Gas und Erneuerbaren gestiegen (auf 41 bzw. 19 Prozent), wodurch derjenige von Öl und sonstigen fossilen Energieträgern auf 36 bzw. 4 Prozent gesenkt werden konnte. Gas diente daher in dieser Zeit als strategische Alternative zu Öl, aber auch der größere Anteil erneuerbarer Quellen ist sichtbar, der innerhalb Europas eine der stärksten Steigerungsraten aufweisen konnte. Ein zweites zu berücksichtigendes Merkmal besteht darin, dass Italien erheblich von Energieimporten abhängig ist: 2019 wurden durchschnittlich 78 Prozent der Energie importiert – 96 Prozent des Öls und 94 Prozent des Gases. Italien ist nach Deutschland der zweitgrößte Gasimporteur Europas. Und schließlich sind die Ölimporte zwar auf Anbieter in aller Welt verteilt, aber die Gasimporte kommen vor allem aus Russland. Vor dem Ukrainekrieg stammten über 40 Prozent des insgesamt importierten Gases von dort, allerdings konnte dieser Wert im ersten Halbjahr 2022 auf 18 Prozent gesenkt werden. Der größte Teil der geografischen Verlagerung geht nach Nordafrika und Nahost – und, was die Sorte betrifft, hin zu Flüssigerdgas.

 

Der Anteil der Energie- an den gesamten Produktionskosten wird 2022 schätzungsweise 8,8 Prozent erreichen – mehr als doppelt so viel wie in Frankreich (3,9 Prozent) und ein Drittel mehr als in Deutschland (6,8 Prozent). Im verarbeitenden Gewerbe ist der Anteil etwas geringer (8 Prozent), aber der Abstand zu Frankreich wird dort größer (und zu Deutschland kleiner). Je nach Hypothese über die Beziehung zwischen den Energiepreisen auf den internationalen Märkten und den Inlandsmärkten wird erwartet, dass der Einfluss auf die italienische Energierechnung monatlich in einer Größenordnung von 5,7 bis 6,8 Milliarden Euro liegt – und zwischen 2,3 und 2,6 Milliarden Euro allein für das verarbeitende Gewerbe. Diese Daten belegen zusätzlich, dass die Veränderungen der relativen Preise und Kosten ein entscheidendes Beiprodukt der importierten kosteninduzierten Inflation sind, die über die gesamte Volkswirtschaft hinweg wichtige sektorale reale Effekte auslösen.

 

Wie bereits erklärt, ist der andere entscheidende Kanal bei der Entwicklung der Stagflation derjenige über die privaten Haushalte: Solange die Nominaleinkommen nicht mit der Inflation mithalten können, erleiden die Haushalte Kaufkraftverluste und müssen höhere Energierechnungen schultern, was bei Nichtenergiewaren und -dienstleistungen zu Nachfrageverlusten führt. In dem Maße, in dem die Löhne beginnen, aufzuholen, wird die Inflation weiter angeheizt. Ebenso wie (oder gar mehr als) der Rest Europas scheint sich Italien bisher noch in der ersten dieser beiden Phasen zu befinden.

 

Weder die italienische Zentralbank noch das nationale Statistikinstitut ISTAT sehen deutliche Spannungen auf den Arbeitsmärkten, außer einiger sektoraler Engpässe oder Diskrepanzen zwischen der Arbeitsnachfrage und dem Arbeitsangebot. Es wird erwartet, dass das Lohnwachstum in den kommenden Monaten mäßig bleibt. Der Anteil der Beschäftigten des privaten Sektors mit abgelaufenen vertraglichen Vereinbarungen bleibt mit 40 Prozent weiterhin hoch. Und im April 2022 wies das ISTAT auf eine wachsende Diskrepanz zwischen der Erhöhung der Stundenlöhne und der HVPI-Beschleunigung hin, wobei die Lohnsteigerungen bis Ende des Jahres in der Nähe oder unterhalb von 1 Prozent erwartet werden.

 

Die Reaktion des Konsums der privaten Haushalte bleibt zwiespältig: Einerseits findet dort – auch dank der großen (erzwungenen) Ersparnisse, die während der Lockdowns angehäuft wurden – eine postpandemische Erholung statt, wenn auch nicht einheitlich über alle Sektoren hinweg (Wohnen, Nahrungsmittel und Tourismus liegen an der Spitze). Andererseits sind auch frühe Anzeichen von Vertrauensverlust und geringerer Kaufkraft erkennbar. Dabei muss die wichtige Tatsache berücksichtigt werden, dass der negative Einkommenseffekt der Stagflation zwischen verschiedenen Klassen von privaten Haushalten ungleich verteilt ist: „Für das unterste Einkommensquintil ist die Inflation durchschnittlich größer als für die höheren Quintile, mit deutlicherer Abweichung von den jeweiligen Durchschnittswerten. Tatsächlich sind die Güter, deren Preise schneller steigen (Energie und Lebensmittel) in den Warenkörben der weniger wohlhabenden Haushalte stärker vertreten.“

 

Politische Herausforderungen

Insgesamt sind die rezessiven Effekte der Stagflation momentan eher in den Prognosen und Vorhersagen zu finden und scheinen sich bis Ende des Jahres 2022 zu verzögern. Nach einem schwachen ersten Quartal berichtet das ISTAT in seiner jüngsten Veröffentlichung von einem unerwarteten Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im zweiten Quartal. Nun soll die Wirtschaft auf Jahresbasis um mehr als 3 Prozent wachsen, was über den Prognosen von Ende 2021 liegt. Allerdings gibt es Gründe für die Annahme, dass der aktuelle Inflationsanstieg nicht nur kurzfristig ist, da die zugrunde liegende Kombination von Kostentreibern wahrscheinlich auch noch mittelfristig bestehen bleibt. Also wird der Suche nach dem richtigen Maßnahmenmix eine entscheidende Rolle zukommen, um sowohl die Inflation als auch die wirtschaftliche Aktivität möglichst ausgeglichen zu halten.

 

Solange die EZB ihre im Juli 2022 eingeleitete Strategie der „Normalisierung“ beibehalten kann, kann die Geldpolitik bei ihrem Kampf gegen die Stagflation durch schrittweise, angemessene und gezielte Fiskalmaßnahmen auf nationaler und EU-Ebene nützlich ergänzt werden. Dementsprechend hat die italienische Regierung im Laufe dieses Jahres ein Interventionspaket im Umfang von bis zu 60 Milliarden Euro (3,5 Prozent des BIP) umgesetzt, und das in drei Teilen: der erste im Frühling und die beiden anderen in den darauffolgenden Monaten. Die Ressourcen dafür konnten dem aktuellen Staatshaushalt entnommen werden, ohne die nötige Kreditaufnahme für dieses Jahr (5,6 Prozent des BIP) erhöhen zu müssen. Sie stammen (nach abnehmender Wichtigkeit sortiert) hauptsächlich aus: (1) Extraeinnahmen durch die wirtschaftliche Erholung, (2) den Auswirkungen der Preissteigerungen auf die indirekten Steuern, (3) der Besteuerung von Übergewinnen im Energiesektor, und (4) der Neuberechnung einiger Posten innerhalb des nationalen Resilienz- und Aufbauplans, die die Kostensteigerungen berücksichtigt.

 

Jedes der drei Teilpakete enthält eine Vielzahl von Maßnahmen und Instrumenten, um die privaten Haushalte und Unternehmen zu unterstützen. Die Erleichterungen für Haushalte und Verbraucher_innen sollen meist über direkte Subventionen erfolgen (z. B. einen einmaligen Bonus in Höhe von 200 Euro und einen Zuschuss für öffentliche Verkehrsmittel über 60 Euro) oder durch die Senkung der Steuern auf Benzin und Strom (die bis November 2022 verlängert wurde). Die Maßnahmen zur Entlastung von Unternehmen konzentrieren sich darauf, ihre Steuerbelastung proportional (zwischen 25 und 40 Prozent) zu ihren zusätzlichen Energiekosten zu verringern. Außerdem sollen in erheblichem Umfang öffentliche Garantien bereitgestellt werden, um Unternehmen, die wegen extrem erhöhter Energiekosten in Liquiditätsschwierigkeiten geraten sind, die Aufnahme von Krediten zu erleichtern.

 

Damit verbunden sind auch Maßnahmen – meist Anreize und Hilfen – für die Diversifizierung der Versorgung und den Übergang zu grünen Energieträgern. Besonders wichtig und kontrovers ist der sogenannte 110-Prozent-Bonus, mit dem die zertifizierten Kosten für die energetische Sanierung von Gebäuden (Apartments, Wohnungen, Familienhäusern usw.) zu 110 Prozent von der persönlichen Steuerlast abgesetzt werden können (was einer Komplettbefreiung und einer zusätzlichen Subvention entspricht). Tatsache ist, dass die Gebäude in Italien meist alt sind und viel Energie verbrauchen. Diese Maßnahme kostet die öffentliche Hand etwa 38 Milliarden Euro – aber diese Zahl könnte, wenn man die zusätzlichen, indirekt erzielten Einnahmen berücksichtigt, auf 20 Milliarden Euro sinken. Laut dem ISTAT war der so erreichte starke Impuls für den Immobiliensektor einerseits ein wichtiger Grund für die rapide Erholung des italienischen BIP in den Jahren 2021 und 2022, aber andererseits trieb er auch die Preise in die Höhe – in einem Sektor, der während der Pandemie am Boden lag, nun aber unter Engpässen beim Angebot von Rohmaterialien leidet. Dieses Beispiel ist bemerkenswert, weil es einen Vorgeschmack auf die Art zweischneidiger Entscheidungen gibt, vor denen die europäischen Regierungen auf dem Weg zum grünen Horizont des EU-Wiederaufbauinstruments „Next Generation EU“ stehen.

 

Die große, aber heterogene parlamentarische Mehrheit der „Nationalen Einheit“, von der die italienische Regierung bis zu Präsident Draghis Rücktritt im Juli 2022 unterstützt wurde, hat dazu beigetragen, dass die Fiskalpakete weitgehend reibungslos verabschiedet und umgesetzt werden konnten. Dabei wurden auch die Gewerkschaften und andere soziale Organisationen beteiligt und konsultiert. So konnte eine weitgehende Einigung über die bevorzugten Mittel und Wege erzielt werden (wenn auch nicht über die entsprechenden Zahlen und Zeiträume).

 

Insgesamt wirken diese Fiskalpakete gleich auf doppelte Weise stagflationsmindernd: Sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite senken sie den Preisindex und schützen gleichzeitig die wirtschaftlichen Aktivitäten und Beschäftigten. Laut der italienischen Zentralbank könnte die Inflationsrate durch diese Maßnahmen im zweiten und dritten Quartal 2022 um etwa 2 Prozentpunkte gesenkt worden sein, was für das Gesamtjahr 2022 einem Rückgang von 1,5 Prozentpunkten entspricht. Wie effektiv die Erleichterungen für das unterste Ende der Einkommensverteilung sind, ist allerdings umstritten.

 

Aus der Tatsache, dass Italien diese relativ neue Art anti-stagflationärer Fiskalpolitik ohne zusätzliche Defizite betreiben und trotzdem (nach 2021) auch in diesem Jahr den Prognosen zufolge wieder die Schuldenquote (die Schulden im Verhältnis zum BIP) senken kann, können alle eine Lehre ziehen. Neben der programmatischen Ausrichtung auf die Nachhaltigkeit der Staatsverschuldung durch das Draghi-Kabinett und einige (nicht alle) Parteien seiner Mehrheit der „Nationalen Einheit“ sollten weitere hilfreiche Rahmenbedingungen hier aber auch betont werden. Bekanntlich trägt eine (mäßige) Inflation trotz all ihrer Nachteile auch zur Haushaltskonsolidierung bei. Und noch wichtiger ist, dass wir uns auch das veränderte institutionelle Umfeld der Europäischen Währungsunion anschauen: Erstens wurde das Dogma, die Geldpolitik solle auf jeden Fall über die Fiskalpolitik dominieren, durch eine pragmatischere Phase geldpolitisch-fiskalischer Synergien ersetzt. Diese sind zwar eindeutig in den 2010er Jahren in einer Zeit der Depression und Deflation entstanden, kommen aber auch jetzt beim Kampf gegen die Stagflation zum Tragen – was der EZB ermöglicht, eine straffere Politik zu betreiben, ohne allzu großen politischen Gegenwind oder Schaden für die Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung zu riskieren. Zweitens hat die Einführung und Umsetzung von „Next Generation EU“, wie es von ihren Unterstützer_innen vorhergesagt wurde, das Vertrauen der Bürger_innen in die Union wiederbelebt. So wurde es den nationalen Regierungen erleichtert, ohne großen Druck auf die öffentlichen Finanzen ihre lokalen Bedürfnisse zu erfüllen. Drittens – und als Ergebnis dessen – hat die Aussetzung der EU-Fiskalregeln nirgendwo zu unverantwortlichem fiskalischen Verhalten geführt, was beweist, dass eine bessere Konstruktion des „gemeinsamen Hauses“ ebenso wichtig ist wie die Regeln, denen seine Bewohner_innen unterworfen sind.

 

Zugegebenermaßen sind diese positiven Bedingungen fragil. Regierungen wechseln, und die jüngsten Wahlen in Europa zeigen, dass populistische und nationalistische Kräfte weiterhin stark im Vormarsch sind. Die kurz- und langfristigen Folgen des postpandemischen Erbes, des stagflationären Schocks, der neuen internationalen Stellung Russlands und Chinas sowie des Engagements der EU-Mitgliedstaaten für einen grünen Wandel – all dies führt wahrscheinlich dazu, dass sich die Regierungen mehr Geld leihen müssen. Angesichts dessen, dass die Mitglieder der Eurozone sehr unterschiedliche Verschuldungsquoten aufweisen, wird es entscheidend sein, welchen zinspolitischen Weg die EZB zukünftig einschlägt. Trotz widriger Umstände, die die Stabilität der EU bedrohen, sollten wir hoffentlich in der Lage sein, die Fortschritte, die wir durch die oben erwähnten institutionellen Innovationen erreicht haben, nicht zurückzudrehen, sondern weiter voranzutreiben.

 

Der Autor

Roberto Tamborini, Professor für Volkswirtschaftslehre am Fachbereich für Ökonomie und Management der Universität Trient, Italien.

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