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Vergleicht man unser Verhalten von vor Corona mit dem inmitten der Krise - welche Schlüsse für die Zukunft lassen sich ableiten? Eine Reflexion über die eigene Verantwortung und die der anderen.
Bild: von April-Mediengruppe
Bild: von Lennart Lokstein
Früher war alles anders. Es beginnt damit, dass ich früher nicht von „früher“ gesprochen hätte, wenn ich damit einen Zeitraum von vor drei Monaten gemeint hätte. Heute liegen zwischen damals und heute Welten – es war eine andere Zeit. Früher war ich gerne Gastgeber, im Sommer zum Grillen, im Herbst und Winter zum Spieleabend, oft in großen Runden und mindestens ein-, manchmal zweimal die Woche. Wenn ich zurückdenke, kommen mir Szenen aus einem Märchen in den Sinn. Früher, vor hundert Jahren, erfüllte Leben mein Schloss, und Lachen hallte durch seine Gänge. Heute erinnern die kalten Hallen an die Abwesenheit dessen, was war. Einsam schlurft eine Gestalt durch die Korridore und hinterlässt Spuren im Staub vergangener Tage. Es ist das Märchen vom einsamen Gastgeber in einem Land, in dem jedes Fest Dämonen entfesseln kann.
Es ist eine Geschichte des Individuums, das in der Pandemie versucht, für sich und andere solidarisch zu handeln, und damit eine Geschichte unter Millionen in Deutschland: So viele Menschen bringen Opfer, um jene nicht zu gefährden, die zu den Corona-Risikogruppen gehören, verzichten auf soziale Kontakte, auf größere Zusammenkünfte im Freundeskreis, auf die regelmäßigen Abende im Verein ihrer Wahl. Und doch stellt sich mir, wann immer ich in der U-Bahn fahre oder an einem sonnigen Tag die Spree entlanglaufe, die Frage: Wofür? Masken in den Öffentlichen tragen vielleicht noch zwei Drittel der Mitfahrer – Tendenz abnehmend. Neben glitzernden Wassern tummeln sich heitere Scharen junger, unbeschwerter Menschen, nur zufällig alle am selben Ort, doch von der Distanz her sind die Verhältnisse hier den verbotenen Großveranstaltungen so gar nicht unähnlich. Es winkt die Verheißung von unbeschwerter Gesellschaft in größerer Runde – objektiv ein Sakrileg, doch individuell so nachvollziehbar. Es ist ein Januarblick durchs Fenster auf einen warmen Kamin, während man draußen vor Kälte kaum atmen mag. Ich bleibe freiwillig weg vom Herd, aber für viele – insbesondere alte – Menschen ist es alternativlos. Das Ungleichgewicht der Möglichkeiten wirft für das Individuum einen Konflikt auf, an dessen Ende sich, am stärksten betroffen, auf einmal eine Gruppe findet, die bislang aufgrund von politischem Gewicht und fortgeschrittenem Alter wenig von Sorgen um Gegenwart und langfristige Zukunft umgetrieben wurde und die tendenziell auch so wählte – Stichwort Renten, Stichwort Klimawandel. Umgekehrt steht die Jugend erstmals vor der Wahl, sich vermeintlich ohne größere Konsequenzen zwischen dem eigenen Komfort und der Verantwortung für andere entscheiden zu müssen. Manche sehen das Dilemma nicht – sie sitzen wie selbstverständlich am Ufer. Andere hadern, ringen mit sich, schließen Kompromisse. Andere opfern, wobei Teil des Opferns der konstante Zweifel an dessen Sinnhaftigkeit ist. Es ist eine Zeit, sich über den Rest der Gesellschaft zu beklagen. Doch es ist auch eine Möglichkeit, zu lernen, dass die andere Seite nie so anders war. Genau wie sich die Jugend heute selbstverständlich am Ufer tummelt, tummeln sich unsere Eltern und Großeltern selbstverständlich in Autos auf den Straßen, wann immer sie mehr als fünf Minuten Fußweg haben.
Am Ende des Tages sind wir alle nur Menschen – und es bleibt zu hoffen, dass uns die Fehler der anderen rechtzeitig die gleichen Fehler in uns selbst erkennen lassen. Ich opfere meinen Komfort in der Hoffnung, dass irgendwo eine Rentnerin klimafreundlich wählen geht – und wenn nicht, dann kann ich ihr zumindest teilweise nachsehen, wenn es ihr egal ist, dass für die Menschenmengen am Ufer der Meeresspiegel steigt. Das ist aber (hoffentlich) nicht die Erzählung, die sich in unserem kollektiven Gedächtnis festsetzen wird. Für unser nationales Erinnern dieser Zeit, wenn der Impfstoff einmal gefunden und Corona dauerhaft vorüber ist, wünsche ich mir, dass sich auch die Ufergänger daran erinnern und damit brüsten, wie sie sich einschränkten und Opfer brachten. Es ist zumindest naheliegend – das Individuum neigt psychologisch dazu, sich die eigenen Taten selbst positiv zurechtzuerinnern und über Umstände Vergleiche zu relativieren: Man war natürlich schon, ein, zweimal mit mehreren Freunden am Ufer oder grillen, klar, aber das waren ja alle und im Supermarkt hatte man ja eine Maske auf. Die richtig Rücksichtslosen, das waren andere, die jeden Tag Party machten. Das ist natürlich objektiv nicht so ganz die Wahrheit aber nichtsdestotrotz ein nützlicher Selbstbetrug, denn es wäre ein neues Wir, ein kleines, aber inklusives Nationalgefühl, das unsere gespaltete Gesellschaft von heute im Morgen wieder zusammenführen kann. Die Erzählung, wie wir gemeinsam durch Corona kamen, bringt uns – quasi gegenteilig zum Virus – näher zusammen.
Über den Autor:Lennart Lokstein macht sich häufig Gedanken über gesellschaftspolitische Fragen. Er studierte in Tübingen Rhetorik und Philosophie, wurde Deutscher Debattiermeister und ist amtierender Präsident des Verbands der Debattierclubs an Hochschulen e.V.
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