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Anrainerstaaten wehren weiterhin ankommende Migrant_innen gewaltsam ab, die EU reagiert kaum, so Studienautor Bodo Weber im Interview.
Bild: An Afghan refugee walks towards the Idomeni transit station where more than 10,000 refugees and migrants remain despite the closure of the so-called Western Balkan Route von © UNHCR/Achilleas Zavallis
FES: In der Überschrift Ihres Papiers sprechen Sie von einer „nicht ganz geschlossenen“ Balkanroute. Was bedeutet das im Detail?
Bodo Weber: Seit März 2016 gilt die Balkanroute als geschlossen, infolge des EU-Türkei Deals und der offiziellen Schließung der mazedonisch-griechischen Grenze sowie der anderen Grenzen entlang der Route. Tatsächlich können Geflüchtete und Migrant_innen seitdem nicht mehr von den griechischen Inseln auf das Festland und weiter reisen. Dennoch kommen weiterhin Tausende, wahrscheinlich Zehntausende jährlich über die Balkanroute nach Europa, in die EU. Und zwar mittlerweile primär über die türkisch-bulgarische Landgrenze und mithilfe professioneller Schmuggler_innen – wie vor der sog. europäischen Flüchtlingskrise. Dies geschieht trotz massiver Gegenmaßnahmen wie systematischer, oft gewaltsamer Pushbacks an den Grenzen entlang der Route, und der Änderung der Asylgesetzgebung in einigen Ländern, allen voran in Ungarn. All diese Maßnahmen verletzen nationales, EU und internationales Recht.
Wie wirkt sich die Schließung der Balkanroute auf die in der Mitte liegenden nicht EU-Mitgliedstaaten wie Mazedonien und Serbien aus sowie auf die dort ankommenden Geflüchteten?
Da der Versuch, die Balkanroute vollständig zu schließen, am nördlichen Ausgang, in Ungarn und Kroatien, „erfolgreicher“ ist als am südlichen Eingang, sind Mazedonien und Serbien gefangen in der Politik ihrer EU-Nachbarstaaten. Diese hat zu einem Rückstau von etwa 10.000 gestrandeten Geflüchteten und Migrant_innen v. a. in Serbien geführt. In dieser Zwangslage waren die beiden Staaten – man kann sagen – gezwungen, die Politik ihrer EU-Nachbarn zu kopieren – also rechtlich zweifelhafte Änderungen der Asylgesetzgebung vorzunehmen und eine Praxis der Pushbacks zu beginnen. Ironischerweise ist es so, dass die beiden Nicht-EU-Staaten die einzigen Länder auf der Balkanroute sind, in denen bei Pushbacks nicht systematisch Gewalt angewandt wird.
Liegt es an der Schließung der Balkanroute oder dem Türkei-Deal, dass mittlerweile immer weniger Geflüchtete in Mitteleuropa ankommen?
Hier hat sich seit letztem Jahr eine unsinnige, weil politisch motivierte entweder-oder-Debatte entspannt. Nach meiner Meinung liegt der Rückgang an einer Kombination von Faktoren. Einer ist der EU-Türkei-Deal, ein anderer die beschriebenen, intensivierten Bemühungen, die Balkanroute komplett zu schließen. Ein weiterer wichtiger Faktor, der zwar nicht offiziell Teil des Deals war, aber dazugehört, und der aus der öffentlichen Debatte herausgehalten wird, ist die Schließung der Grenzen zu Syrien durch die Nachbarstaaten, allen voran durch den türkischen Mauerbau. Es ist ein einmaliger Vorgang, dass Bürgerkriegsflüchtlinge de facto in ihrem Land eingeschlossen werden. Als im Jahr 1992 der Bosnienkrieg begann, war die erste Reaktion der Kohl-Regierung, für Bosnier_innen eine Visapflicht einzuführen. Aber wenigstens konnten diese damals in die Nachbarländer fliehen (von wo aus es wesentlich mehr doch nach Deutschland schafften als es der damaligen Bundesregierung ursprünglich Recht war). Inwieweit die 3 Mrd. Euro Finanzhilfen für die 3 Millionen Syrer_innen in der Türkei einen Beitrag geleistet haben, lässt sich schwer einschätzen. Denn demgegenüber steht die Verpflichtung, die Deutschland und die anderen EU-Staaten im Deal gegenüber der Türkei eingegangen sind, 150-250.000 Syrer_innen aufzunehmen, sobald die Zahlen in der Ägais erheblich zurückgegangen sind. Dies ist seit Mai 2016 der Fall, doch Berlin und die anderen Hauptstädte tun seitdem so, als gäbe es die Zusage nicht, und Ankara verzichtet seit über einem Jahr interessanterweise darauf, gegenüber der deutschen Regierung und der EU auf der Einhaltung dieser Verpflichtung zu bestehen.
Da sich Ungarn, Polen und Tschechien weigern, ausreichend Flüchtlinge – laut des von der EU aufgesetzten Umverteilungsplans von 2015 – aufzunehmen, leitete die EU-Kommission im Juni gegen die drei Länder ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Warum war die EU-Kommission bisher so zögerlich, obwohl mitunter Menschenrechtsverletzungen länger bekannt waren?
Die Kommission hat jüngst Vertragsverletzungsverfahren gegen die drei Länder eingeleitet, weil sich diese vollständig weigern, Flüchtlinge gemäß des umstrittenen, aber rechtlich eindeutig bindenden Umverteilungsschlüssels vom September 2015 aufzunehmen. Vermutlich hat Brüssel solange gewartet in der Hoffnung, dass sich die EU-Mitgliedsstaaten doch noch über die EU-interne Verteilung von Asylsuchenden einigen. Wie auch immer, die Einleitung der Verfahren knapp drei Monate vor Auslaufen des Schlüssels scheint mehr politische Symbolik als praktische Maßnahme zu sein. Ohnehin ist der Schlüssel heute praktisch gescheitert, weil fast alle anderen Mitgliedsstaaten ihre Aufnahmeverpflichtungen nur schleppend erfüllen.
Was Vertragsverletzungen in Bezug auf Menschenrechte betrifft, ist der Fall von Ungarn viel interessanter. Die Kommission hatte Ende 2015 ein Verfahren gegen Budapest eingeleitet. Es bezog sich auf Verschärfungen der ungarischen Asylgesetzgebung vom Sommer 2015, die zusammen mit der Schließung der Grenzen zu Serbien und Kroatien und der Errichtung der Grenzzäune erfolgten. Danach passierte jedoch mit diesem Verfahren erst einmal nichts. Erst am 17. Mai 2017 ist das Verfahren von der Kommission wiederbelebt worden, indem sie ein zweites, erweitertes Vertragsverletzungsverfahren einleitete. Dieses zielt auch auf die seit 2015 erfolgten weiteren, massiven Verschärfungen des ungarischen Asylrechts ab, insbesondere auf die letzten Gesetzesänderungen vom März 2017. Ob das Verfahren Folge der jüngst dramatisch zugenommenen Spannungen zwischen Brüssel und Budapest ist, oder ob ein Sinneswandel im Kanzleramt in Berlin dahintersteht, bleibt bisher unklar. Doch auch weiterhin gibt es keinerlei Verfahren gegen die massiven Menschenrechtsverletzungen, die in Bulgarien und Kroatien stattfinden.
Weber, Bodo
Bodo Weber. - Sarajevo : Friedrich-Ebert-Stiftung Dialogue Southeast Europe, June 2017. - 23 Seiten = 1,7 MB PDF-File. - (SOE - Dialog Südosteuropa)Electronic ed.: Sarajevo : FES, 2017
Publikation herunterladen (1,7 MB PDF-File)
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