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Die Lage an der griechisch-türkischen Grenze spitzt sich immer weiter zu. Was ist nun zu tun aus griechischer und türkischer Perspektive?
Mittlerweile sind über zehntausend Geflüchtete an der griechisch-türkischen Grenze gestrandet. Zurück in die Türkei können und wollen sie nicht, nach Griechenland, in die Europäische Union, lässt man sie nicht. Felix Schmidt (FES Istanbul) und Ulrich Storck (FES Athen) geben Auskunft über die aktuelle Lage in der Türkei und Griechenland.
FES: Wie stellt sich die Situation an der EU-Außengrenze aus Sicht der türkischen Seite dar?
Felix Schmidt: Die humanitäre Situation an der Grenze ist für die Geflüchteten dramatisch. Nachdem die türkische Seite nun auch etwa 1000 Sicherheitskräfte an die Landgrenze entsandt hat, sind die Geflüchteten eingezwängt im Niemandsland zwischen der türkischen und der griechischen und bulgarischen Seite. Sie werden notdürftig vom roten Halbmond mit dem Allernotwendigsten versorgt aber die sanitären und wohnlichen Bedingungen sind katastrophal, wenn auch nicht ganz so tragisch wie an der syrisch-türkischen Grenze bei Idlib. Einigen Medienberichten zur Folge soll es sich bei den Geflüchteten an der Grenze zur EU allerdings nur in der Minderheit um Syrer_innen handeln, die Mehrheit sei aus Afghanistan, dem Iran, Pakistan sowie aus afrikanischen Ländern. Es sollen sogar Flüchtende aus der Türkei selbst darunter sein.
Welche Faktoren haben dazu geführt, dass der türkische Präsident Erdogan nun „die Tore geöffnet“ hat, wie er es ausdrückt?
Die Türkei beherbergt bereits jetzt mit etwa 4 Millionen weit mehr Geflüchtete als die EU insgesamt. Nun befinden sich ca. eine Million Geflüchtete zusätzlich an der syrischen Grenze zur Türkei und drängen ins Land. Wenn der zwischen den Präsidenten Putin und Erdogan ausgehandelte Waffenstillstand in Idlib nicht halten sollte, wird der Druck zunehmen, diese verzweifelten Menschen in der Türkei aufzunehmen. Gleichzeitig verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage im Land. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt mittlerweile bei ca. 25% und die Geflüchteten konkurrieren auf dem Arbeitsmarkt mit den türkischen Arbeitnehmer_innen.
Präsident Erdogan hat immer wieder betont, dass die Türkei nicht mehr in der Lage ist, diese zusätzlichen Belastungen zu stemmen. Das mit der EU ausgehandelte Flüchtlingsabkommen ist aus türkischer Sicht von der EU nur teilweise erfüllt worden. Von den versprochenen 6 Mrd. Euro sind erst etwa 3,6 Mrd. abgeflossen. Außerdem gibt es bei den anderen Teilen des Abkommens, wie die Abschaffung der Visapflicht, Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen oder Modernisierung der Zollunion keinerlei Fortschritte. Beide Seiten werfen sich gegenseitig die Schuld dafür vor.
Man kann die „Öffnung der Grenztore“ als ein Hilferuf der Türkei an die EU verstehen, sich endlich mehr in der Syrienfrage sowie bei der Aufnahme von Geflüchteten zu engagieren. Dieser Weckruf hat offensichtlich zumindest in Teilen funktioniert.
Viele in Europa werfen Erdogan ein zynisches Spiel vor, der die Geflüchteten als Druckmittel missbraucht. Auch wenn der Vorwurf nicht unberechtigt ist, muss sich die EU aber auch fragen lassen, ob ihre Inaktivität nicht noch zynischer ist. Bislang hat die Türkei die Hauptlast getragen und Europa konnte sich bequem aus der Verantwortung stehlen. Dass die Probleme durch das Flüchtlingsabkommen nicht gelöst wurden, ist seit 2015 bekannt.
Wie schätzen Sie den Rückhalt für dieses Vorgehen der türkischen Regierung in der eigenen Bevölkerung ein?
Durch die hohen Zahlen von Geflüchteten im Lande hat sich die Stimmung inzwischen gewandelt. Die auch von der Regierung ursprünglich propagierte „Willkommenskultur“ ist zunehmender Antipathie gegenüber Geflüchteten gewichen. Es gibt auch immer wieder gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Türk_innen und Geflüchteten, aber angesichts der weit schwierigeren Gesamtlage ist die Toleranz und Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung weit höher als in der EU. Wegen der vielen Probleme im Lande stoßen die Maßnahmen der Regierung auf breites Verständnis.
Welche Forderungen hat die türkische Regierung an die Europäische Union? Welche Verantwortung bei der Lösung der aktuellen Krise kommt Deutschland, Ihrer Einschätzung nach, zu?
Die türkische Regierung verlangt in erster Linie mehr Solidarität von den Europäer_innen und mehr Verständnis für ihre Lage im Land wie auch für die Einrichtung einer Sicherheitszone in der Region Idlib. Um den Druck von den Grenzen zu nehmen, wäre eine Aktualisierung des Flüchtlingsabkommens dringend geboten. Es muss auch auf die veränderte Lage in Syrien angepasst werden. Weitere finanzielle Unterstützung sollte mobilisiert werden und die Mittel müssten unbürokratischer fließen. Beim ersten Abkommen bestand zu Recht die Befürchtung, dass eine einfache Überweisung in den türkischen Staatshaushalt die Gefahr beinhaltet, dass die Mittel zweckentfremdet werden könnten und anstatt in die Flüchtlingshilfe z.B. für Rüstungskäufe verwendet würden. Die Türkei ist zwar kein Rechtsstaat mehr, aber es gibt durchaus weiterhin eine effizient funktionierende Verwaltung. Diese wäre in der Lage, solche Mittel zweckgebunden einzusetzen. Daher sollte überlegt werden, auch mit staatlichen Akteuren, wie z.B dem türkischen Katastrophendienst, enger zusammenzuarbeiten.
Außerdem müsste sich Europa endlich aktiver mit dem Drama in Syrien befassen und aufhören, neben immer wieder geäußerter „großer Besorgnis“ über die Lage, nur unbeteiligt am Rande zu stehen. Es ist an der Zeit, robuster zu intervenieren. Die Ursache der jetzigen Dramatik liegt in erster Linie in Damaskus sowie in Teheran und Moskau, weniger in Ankara. Dort müsste angesetzt werden; die Angriffe gegen das Verhalten der Türkei tragen nicht zur Lösung des Problems bei. Deutschland sollte und muss dabei eine Führungsrolle übernehmen, das liegt in ihrem ureigenen Interesse.
FES: Wie stellt sich die Situation an der EU-Außengrenze aus Sicht der griechischen Regierung da?
Ulrich Storck: Seit die türkische Führung Ende Februar die ‚Öffnung der Tore‘ ankündigte und seither Migrant_innen aktiv zur Grenze befördert, fühlt sich Griechenland von seinem Nachbarn ‚angegriffen‘. Man spricht von einem ‚hybriden Krieg‘ der Türkei gegen Griechenland, bei dem Geflüchtete als Waffe missbraucht werden. Die erste Reaktion war, die Grenze zu schließen und sie mithilfe von zusätzlichen Polizei- und Militäreinheiten undurchlässig zu halten. Migrant_innen, denen ein Übertritt gelingt, werden festgenommen oder sofort zurücktransportiert. Die derzeitige griechische Notfall-Gesetzgebung – die eine nach internationalem Recht unzulässige Aussetzung von Asylverfahren beinhaltet – erlaubt es den griechischen Behörden, über Land oder Wasser ankommende Migrant_innen aufzugreifen und ohne Registrierung und Verfahren zurückzuschicken.
An den Grenzen – der Landgrenze des Evros-Flusses genauso wie auf den Türkei-nahen Inseln – ist zugleich ein Propaganda-Gefecht losgebrochen: In sozialen Medien sollen Bilder Misshandlungen seitens der griechischen Polizei belegen, selbst von Toten wird – bis dato unbestätigt – gesprochen. Wenn es jedoch zu keiner schnellen Entspannung kommt, scheint es nur noch eine Frage der Zeit, wann es zu ersten Opfern kommt und die nächste Phase der Eskalation eingeläutet wird. Eine Verifizierung von Informationen bleibt schwierig, da Journalist_innen auf türkischer und griechischer Seite an ihrer Arbeit gehindert werden.
Es ist zu hoffen, dass es zeitnah zu einem Kompromiss mit der türkischen Führung kommt, um den Druck auf diese EU-Außengrenzen zu mindern. Auch wenn Frontex wie zugesagt einige Boote und etwas Personal zusätzlich einsetzt, sind insbesondere die Seegrenzen ohne die Zusammenarbeit mit der Türkei dauerhaft kaum undurchlässig zu halten.
Wie reagiert die griechische Öffentlichkeit auf die Ereignisse?
Das Land steht – über politische Gesinnungen und Parteigrenzen hinweg – geschlossen hinter der harten Haltung der Regierung. Seit Monaten dominieren tägliche Berichte über stetige Aggressionen und Provokationen der türkischen Führung die Nachrichten. Nicht nur fortlaufende Verletzungen des Luftraums durch den NATO-Partner, sondern gar Gebietsansprüche auf griechische Inseln und deren potenziell ressourcenreiche Festlandsockel heizen die bilaterale Fehde auf. Bereits vor der aktuellen Zuspitzung rechneten laut Umfragen über die Hälfte der griechischen Bevölkerung mit einem bewaffneten Konflikt mit dem Nachbarn im Jahresverlauf.
Bedauerlicherweise bietet diese als ‚nationaler Verteidigungsfall‘ stilisierte Situation nationalistischen und extrem-rechten Gruppierungen willkommenen Raum zur Agitation. Nationalistische, fremdenfeindliche und rechtsextreme Rhetorik wird massiv durch die sozialen Medien landesweit reproduziert und beeinflusst die öffentliche Meinung. In den betroffenen Grenzregionen bilden sich selbsternannte ‚Bürgerwehren‘ mit dem erklärten Ziel, die Grenze und die Inseln gegen die Geflüchteten zu ‚verteidigen‘. Rechts-extremistische Gruppen und Netzwerke formierten sich natürlich nicht erst in diesen Tagen, jetzt jedoch treten sie aus dem Schatten und fachen die ohnehin aufgeheizte Stimmung weiter an. Echo finden sie dabei in den rechtsnationalen Netzwerken in ganz Europa, Deutschland und namentlich die AfD eingenommen.
War diese Entwicklung Ihrer Einschätzung nach absehbar?
Wenngleich das in 2015 geschlossene EU-Türkei Abkommen ein willkommenes Instrument schuf, die hohe Zahl der nach Europa und insbesondere nach Deutschland kommenden Geflüchteten und Migrant_innen zu stoppen, wurden gleichwohl seine Schwachstellen schnell offensichtlich: Es erforderte einerseits den Kooperationswillen der türkischen Führung und beruhte andererseits auf griechischer Seite auf Mechanismen der Rückführung, zu denen die dortigen Asylbehörden nie in der Lage – und in Zeiten der Syriza-Regierung auch nicht politisch bereit – waren. Während die EU stets nur halbherzig bemüht war, die administrativen Kapazitäten Griechenlands aufzustocken und sich an der ohnehin ineffizienten Bürokratie abarbeitete, verschloss man im Umgang mit Erdogan beharrlich die Augen. Das ‚Öffnen der Tore‘ seitens des Landes, das inzwischen nahezu 4 Mio. Geflüchtete im Land versorgen muss, war immer wieder angekündigt. Europa machte sich erpressbar und verweigert dem Partner Türkei gleichzeitig erweiterte Zugeständnisse und Hilfsleistungen. Eine Zuspitzung wie die aktuelle war daher nur eine Frage der Zeit. Klar ist, dass die Wurzel des Problems in der kriegerischen Auseinandersetzung in Syrien liegt – und dass hier das beharrliche Wegsehen Europas zu keiner Lösung führte, sondern Raum zur Eskalation liess.
Welche Erwartungen hat die griechische Bevölkerung und ihre Regierung nun an die Europäische Union? Welche Verantwortung bei der Lösung der aktuellen Krise kommt Deutschland, Ihrer Einschätzung nach, zu?
Zunächst erwartet man europäische Solidarität und das klare Bekenntnis, dass es sich um eine europäische, nicht eine griechische Krise handelt. Schon lange fühlt sich Griechenland als Frontstaat und Gatekeeper der EU allein gelassen im Umgang mit dem seit Monaten wieder vehement ansteigenden Migrationsdruck, insbesondere auf den Hotspots der Ägäis. Solidarität wurde mit dem Besuch des europäischen Präsidententrios in großer Geste gezeigt, inklusive erheblicher finanzieller Neuzusagen. Mit diesen lässt sich das Problem jedoch bestenfalls eindämmen.
Wer eine Lösung sucht, muss sich an die europäischen Asylpolitik wagen: in Griechenland ist bekannt, dass dieses Land keineswegs Ziel der Migrant_innen ist, ausnahmslos alle wollen weiter in den Norden, Traumziel Deutschland. Die griechische Führung mahnt seit langem eine Verteilung der Aufnahmelast an, eine Reform des Dublin-Abkommens. Von Deutschland als Haupt-Zielland erwartet man, dass es sich noch vehementer für eine solche europäische Lösung einsetzt. Dazu könnte gehören, im Rahmen der derzeitigen EU-Haushaltsverhandlungen die Vergabe von Strukturfonds insbesondere an osteuropäische Länder an ihre Kooperationsbereitschaft hinsichtlich der solidarischen Verteilung von Geflüchteten zur koppeln. Deutschland wirft man oft eine zu große Nähe zur türkischen Führung vor, des Abkommen von 2015 wurde maßgeblich von Merkel auf den Weg gebracht, sie trage dafür eigene Verantwortung, auch für ein eventuelles Scheitern.
Will man neben den Symptomen auch die Ursache angehen, muss man sich mit Syrien beschäftigen: Die dortigen Entwicklungen haben Europa und Deutschland zu lange teilnahms- und einflusslos akzeptiert. Von der EU und insbesondere ihren Protagonist_innen Merkel und Macron wird erwartet, dass sie sich mit Nachdruck in Verhandlungen mit Putin engagieren mit dem Ziel, einen Waffenstillstand nicht nur auszuhandeln, sondern auch zu überwachen, Schutzzonen einzurichten und so zur Beendigung von Flucht und Elend der Menschen in der Region aktiv beizutragen. In Griechenland wird Macron und Frankreich derzeit als international engster Freund des Landes wahrgenommen. Gerade wegen des Vertrauens auf beiden Seiten könnte aber insbesondere Angela Merkel eine aktivere Rolle als Brokerin in den Verhandlungen zwischen Erdogan und Putin um einen Frieden in Syrien einnehmen.
Bild: Migrants stuck at Greek-Mazedonian Border von Kostas Tsironis / picture alliance
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