Ungarn wählte seine 21 Europaabgeordneten nach dem Verhältniswahlrecht, wobei nur ein einziger Wahlkreis existierte. Dieses Verfahren erzeugt eine besondere Dynamik, die sich von den Parlamentswahlen unterscheidet. Auf nationaler Ebene ist der politische Wettbewerb durch eine zersplitterte Opposition gekennzeichnet, die mit ihrer Strategie, durch verschiedene Kooperationen möglichst viele Sitze zu gewinnen, keinen großen Erfolg hat. Zur Europawahl haben jedoch einige Parteien in der reinen Verhältniswahl die Chance gesehen, auch alleine und ohne strategische Absprachen innerhalb einer Wahlliste anzutreten. Die Ausnahmen bildeten die weiterhin bestehende rot-grüne Wahlliste “Dialog”, die aus dem Zusammenschluss der ungarischen Grünen und Sozialdemokraten besteht, sowie die langjährige Zusammenarbeit zwischen den Regierungsparteien, Fidesz-KDNP.
Fidesz bestimmt die Debatte
Die Wahlkampfagenda wurde größtenteils, wenn auch nicht ausschließlich, durch Fidesz bestimmt. Anstelle eines vollständigen Wahlprogramms hat sich die regierende Fidesz auf die Themen Zuwanderung und Flüchtlingsquoten konzentriert und eine EU-Führung gefordert, die sich gegen Zuwanderung ausspricht. In ihrer Wahlkampfkommunikation behauptete Fidesz weiterhin, dass Brüssel sich mit liberalen Akteuren wie George Soros verschworen habe, die ein Interesse an einer Einwanderung von Muslimen hätten.
Diese Haltung passt zur Linie des Premierministers Viktor Orban, der Europa und vor allem die Europäische Volksparteien zu ihren christlichen Werten zurückführen will. Die Mitgliedschaft von Fidesz in der Europäischen Volkspartei ist zurzeit ausgesetzt. Viele vermuten, dass Orban eine Kooperation mit rechtsradikalen Gruppierungen sucht. Dazu gehört zum Beispiel eine “Allianz der Euroskeptiker” mit dem italienischen Vize-Premierminister Matteo Salvini, obwohl diese Zusammenarbeit offiziell abgelehnt wurde. In einem weiteren strategischen Sinne könnte dies auch zum Problem der Europäischen Volkspartei werden, wenn die 13 ungarischen Abgeordneten von Fidesz die Fraktion wechseln sollten und dies die Mehrheit der Fraktion schwächt. Orban lehnt zudem den Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei ab.
Gleichzeitig hat es die starke programmatische Fokussierung von Fidesz den anderen Parteien der Opposition ermöglicht, eigene Themen hervorzuheben. Fast alle sind der Meinung, dass mehr EU-Kompetenzen nützlich wären, um intransparentes Management von EU-Geldern durch die ungarische Regierung im Rahmen der ungarischen Mitgliedschaft bei der Europäischen Staatsanwaltschaft zu sanktionieren. Die Themen der Initiative “Wage Union” (Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen West- und Osteuropa), ein europäischer Mindestlohn sowie “europäische Renten” bleiben weiterhin auf der politischen Agenda dieser Parteien, die sich für eine europaweite Umverteilung von Reichtum einsetzen, jedoch jeweils mit unterschiedlicher Intensität. Andere pro-europäische Themen erstrecken sich in einem Spektrum von verstärkten Maßnahmen gegen den Klimawandel bis hin zur Vision der “Vereinigten Staaten von Europa”.
Wandel im linken Lager?
Die Ergebnisse der Europawahl suggerieren, dass sich die Wichtigkeit der Parteien des linken Lagers verändert hat. Überraschenderweise ist die Demokratische Koalition (DK, aus einer Abspaltung der ungarischen Sozialisten 2010-2011 hervorgegangen) die stärkste oppositionelle Partei mit einem Stimmenanteil von 16,19 Prozent geworden, gefolgt von der neuen Partei Momentum mit 9,89 Prozent. Damit haben DK und Momentum, gemessen am Wahlergebnis, zumindest auf der EU-Ebene die Positionen von der Sozialistischen Partei Ungarns (MSZP) und den Grünen (LMP) übernommen. Während DK sich selbst als eine sozialdemokratische Partei identifiziert, lässt sich Momentum am besten als Partei der Mitte bzw. Mitte-Links-Partei bezeichnen. Momentum wird der liberalen ALDE-Fraktion im EU-Parlament beitreten. Die wichtigste Frage bezüglich der bevorstehenden Kommunalwahlen wird sein, ob die zwei Parteien an diese Erfolge anknüpfen können.
Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt des politischen Wettbewerbs ist die Aufspaltung von Jobbik in einen gemäßigten und einen radikalen Flügel. Der radikale Flügel, der aufgrund von Jobbiks Wandel zu einer gemäßigten Partei unter dem Namen “Unser Vaterland” als eigene Partei angetreten ist, nutzt dabei rechtsradikale und fremdenfeindliche Rhetorik. Jobbik hingegen vermeidet radikale Sprache hingegen mittlerweile, setzt aber weiterhin auf eine Mischung aus konservativen und zuwanderungskritischen Positionen, die teilweise auch mit EU-freundlichen Positionen verbunden werden. Dies steht im Zeichen der Strategie zu den Parlamentswahlen 2018, als Jobbik sich als zuverlässiger Partner der Oppositionsparteien präsentierte und Wahlbündnisse gegen Fidesz eingegangen ist. Die Aufspaltung der Partei könnte zu einem Bedeutungsverlust von Jobbik und der Rechten in Ungarn insgesamt geführt haben. Jobbik erreichte nur knapp 6 % und damit einen Sitz bei den Europawahlen, während “Unser Vaterland” mit 3,31 % der Stimmen keinen Sitz gewann.
Alles beim Alten?
Das politische System Ungarns ist jedoch weiterhin durch die ungebrochene Popularität von Fidesz gekennzeichnet. Die Ergebnisse legen den Rückschluss nahe, dass die Strategie der Opposition, die Korruption und Verantwortung von Fidesz auf die Agenda gesetzt zu haben, nicht aufgegangen ist. Fidesz erreichte insgesamt herausragende 51,14 % der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 43,36 %. Obwohl die Wahlbeteiligung damit unter dem EU-Durchschnitt liegt, ist sie dennoch eine enorme Steigerung im Vergleich zu den Europawahlen 2014 (28,92 %) und trägt somit zur Legitimation bei.
Trotz der hohen Wahlbeteiligung wird nun nach der Wahl diskutiert, welche Auswirkungen das Ergebnis für das linke Lager hat. Unter anderem beraten die linken Parteien darüber, ob sie in einigen Regionen gemeinsame Kandidierende aufstellen sollen, um ihre Gewinnchancen zu maximieren. Während wichtige Städte, inklusive Budapest, bereits Erfahrungen mit gemeinsamen Kandidatinnen und Kandidaten von MSZP und LMP gesammelt haben, können DK und Momentum ihr gutes Europawahlergebnis nutzen, um hier mehr Mitspracherecht einzufordern. Momentan unterstützt DK einen unabhängigen Kandidaten. Es ist jedoch hervorzuheben, dass sich die Dynamik bei den Kommunalwahlen deutlich von denen bei der Europawahl unterscheidet, weswegen die Bedeutung von DK und Momentum zurückgehen könnte. Amtsinhaberbonus, Erfahrung und Sichtbarkeit können damit zum Nachteil für die “neu aufkommenden” Parteien werden. In den ländlichen Regionen Ungarns kann Jobbik möglicherweise noch an ihrer Basis festhalten. Das Stadtoberhaupt von Budapest wird in einem speziellen Verfahren mit parteiübergreifenden Vorwahlen gewählt.