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von Andris Šuvajevs | 30.11.2022
Im Juli 2022 erlebte Lettland – mit 21,5 Prozent – die höchste Inflationsrate seit Anfang der 1990er Jahre. Überall steigen die Preise massiv, aber die baltischen Staaten sind dabei zu unfreiwilligen Spitzenreitern geworden. Die Teuerung übertrifft sogar diejenige kurz vor der globalen Finanzkrise von 2008/2009, als der Wert bei 19,5 Prozent lag. Die Inflation liegt in Lettland doppelt so hoch wie der Durchschnitt der Europäischen Union (9,6 Prozent im Juni 2022), und noch gibt es keine Anzeichen für eine Abschwächung. Die Zuwachsrate wirkt sogar noch eindrucksvoller, wenn man sie auf das Jahr 2015 zurückrechnet: Seitdem sind die Preise für Konsumgüter um 39,1 Prozent und die für Dienstleistungen um 27,3 Prozent gestiegen. Begonnen hat die Inflationsdynamik ebenso wie auch an anderen Orten Europas und der Welt nach vielen gemäßigten Jahren im Sommer 2021, als die Preise langsam begannen anzuziehen. Tendenziell lag die Inflation in Lettland immer schon etwas höher als im Rest der Eurozone – bei 2 bis 3 Prozent, während der Rest der Währungsunion kaum über 1 Prozent kam. Dies ist wahrscheinlich bedingt durch das allgemeine Wohlstandsniveau des Landes – und dadurch, dass viele Menschen den größten Teil ihrer Einkommen für Wohnen und Ernährung ausgeben.
Ende 2021 lag die Inflation bereits bei fast 8 Prozent, aber seit Russlands Angriff auf die Ukraine stieg sie gnadenlos weiter. Im März 2022 waren es bereits 11,5 Prozent, und danach erhöhte sie sich jeden Monat um weitere 2 bis 4 Prozentpunkte.
Wie auch anderswo werden diese Rekordwerte von der Preisentwicklung bestimmter Waren und Dienstleistungen angetrieben. Die Inflation geht insgesamt in erster Linie auf die Kosten für Wohnen, Lebensmittel und Transport zurück, und daraus kann man mit ziemlicher Sicherheit schließen, dass sich die Inflation (noch) nicht gleichmäßig über die gesamte Volkswirtschaft erstreckt. Beispielsweise sind Wohnen und die damit verbundenen Versorgungsleistungen (Strom, Wärme, Gas etc.) seit Juli 2021 um 83,8 Prozent teurer geworden, was über 8 Prozentpunkte der gesamten Preissteigerungen ausmacht. Gleich danach kommen die Lebensmittel: Seit Juli 2021 sind ihre Preise um 24,3 Prozent gestiegen, was für mehr als 6 Prozentpunkte der gesamten Inflation verantwortlich ist. Und an dritter Stelle – mit weiteren 4 Prozentpunkte der gesamten Preissteigerungen – folgen die Transportkosten, zu denen auch der Ölpreis gehört. Erwähnenswert ist auch, dass Gas seit Juli 2021 um 151 Prozent teurer geworden ist. Und auch die Preise für Feuerholz und Pellets (die von vielen Haushalten verwendet werden) sind um 99,8 Prozent gestiegen.
Da die Kosten für Gas und Strom im Herbst und Winter sozial stärker ins Gewicht fallen, erleben die Menschen die Inflation bisher vor allem im Supermarkt. Am stärksten hat sich der Warenkorb für Milchprodukte verteuert: Käse, Milch, Joghurt, Quark und ähnliche Waren kosten 30 bis 40 Prozent mehr. Auch die Preise für Mehl und Getreideprodukte sind in einem Jahr um 56,8 Prozent gestiegen, die für Brot halb so stark (28,3 Prozent). Auch Fleisch, das den meisten Haushalten als größte Proteinquelle dient, ist teurer geworden – Rindfleisch um ein Drittel (32,7 Prozent), Geflügel um ein Viertel (24,8 Prozent) und Schweinefleisch um vergleichsweise geringe 10,8 Prozent.
Wie die oben genannten Zahlen nahelegen, sind die Gründe für die Inflation nicht auf der Nachfrageseite der Volkswirtschaft zu finden, wie es früher meist der Fall war. Wäre eine übermäßige Nachfrage schuld, die sich nicht nur im allgemeinen Preisniveau ausdrückt, sondern auch durch Lohnerhöhungen, hätte die Inflation eine breite Basis und würde jeden Sektor der Wirtschaft gleichermaßen betreffen. Aber dies ist eindeutig nicht der Fall. Die Ursachen liegen hauptsächlich auf der Angebotsseite der Volkswirtschaft und können in die folgenden Hauptkategorien aufgeteilt werden.
Bereits vor dem Einmarsch in die Ukraine hatte Russland begonnen, an der Gasversorgung herumzuspielen und auf den Gasmärkten Unsicherheit zu schüren. Dies führte in Lettland zu steigenden Strom- und Heizkosten, die erheblich genug waren, um einige (weiter unten beschriebene) Regierungsmaßnahmen zur Stützung der Wirtschaft zu rechtfertigen. Der Krieg ist immer noch der Haupttreiber der Inflation, da Russland seine Lieferungen nach Europa noch mehr eingeschränkt hat und zu Beginn der Heizsaison wahrscheinlich völlig stoppen wird. Allerdings hatte sich die lettische Regierung bereits im Frühling 2022 dafür entschieden, den Import russischen Gases zu verbieten, um nicht dazu beizutragen, den Krieg zu finanzieren. Obwohl sie noch nicht illegal sind, ernten alle russische Importe, die ins Land kommen, sofortigen Gegenwind. Aber so lange Gas teuer ist, wird auch die Inflation hoch bleiben, da die lettische Energieversorgung vom Gas abhängt.
Ein entscheidender Auslöser der hohen Inflation war Lettlands Abhängigkeit von fossilen Energien aus Russland. Etwa ein Drittel des lettischen Energiemixes besteht aus Erdgas, von dem bisher etwa 90 Prozent aus Russland importiert wurde. Obwohl der Erdgasanteil langsam zurückgeht, ist er immer noch erheblich und wird zur Raumheizung genutzt. Gleichzeitig ist der Anteil der erneuerbaren Energieträger stetig gestiegen und liegt nun bei über 40 Prozent. Der größte Teil davon ist allerdings Wasserkraft, da Lettland bei der Entwicklung von Solar- und Windparks hinter anderen Ländern zurückbleibt. Ab dem 1. Januar 2023 wird russisches Erdgas vollständig verboten und durch LNG-Lieferungen ersetzt.
Vor dem Krieg in der Ukraine waren die Störungen der Lieferketten wegen Covid-19 der am häufigsten genannte Inflationsgrund. Die Förderung und der Transport von Rohstoffen waren aus dem Takt geraten und die Rückkehr zu Produktionsniveaus von vor der Covid-19-Pandemie dauerte länger als erwartet. So entstand eine gewisse Inflation, weil die Hersteller aufgrund der Unsicherheit mehr Rohmaterialien bestellt und gehortet hatten, als nötig gewesen wäre – oder höhere Prämien für Ausfallversicherungen zahlen mussten. Davon war unweigerlich auch Lettland betroffen, insbesondere der Bausektor des Landes, da Rohmaterialien knapp waren und hinsichtlich zukünftiger Aufträge Unsicherheit herrschte.
Die Lebensmittelpreise waren bereits lange vor dem Krieg gestiegen – und sogar bevor Russland begonnen hatte, die globalen Gasmärkte zu stören. Dies deutet nicht nur darauf hin, dass die Preise in diesem Segment weiter steigen könnten, sondern es ist auch ein Indiz dafür, dass die Ursachen dort wahrscheinlich andere sind. Sicherlich haben die extremen Wetterbedingungen in großen Teilen der Welt die Angebotssysteme gestört und zu spekulativer Unsicherheit hinsichtlich der Nahrungsmittelpreise beigetragen.
Das Ausmaß der Inflation wird zum Teil auch vom allgemeinen Niveau des wirtschaftlichen Wohlstands im Land bestimmt. In ärmeren Gesellschaften ist es üblich, dass der größte Teil der Haushaltseinkommen für Lebensmittel und Wohnen verwendet wird. Dies ist auch in Lettland der Fall: Durchschnittlich geben die privaten Haushalte 23,3 Prozent ihrer Einkünfte für Lebensmittel, 14,6 Prozent für Wohnen und weitere 14,6 Prozent für Transportkosten aus. Diese Anteile unterscheiden sich je nach Einkommensquintil: Die untersten 20 Prozent geben ein Drittel ihrer Einkommen (31,5 Prozent) für Lebensmittel und 18,1 Prozent für Wohnen aus. Also müssen sie die Hälfte ihrer Einkünfte zur Deckung des Grundbedarfs einsetzen. Im zweiten Quintil sind die Zahlen ähnlich: Dort machen Lebensmittel 28,4 und Wohnen 16,9 Prozent der monatlichen Kosten aus. Diese Zahlen legen nahe, dass die geringer verdienenden Haushalte von der Inflation überproportional stark betroffen sind.
Oft hieß es, die fiskalischen Stimuli während der Covid-19-Pandemie hätten die Ersparnisse der privaten Haushalte erhöht. Diese würden momentan wieder ausgegeben und damit inflationssteigernd wirken. Obwohl es Daten gibt, die die erhöhte Sparquote bestätigen, ist es aber immer noch so, dass etwa 20 Prozent der Haushalte über keinerlei Ersparnisse verfügen. Außerdem verdient die Hälfte aller Haushalte zu wenig, um unerwartete finanzielle Schwierigkeiten überwinden zu können. Also ist es unwahrscheinlich, dass es in Lettland einen Nachfragestau gab, dessen Abbau die Inflation antreibt.
Der Einfluss der Inflation auf den allgemeinen Zustand der Volkswirtschaft war sehr ungleichmäßig: Im ersten Quartal 2022 gab es ein starkes Wirtschaftswachstum in Höhe von 6,7 Prozent, das im zweiten Quartal allerdings auf 2,6 Prozent sank. Die in der zweiten Jahreshälfte 2022 erwartete globale Rezession wird sicherlich auch Lettland erreichen und die Wachstumsrate im Land weiter schwächen.
Aufgrund von Wachstum und Inflation konnten die öffentlichen Einnahmen erheblich gesteigert werden, was der Regierung einen gewissen Spielraum für Hilfsmaßnahmen im Herbst und Winter verschafft. Seit dem vergangenen Jahr sind die Einnahmen um über 770 Millionen Euro gestiegen. Insgesamt besteht immer noch ein gewisses Defizit, aber die staatliche Finanzlage ist stabil.
Dem Produktionssektor ging es in den ersten sechs Monaten des Jahres 2022 – mit einem Wachstum von 3,8 Prozent – gut, aber die Zukunftsaussichten erscheinen weniger positiv: Die Nachfrage auf den Exportmärkten könnte geringer werden, und in Estland und Litauen hat sich die Produktion bereits verlangsamt. Ähnlich ist die Lage im Einzelhandel: Er ist um 7,1 Prozent gewachsen, aber da die privaten Haushalte einen größeren Teil ihres Einkommens für Heizkosten ausgeben, wird das Wachstum nun wohl stagnieren. Der Privatverbrauch ist in Lettland traditionell eine der wirtschaftlichen Triebkräfte, und daher wird im Zuge einer Rezession das gesamtwirtschaftliche Wachstum leiden.
Lettland ist Mitglied der Eurozone, also wird die Geldpolitik des Landes von der Europäischen Zentralbank (EZB) bestimmt. Im Juli 2022 hat die EZB ihre Leitzinsen um einen halben Prozentpunkt erhöht – erstmals seit elf Jahren. Als die Inflation im vergangenen Jahr zu steigen begann, hatte die EZB zunächst gezögert, die Zinsen zu erhöhen – aus Angst, damit die Wachstumsaussichten nach der Pandemie zu gefährden. Aber die US-amerikanische Zentralbank (Federal Reserve) war nicht so zögerlich, also geriet der Euro durch zunehmende Kapitalabflüsse unter Druck und fiel auf die Parität zum US-Dollar. Durch die höheren Zinsen wird die Zahlungskraft der privaten Haushalte weiter abnehmen, was problematisch sein könnte, da in den ersten fünf Monaten dieses Jahres die Anzahl der neuen Verbraucherkredite – gegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum – um über 60 Prozent gestiegen ist. So wird in einer Zeit, in der die Haushalte bereits unter höheren Heizkosten leiden, auch die Bedienung von Hypotheken und Studienkrediten teurer. Wahrscheinlich wird die Arbeitslosigkeit steigen, was der orthodoxen Lehre zufolge auch die Inflation dämpfen dürfte.
Außerdem hat die EZB ein Anti-Fragmentierungs-Werkzeug eingeführt – hauptsächlich, um die Haushaltslage und Zinsaufschläge Italiens zu entschärfen. So hat die EZB in den vergangenen Monaten deutsche Anleihen mit kurzer Restlaufzeit verkauft und dafür italienische Anleihen erworben, um deren Tragfähigkeit zu stärken und eine Überschuldung Italiens zu verhindern. In Lettland gab es keine Veränderungen der Schuldenstruktur, aber sollten sich die fiskalischen Aussichten des Landes verschlechtern, wird die EZB eingreifen.
Im zurückliegenden Winter hat die lettische Regierung einige Maßnahmen getroffen, um Verbraucher_innen und Unternehmen von den steigenden Energiekosten zu entlasten. Obwohl bereits im September 2021 vor einer schwierigen Lage gewarnt wurde, wurde das Maßnahmenpaket nur sehr zögerlich ausgearbeitet und umgesetzt. Zunächst gab es etwas mehr Geld für Senior_innen (aber nur wenn sie geimpft waren, was zusätzliche Anreize zur Impfung schaffen sollte). Als jedoch die Heizkostenrechnungen eintrafen, wurde das Maßnahmenpaket ausgeweitet und umfasste nun einen reduzierten Verteilungstarif, mehr finanzielle Unterstützung für geschützte Haushalte und erhöhte Wohnzuschüsse. In einigen Kommunen übernahm die Regierung alle Heizkosten oberhalb einer Grenze von 68 Euro pro MWh. Die Gesamtkosten dieser Maßnahmen beliefen sich auf 450 Millionen Euro, und manche kritisierten sie aufgrund ihres universellen Charakters, denn viele Menschen, die finanzielle Unterstützung bekamen, waren gar nicht wirklich darauf angewiesen.
Anfang des Sommers 2022 begann die Regierung, einige weitere Unterstützungsmaßnahmen für den bevorstehenden Herbst und Winter vorzubereiten. Damit sollten die Zuwendungen gezielt genug gewährt werden, um zu verhindern, dass die Zahlungen wie im vergangenen Winter zu allgemein und überstürzt erfolgen. So werden nun einige soziale Gruppen zusätzliche Unterstützung erhalten (z. B. Senior_innen, Menschen mit Behinderung, usw.). Allerdings wird der größte Teil der gezielten Zahlungen in Form von Wohnzuschüssen gewährt, die die privaten Haushalte bei ihrer Verwaltung beantragen müssen. Die Kommunen haben betont, dass es für sie eine große Herausforderung ist, den damit verbundenen administrativen Mehraufwand zu leisten. Zu den neuen Maßnahmen gehört auch eine teilweise Heizkostenobergrenze, die nicht nur für Gas gilt, sondern auch für Biomasse.
Seit dem Krieg in der Ukraine wird aufgrund der wachsenden Angebotsprobleme über neue LNG-Terminals diskutiert. Allerdings ist nur sehr wenig darüber öffentlich bekannt, auf welchem Stand diese Diskussionen sind und welche Garantien der Staat gewährt, um diese Terminals bauen zu lassen.
Nur sehr wenig wurde auch über die Preis-Lohn- und die Preis-Gewinn-Spirale debattiert: Vor der Preis-Lohn-Spirale haben Ökonom_innen zwar gewarnt, aber es gibt keine strukturellen Anzeichen dafür. Der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer_innen ist (mit etwa 10 Prozent) extrem klein, und die Gewerkschaften sind insgesamt sehr schwach. Obwohl die Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist, sind die Beschäftigten zu stark auf sich allein gestellt, um Lohnerhöhungen durchsetzen zu können, und damit musste der größte Teil der Bevölkerung sinkende Realeinkommen hinnehmen. Über eine Preis-Gewinn-Spirale oder die mögliche Besteuerung von Übergewinnen wurde gar nicht diskutiert. Der große Staatskonzern Latvenergo, der Strom und Wärme erzeugt, zahlt sowieso den größten Teil seiner Gewinne an den öffentlichen Haushalt zurück. Der größte Gasanbieter, Latvijas gāze, hat allerdings bereits 2021 einen Gewinn von 3,1 Millionen Euro ausgewiesen. Und in diesem Jahr wird diese Zahl sogar noch sehr viel höher sein, weshalb hier eine Übergewinnsteuer ins Gespräch gebracht werden sollte.
Wahrscheinlich gehen diese Maßnahmen nicht weit genug, um die privaten Haushalte sinnvoll unterstützen zu können. Die aktuelle Preisobergrenze für Heizwärme liegt bei 68 Euro pro MWh. Oberhalb dieser Grenze wird jeder zusätzliche Euro vom Staat zu 50 Prozent subventioniert. Im September wurde diese Maßnahme dergestalt ausgeweitet, dass Preisanteile über 150 Euro pro MWh sogar zu 90 Prozent subventioniert werden. Liegt der Heizkostenpreis eines Haushalts also bei 100 Euro pro MWh, gibt es einen staatlichen Zuschuss von 16 Euro. Das heißt, der betroffene Haushalt muss immer noch 84 Euro pro MWh zahlen. Liegt der Preis sogar bei 340 Euro pro MWh, müssen dementsprechend 128 Euro pro MWh selbst übernommen werden. Dies ist immer noch zwei- oder dreimal so viel wie in den vorherigen Wintern. Für viele Haushalte ist diese Mehrbelastung nicht finanzierbar, und der Druck auf die kommunalen Sozialeinrichtungen und Sozialsysteme, diese Kosten zu übernehmen, wird immens sein. Eine angemessene sozialdemokratische Antwort wäre, einen festen Preisdeckel von beispielsweise 90 Euro pro MWh einzuführen. Zwar müssen Anreize für Einsparungen durch Preissignale gegeben werden, aber dies wird bereits durch die hohen Preise gewährleistet. Leider weiß der Staat überhaupt nichts über die möglichen Auswirkungen dieser Maßnahmen auf die Haushaltsbudgets sowie hinsichtlich des Risikos einer höheren Verschuldung. Momentan wartet die Regierung auf die ersten Heizkostenrechnungen, um die sozialen Folgen abwägen und dann entsprechend reagieren zu können.
Bemerkenswert ist, dass durch die ursprünglichen Maßnahmen der Stromverbrauch nur dann unterstützt wurde, wenn Strom zum Heizen verwendet wurde. Im September einigte sich die Regierung darauf, dass die ersten 100 KWh mit 160 Euro pro MWh bepreist werden sollen und alles darüber zum Marktpreis. Dies soll (und wird wohl auch) Anreize zum Sparen geben, aber der Strom wird insgesamt immer noch viel teurer sein als in vorherigen Wintern. Wie auch bei der Heizwärme gibt es keine Modelle dazu, wie sich die aktuellen Preise und Maßnahmen auf die verschiedenen Haushalte auswirken. Allerdings ist zu erwarten, dass gering verdienende Haushalte am stärksten betroffen sind, während jene im zweiten Einkommensquintil all ihre Ersparnisse aufbrauchen werden, weil sie kaum kommunale Unterstützung erhalten. Lobenswert ist hingegen, dass die Preisgrenzen bei den Rechnungen der Verbraucher_innen automatisch berücksichtigt werden.
Eine ähnliche Maßnahme bezieht sich auf die Stromkosten der Unternehmen: Oberhalb einer Grenze von 160 Euro pro MWh übernimmt der Staat 50 Prozent der Kosten. Für besonders energieintensive Firmen wird es ein spezielles Programm geben, über das sie einen Zuschuss von bis zu 30 Prozent der Energiekosten erhalten können – allerdings nur maximal 2 Millionen Euro pro Firma. Wie auch bei den privaten Haushalten gibt es keine Einschätzungen, wie sich die Maßnahmen auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen auswirken, aber immerhin wurde das Unterstützungsprogramm von den Arbeitgeberorganisationen gelobt.
Finanzieren will die Regierung diese Maßnahmen über höhere Steuereinnahmen und, falls nötig, neue Schulden. Wegen der Inflation und des besser als erwarteten Wachstums waren die Steuereinnahmen viel höher als in den Vorjahren (fast 1 Milliarde Euro mehr als prognostiziert), obwohl der Gesamthaushalt immer noch defizitär ist. Ende Oktober hat die Regierung einen Teil ihrer Schulden (850 Millionen Euro) refinanziert, jedoch zu höheren Zinssätzen (beinahe 4,2 Prozent).
Leider ist die Nutzung der finanziellen Ressourcen aus der EU Aufbau- und Resilienzfazilität, die zur Verbesserung der Energieeffizienz gedacht waren, ins Stocken geraten. Die Effizienz der Gebäude im Land ist sehr schlecht, und es wurde nicht genug getan, um mehr Energie einzusparen. Gleichzeitig gab es einen Boom beim Einbau von Solarmodulen, und die beiden größten staatlichen Unternehmen haben gemeinsame Investitionen in Windparks angekündigt, wodurch der Anteil der Windenergie erheblich steigen wird.
Die Notwendigkeit eines neuen LNG-Terminals wird hingegen bezweifelt. Da es in Litauen bereits ein solches Terminal gibt und Estland eins auch bald anschaffen wird, könnte die Investition in ein weiteres Terminal überflüssig sein und sogar dem Ziel der grünen Energiewende entgegenstehen. Die öffentliche Förderung eines solchen Projekts hätte viele unvorhersehbare Haushaltsrisiken zur Folge und würde – über das notwendige Maß hinaus – ein weiteres Bekenntnis zum Erdgas darstellen. Stattdessen sollte sich der Staat stärker darauf konzentrieren, die Energieversorgung in enger Zusammenarbeit mit Litauen und Estland auf baltischer Ebene zu sichern. Dazu könnte Lettland seine Gasspeicherkapazitäten in Inčukalns einbringen und als Einflussfaktor nutzen.
Andris Šuvajevs ist Forscher und Analyst für politische Ökonomie.