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von José Moisés Martín Carretero | 30.11.2022
Als im Februar 2022 der Krieg in der Ukraine ausbrach, war Spanien das EU-Land mit der schwächsten wirtschaftlichen Erholung seit der Coronakrise. Dennoch hat das südeuropäische Land immer noch hohe Wachstumsaussichten und einen gut funktionierenden Arbeitsmarkt. Außerdem ist es strategisch nicht besonders stark auf Russland ausgerichtet, da nur 9 Prozent des in Spanien verbrauchten Erdgases von dort kommen. In diesem Jahr wird der Energiemix für die Stromerzeugung von erneuerbaren Energien dominiert, die einen Gesamtanteil von 43,9 Prozent haben, während Gas – einschließlich Kraft-Wärme-Kopplung sowie Kombikraftwerke – nur 28,5 Prozent ausmacht. Der Rest der Stromerzeugung beruht auf Kernenergie (20,4 Prozent) und anderen, weniger bedeutsamen Technologien.
Die meisten der spanischen Gasimporte erfolgen über LNG-Tankschiffe aus den USA (16 Prozent) und Lieferungen aus Algerien (30 Prozent). Veränderungen in den Beziehungen zu dem nordafrikanischen Land haben im Laufe des Jahres 2022 zu weniger algerischen Gasimporten und zu einem Mehrverbrauch von LNG geführt. Spanien verfügt über 25 Prozent der gesamten europäischen LNG-Bewirtschaftungskapazität, ist aber nur schwach mit der Gasinfrastruktur des restlichen Kontinents verbunden. Deshalb wird das Land – gemeinsam mit Portugal – innerhalb der EU als „Energieinsel“ betrachtet.
Allerdings war die Inflation in Spanien bisher bemerkenswert hoch. Aufgrund schlecht funktionierender Märkte lag sie über dem Durchschnitt der Eurozone und der EU. Die Regierung wollte mit ihrer Wirtschaftspolitik sowohl die sozialen als auch die unternehmerischen Effekte der Preiskrise lindern. Gleichzeitig hat sie sich darauf konzentriert, einige der Ineffizienzen auf den Stromerzeugungsmärkten zu korrigieren.
Nachdem die Inflation lange durch geringes Wirtschaftswachstum und wiederholt auftretende Wirtschaftskrisen gebremst worden war, deuten die jüngsten spanischen Inflationstrends nun auf eine erhebliche Beschleunigung in den vergangenen zwölf Monaten hin. Im Sommer 2021 begannen die Preise zu steigen, was bis August 2022 zu einer Jahresinflationsrate von 10,5 Prozent geführt hat – dem höchsten Wert in Spanien seit drei Jahrzehnten. Dieses jüngste Preiswachstum liegt größtenteils an der Verteuerung der Energieträger: Die Preise für Energie sind – nach einem Höhepunkt im März 2022 von 35 Prozent – im Vergleich zum Vorjahr um fast 20 Prozent gestiegen. Im Laufe des Jahres wurden diese Preissteigerungen an andere Sektoren wie den Nahrungsmittelsektor, aber auch an andere Waren sowie Dienstleistungen weitergegeben. Infolge dieses Prozesses ist die Kerninflation, in der die Preise für Lebensmittel und Energie nicht einbezogen sind, im August 2022 merklich auf ein Zehnjahreshoch von 6,4 Prozent gestiegen.
Für dieses Inflationswachstum gibt es zwei Gründe: Erstens sind nach der bereits in 2021 zu beobachtenden zunehmenden Verteuerung von Gas und Öl auch die Preise für Endenergie zwischen 2021 und 2022 erheblich gestiegen. So gingen die Strompreise zwischen Februar 2021 und März 2022 im Durchschnitt um 600 Prozent in die Höhe. Die stärksten Steigerungen fanden 2022 statt – bevor die spanische Regierung die notwendigen Maßnahmen zur Inflationsbegrenzung ergriffen hat.
Produktbezogen und unter Berücksichtigung der jüngsten Daten ist der Energiesektor tatsächlich derjenige Wirtschaftsbereich mit dem höchsten Preiswachstum, während andere Waren und Dienstleistungen nicht so stark betroffen sind – obwohl auch im Transport-, Nahrungsmittel-, Hotel- und Gastronomiegewerbe die Preise deutlich gestiegen sind.
Spanien erlebt gerade also die höchste Inflation seit 40 Jahren. Gleichzeitig ist es eines der europäischen Länder, die 2020 am schwersten von der Covid-19-Krise betroffen waren: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat noch nicht wieder das Niveau von 2019 erreicht, die Staatsschulden sind zwischen 2019 und 2021 um 20 Prozentpunkte von 97 auf 117 Prozent des BIP gestiegen, und das öffentliche Defizit soll Ende 2022 etwa 5,4 Prozent des BIP betragen. Andererseits wird für 2022 und 2023 ein starkes Wachstum erwartet, und die Beschäftigung hat mit 20 Millionen Arbeitnehmer_innen ein 15-Jahres-Hoch erreicht – obwohl es Ende des Sommers 2022 deutliche Signale einer Verlangsamung gab.
Die Preissteigerungen, insbesondere jene für Strom, Gas und Öl, haben sich hauptsächlich auf die Wirtschaftssektoren ausgewirkt, die von diesen Energiemärkten besonders abhängig sind – wie z. B. auf stromintensive Industrien, die Landwirtschaft und den Transportsektor. Während die Energiepreise insgesamt etwa 9,39 Prozent der Produktionskosten ausmachen (abgesehen von den Löhnen), liegt dieser Anteil in einigen Sektoren bei 18 bis 20 Prozent.
In wirtschaftlicher Hinsicht haben sich aufgrund der steigenden Preise die Gewinnaussichten in einigen Sektoren erheblich eingetrübt. Innerhalb dieser am stärksten betroffenen Sektoren arbeiten die meisten Arbeitnehmer_innen im Hotel- und Gaststättengewerbe, im Bau, in der Landwirtschaft und im Transportwesen. Über 20 Prozent der gesamten Beschäftigten sind dort angestellt.
Der Preisschock hat diese Sektoren direkt und ohne jede Vorwarnzeit getroffen. Dort ist die Energienachfrage sehr unelastisch, und der Energiepreisschock konnte zunächst kaum an die Endverbraucher_innen von Waren und Dienstleistungen weitergegeben werden. Also sind deren Gewinnspannen erheblich gesunken. Zu den mit am stärksten betroffenen Sektoren gehören das Transportwesen, das verarbeitende Gewerbe und die Landwirtschaft.
Einige Bereiche leiden nicht nur unter gestiegenen Energiepreisen, sondern aufgrund der gestörten internationalen Lieferketten auch unter Angebotsschwierigkeiten. Dies gilt insbesondere für die Automobilindustrie, die eine der größten Exportbranchen Spaniens ist. Manche Fahrzeughersteller litten bereits 2021 unter Engpässen in der Chipindustrie. Und 2022 spürten andere Branchen wie die Keramikhersteller die Verknappung von Rohmaterialien aus der Ukraine.
In sozialer Hinsicht waren die Folgen nicht nur deutlich spürbar, sondern auch ungleich verteilt. Während der Anpassungsjahre zwischen 2010 und 2014 haben die Löhne in Spanien 8 Prozentpunkte an Kaufkraft verloren, wobei es in den vergangenen Jahren teilweise eine gewisse Erholung gab. 2022 hat sich – wenn man für dieses Jahr die durchschnittlichen Inflationsvorhersagen mit den bei den Tarifverhandlungen ausgehandelten Lohnerhöhungen vergleicht – das Preis-Lohn-Gefälle jedoch wieder vergrößert. Daraus folgt, dass die Löhne heute erneut erheblich an Kaufkraft verlieren, was wiederum den Konsum und das Wohlergehen der privaten Haushalte beeinträchtigt. Es wird erwartet, dass die Löhne im Dezember 2022 seit 2009 über 10 Prozent ihrer Kaufkraft verloren haben. Obwohl viele Arbeitsplätze geschaffen wurden, leiden die Löhne momentan stärker als während und nach der großen Rezession der Jahre 2008/2009.
Dies trifft insbesondere auf den Niedriglohnsektor zu: Zwischen 2009 und 2017 wurde der spanische Mindestlohn eingefroren. 2018 versprach die neue progressive Regierung, den Mindestlohn im Einklang mit der Europäischen Sozialcharta auf 60 Prozent des Medianlohns zu erhöhen. Trotzdem wird sich die Kaufkraft im Niedriglohnbereich wegen der Inflation stark verringern.
Auch der Einfluss der Preissteigerungen auf die Ungleichheit ist bemerkenswert: Laut Oxfam mussten Geringverdienende 30 Prozent mehr Kaufkraftverlust hinnehmen als Höherverdienende, weil sie einen größeren Anteil ihres Einkommens für Waren ausgeben, die von Preissteigerungen betroffen sind.
So haben die Folgen der Preiskrise die Ungleichheit verschärft und hauptsächlich Menschen mit niedrigem Einkommen beeinträchtigt, die ihre Kaufkraft seit der Krise von 2008 nicht wieder erreichen konnten. Also sind wir momentan in einer Lage, die den sozialen Zusammenhalt schwächt und in vielen Branchen einen negativen Einfluss auf die Produktionsbedingungen hat.
Spanien ist Teil der Eurozone und damit der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) unterworfen. Die diesjährigen Versuche der EZB, die Effekte der Inflation abzumildern, waren durch folgende Maßnahmen bestimmt:
Spanien ist eines der Länder, die von der jüngsten Geldpolitik der EZB am meisten profitiert haben und wird daher wohl von der geldpolitischen Straffung mit am stärksten betroffen sein. Allerdings ist das neue TPI-Programm eine wichtige Garantie dafür, negative Folgen für die Entwicklung der Kosten der spanischen Staatsschulden zu verhindern, die 2022 bei 117 Prozent des BIP liegen. Trotz dieses hohen Verschuldungsniveaus bleiben die Risikoaufschläge stabil bei unter 120 Basispunkten.
Die spanische Regierung hat dem ersten Maßnahmenpaket, mit dem die energiekrisenbedingten wirtschaftlichen und sozialen Belastungen abgefedert werden sollen, im März und Juni 2022 zugestimmt. Weitere Maßnahmen wurden im Juli 2022 angekündigt. Diese Pakete setzen sich aus drei Teilen zusammen:
Zu den wichtigsten Maßnahmen für private Haushalte und Verbraucher_innen gehören:
Hinsichtlich der Maßnahmen, die auf bestimmte wirtschaftliche Sektoren abzielen, sollten hier folgende erwähnt werden:
Zu den erwähnenswertesten energiepolitischen Maßnahmen gehören:
Insgesamt investiert Spanien etwa 5 Milliarden Euro in die direkte Unterstützung von Unternehmen und Familien sowie 3,5 Milliarden Euro in die Senkung öffentlicher Preise und Abgaben. Dies entspricht einem Gesamtbetrag von 8,5 Milliarden Euro zum Ausgleich der Preiskrise – etwa 0,6 Prozent des BIP. Um diese Ausgaben zu kompensieren, hat das Land eine vorübergehende Steuer auf Übergewinne von Energiekonzernen und Banken eingeführt. Außerdem hat die Regierung im September 2022 eine neue Reichensteuer angekündigt, die 2023 eingeführt werden soll.
Alles in allem besteht das Hauptproblem für die Bevölkerung im Gefälle zwischen den Preisen und den Löhnen, was, wie wir gezeigt haben, mittelfristig eine große Herausforderung darstellt. Die Regierung ist sich dieser Lage bewusst und hat Interesse an einer Vereinbarung zwischen Arbeitgeber_innen und Beschäftigten gezeigt, mit der ein Weg zur Wiederherstellung der Kaufkraft gefunden werden soll, der die Inflation in nächster Zeit nicht verstärkt. Bislang konnten die Sozialpartner für die Entwicklung eines solchen Einkommenspakts allerdings noch nicht den richtigen Rahmen finden, was für die kommenden Monate die Gefahr sozialer Konflikte erheblich verschärft.
Dabei müssen insbesondere die Renten erwähnt werden: Um eine Verringerung der Kaufkraft zu vermeiden, sollen diese Ende 2022 erhöht werden. Dies entspricht einer nominalen Steigerung des öffentlichen Rentenhaushalts um 8,9 Prozent. Bereits seit Jahren äußert die Europäische Kommission ihre Besorgnis über die Nachhaltigkeit des spanischen Rentensystems, und Berechnungen zufolge könnte die Zukunft des Systems durch diese Erhöhung negativ beeinflusst werden. Arbeitgeber_innen und Gewerkschaften konnten sich auf diese Rentenerhöhung nicht einigen.
Während die Verhandlungen im privaten Sektor stagnieren, kam es im öffentlichen Sektor kürzlich zu Entwicklungen: Die Regierung hat eine Lohnerhöhung für öffentliche Angestellte um 3,5 Prozent angeboten. Entsprechende Gespräche haben bereits begonnen.
In einem Umfeld steigender Preise stellen die Maßnahmen der spanischen Regierung ein ehrgeiziges Programm dar, mit dem die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Krise abgemildert werden sollen. Allerdings muss angemerkt werden, dass diese staatlichen Maßnahmen zeitlich begrenzt sind. Nachdem sie ursprünglich für nur drei Monate beschlossen worden waren, wurden sie bis Ende 2022 verlängert. Dies wird, wenn die Preiskrise nicht schnell abflaut, in diesem und im nächsten Jahr die öffentlichen Finanzen unter Druck setzen. Obwohl sich die öffentlichen Einnahmen aufgrund der Inflation um 10 Prozent erhöht haben, werden die Maßnahmen gegen die Krise, die ergriffen werden müssen, wenn diese Krise chronisch wird, zu erhöhten Fiskalkosten führen. Dies trifft insbesondere auf das Rentensystem zu, das einen Umfang von 10,3 Prozent des BIP hat. Sollen die Rentner_innen ihre Kaufkraft beibehalten, könnte dies 2022 Mehrzahlungen in Höhe von 1 Prozent des BIP verursachen und die zukünftige Entwicklung der Rentenausgaben negativ beeinflussen. Da Spanien weiterhin ein hohes öffentliches Defizit haben wird, ist dies tatsächlich der Hauptpunkt in der Diskussion über die mittelfristige Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen.
Hinzu kommt, dass die Regionalregierungen, die im Jahr 2023 neu gewählt werden, einen Abwärtswettbewerb um die niedrigsten Einkommensteuern begonnen haben. Diese Politik, die von den internationalen Wirtschaftsinstitutionen nicht empfohlen wird, gefährdet die Fähigkeit der Regionalregierungen, für die nächsten Jahre genug politischen Spielraum zu schaffen.
Mit einem großen Teil der öffentlichen Maßnahmen sollen die vulnerabelsten Haushalte unterstützt werden – womit versucht wird, den sozialen Zusammenhalt zu sichern. Andere Maßnahmen wie Kraftstoffsubventionen sind hingegen ihrer Natur nach regressiv, passen die Nachfrage nicht angemessen an die neuen Angebotsbedingungen an und widersprechen den Klimazielen. Dies könnte auch auf manche Maßnahmen zur Unterstützung von produzierenden Sektoren zutreffen, die keine Energiespar- und Effizienzziele enthalten. Laut vorläufiger Schätzungen der Forschungsabteilung der CaixaBank ist der Kraftstoffverbrauch wohlhabender Familien seit 2019 um 20 Prozent gestiegen, während arme Haushalte im selben Zeitraum 10 Prozent weniger verbraucht haben.
Auch die Mittelklasse ist von der sinkenden Kaufkraft der Löhne ziemlich betroffen, da sie in den meisten politischen Maßnahmen nicht mitberücksichtigt wird. Laut Schätzungen von Oxfam hat sie jegliche Sparkapazitäten verloren. Davon sind vor allem die jungen Menschen aus dieser Bevölkerungsschicht betroffen, die in 15 Jahren drei Krisen erleiden mussten. Das ist momentan ein sehr relevantes sozioökonomisches Thema. Ohne einen institutionellen Rahmen für einen Einkommenspakt wird es für die Mittelklasse schwierig, angesichts steigender Preise ihre Lage zu verbessern. Die Regierung bereitet gerade eine Offensive vor, um einen solchen Pakt zu ermöglichen, aber am Ende des Sommers 2022 war die Unsicherheit immer noch groß.
José Moisés Martín Carretero ist ein spanischer Ökonom und Berater. Er ist Dozent an der Universität Camilo José Cela und Mitglied des Ökonomischen Beraterstabs im spanischen Wirtschaftsministerium.