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„Die Obergrenze ist erreicht“ - Mehr Geflüchtete in Italien, weniger europäische Solidarität

Die meisten Migrant_innen kommen heute in Italien an. Mit ausbleibender EU-Unterstützung nimmt das Land zunehmend eine Abwehrhaltung ein.

verlassenes Schiff auf Lampedus


Italien ist das Land der Europäischen Union, das in den letzten vier Jahren am kontinuierlichsten – und seit März 2016 auch am stärksten – von Flucht- und Migrationsbewegungen betroffen ist. Zwar wurde die Insel Lampedusa schon lange vorher zur Chiffre der Versuche von Menschen aus Afrika oder Asien, nach Europa zu gelangen. Doch man kann mit gutem Grund sagen, dass es sich bis 2013 eher um eine „optische Täuschung“ als um die Realität handelte. Jährlich kamen in der Regel nur wenige tausend Menschen über das Mittelmeer. Dies lag auch daran, dass Tunesien sowie das von Muammar al-Gaddafi regierte Libyen mit Italien Abkommen zur Flüchtlingsabwehr geschlossen hatten.

Wie Italien das wichtigste Zielland für Migrant_innen in der EU wurde

Dramatisch änderte sich die Situation von 2013/2014 an. Nach Zusammenbruch des al-Gaddafi-Regimes entwickelte sich Libyen zum failed state, an dessen Küsten Schleuser_innen weitgehend ungehindert agieren können. Die neue Situation spiegelte sich in den nach oben schnellenden Zahlen der Mittelmeerpassagen von Geflüchteten und Migrant_innen wider. Im Jahr 2014 stachen von Libyens Küsten aus 170.000 Menschen in See, 2015 waren es 154.000, 2016 wurde der bisherige Rekord von 180.000 erreicht. Und im laufenden Jahr dürfte diese Zahl erneut übertroffen werden.

Mit der Schließung der Balkanroute und dem Abkommen mit der Türkei im Frühjahr 2016 wurde Italien endgültig zum gegenwärtig wichtigsten Zielland in der gesamten EU. So konstant hoch in Italien in den letzten Jahren die Ankünfte blieben, so deutlich veränderten sich die Herkunftsländer. Stellten noch im Jahr 2014 Syrer_innen und Eritreer_innen mit je etwa 40.000 fast die Hälfte der Geflüchteten, so ging ihre Zahl danach deutlich zurück. Dies widerlegt auch die seinerzeit geäußerte Vermutung, mit der Schließung der Türkei-Balkanroute würden sich Migrationsbewegungen nach Westen verlagern.

Nicht Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak stellen die Mehrheit der in Italien Ankommenden. Vielmehr waren die Hauptherkunftsländer in der ersten Jahreshälfte 2017 Nigeria, Bangladesch, Guinea, Côte d'Ivoire, Gambia, Senegal und Marokko. Es überwiegen also, mit Ausnahme Bangladeschs, die Länder Westafrikas, für die der Weg über Libyen gleichsam die „natürliche“ Route darstellt, da der Weg über Marokko (Richtung Spanien und seinen Enklaven Ceuta und Melilla) oder Tunesien weitgehend versperrt ist.

Das Gegenteil einer „europäischen“ Flüchtlingspolitik

Auch in einer zweiten Hinsicht veränderte sich seit dem Jahr 2015 die Situation für Italien deutlich. Hatte das Land vorher immer beklagt, es werde „von Europa alleingelassen“ – sowohl bei der Rettung der Geflüchteten und Migrant_innen im Mittelmeer als auch bei ihrer Aufnahme – so weckte die so genannte europäische „Flüchtlingskrise“ im Jahr 2015 gerade in Italien die Hoffnung, dass nun eine Europäisierung der Flüchtlingspolitik erfolgen werde.

Genau das Gegenteil trat jedoch ein. Bis zum Jahr 2015 war die Rede vom „Alleingelassensein“ nur bedingt gerechtfertigt, denn faktisch hielt Italien sich nur sehr begrenzt an die Dublin-Regeln. So stellten von den 170.000 im Jahr 2014 an Italiens Küsten Eingetroffenen nur 64.000 im Land selbst Anträge auf Asyl oder humanitären Schutz. Der große Rest – vorneweg die Syrer_innen und Eritreer_innen – zog weiter in die Länder nördlich der Alpen. Diese Situation drehte sich jedoch von 2016 an. Italien erhielt – nur sehr begrenzt eingehaltene – Zusagen zu einer europäischen Flüchtlingsumverteilung, musste sich aber im Gegenzug verpflichten, die ankommenden Flüchtlinge und Migrant_innen lückenlos zu erfassen.

Aus der erhofften „Europäisierung der Flüchtlingspolitik“ wurde so das exakte Gegenteil: Heute bleibt Italien tatsächlich weitgehend allein auf „seinen“ Ankömmlingen sitzen. Entsprechend angespannt ist die Situation in den völlig ausgelasteten Aufnahmeeinrichtungen, entsprechend schwieriger wird es, in den Kommunen neue Plätze zu finden. Dies schlägt sich auch in der politischen Debatte nieder.

"Obergrenze erreicht": Italien in Abwehrposition

Mittlerweile ist es Konsens auf der Rechten ebenso wie bei der gemäßigt linken Regierungspartei Partito Democratico (PD) unter Matteo Renzi und bei dem Movimento5Stelle (M5S – 5-Sterne-Bewegung) des Komikers Beppe Grillo, dass Lösungen allein in Europa gefunden werden können. Mehr noch: Bis vor wenigen Monaten stand einer den Migrant_innen ablehnenden Rechten mit der PD eine Partei gegenüber, die die Aufnahme von Flüchtlingen und Migrant_innen verteidigte. Nun setzt sich jedoch auch in der gemäßigten Linken – ebenso wie beim M5S – ein Diskurs durch, wonach Italien seine „Obergrenze“ erreicht habe. Von Obergrenze spricht explizit der PD-Chef Matteo Renzi, und er ergänzt in seinem eben erschienenen Buch „Avanti“, den Migrant_innen müsse „zu Hause geholfen werden“. Italien habe zwar die moralische Pflicht, alle zu retten, nicht aber die Pflicht, alle aufzunehmen.

Diese neue Linie spiegelt sich in den Positionen der PD ebenso wie der von ihr beherrschten Regierung unter Paolo Gentiloni wieder: Harsche Kritik an den vor der libyschen Küste mit ihren Schiffen operierenden NGOs – ihnen sollen in Zukunft strikte Auflagen gemacht werden – paart sich mit dem Anliegen, die libysche Einheitsregierung zum Schutz der Seegrenze ebenso wie der Südgrenze in der Wüste zu ertüchtigen. Angesichts der Tatsache, dass in weiten Teilen Libyens Milizenführer den Ton angeben, ist es gegenwärtig einigermaßen unwahrscheinlich, dass das Kalkül, so die Flucht- und Migrationsbewegungen einzudämmen, in naher Zukunft aufgehen wird.

 

Kontakt:Dr. Michael Braun, FES Italien

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