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Entschieden handeln, klug integrieren

Der Landrat des Kreises Minden-Lübbecke, Ali Doğan, kritisiert die ideologische Verengung der Migrationsdebatte und fordert einen stärkeren Fokus auf Chancen und Infrastruktur, vor allem auf kommunaler Ebene.


 

Dauerkonjunktur und Polarisierung

Alle Jahre wieder kommt in Deutschland eine Migrationsdebatte auf – und geht zuverlässig am eigentlichen Kern vorbei. Mit jedem Durchlauf aber werden die Stimmen radikaler Kräfte lauter, der Zuspruch für rechte und rechtsradikale Gruppierungen größer. Ob Leitkultur, Rütli-Schule, Sarrazin oder die sogenannte Flüchtlingswelle vor fast 10 Jahren: Schrille Töne im öffentlichen Diskurs fanden ihren praktischen Bezugspunkt nicht selten in kommunaler Überforderung.

Das Thema hat seither Dauerkonjunktur und ist der Polarisierungshebel der Rechtsextremen. Im Kampf der Algorithmen und Headlines ist jedes Mittel recht- zumal es nach wie vor das einzige Thema ist, das sie haben.

Ändern tut sich nach einem neuen Debattenhoch nur wenig. Die Ankündigungen der Politik sind reaktiv und zu selten strategisch und zukunftsorientiert. Genau deshalb treffen sie auch nicht den eigentlichen Kern der Frage: Über wen oder was sprechen wir eigentlich? Ist uns eine differenzierte Analyse zu mühsam geworden? Geben wir uns wirklich damit zufrieden, dass der „Migrationshintergrund“ der zentrale Erklärmechanismus geworden ist – obgleich er in unserer superdiversen Gesellschaft mittlerweile überhaupt keine Aussagekraft mehr hat?

Nur selten drängt eine differenzierte Analyse ins Scheinwerferlicht der Talkshows. Dabei müsste es mal präziser um Asylpolitik, mal um Einwanderung, mal um Bildungs-, Arbeitsmarkt- oder Sozialpolitik gehen. Die Ideologisierung der Debatte in für und wider, in gut und schlecht führt nicht nur zu einer defizitorientierten Grundstimmung, sondern auch zu einer unscharfen und eindimensionalen Problemanalyse. Der Blick auf Ressourcen und Chancen wird in reflexartiger Abwehrhaltung verstellt.

Die Art der Debattenführung hat über zu viele Jahre für Stillstand gesorgt: Wer Probleme thematisierte, sah sich eingezwängt zwischen zwei sich diametral gegenüberstehenden Lagern: Auf der einen Seite diejenigen, die in Migranten grundsätzlich Freunde und sozial Benachteiligte sahen, auf der anderen Seite jene, die Migranten ausschließlich als Gefahr für den Wohlfahrtstaat und als Sicherheitsrisiko verstanden wissen wollten.

Mir scheint, das Problem der Lagerbildung liegt in der beidseitig unscharfen Analyse: Das eine Lager spricht über diejenigen, die sich integrieren wollen, und das andere Lager meint vor allem solche, die sich nicht an bestehende Regeln halten und deswegen verständlicherweise auch keine Akzeptanz in der Gesellschaft finden. 

Wir aber werfen alle in einen Topf und streiten dann darüber, ob nun das eine oder das andere getan werden muss. Die Folge? Stillstand durch ungenaue Lösungsvorschläge.

 

Mehrwert mit erheblichen Herausforderungen

Dass Migration ein Mehrwert sein kann, ist aus meiner Sicht unbestritten. Doch, dass sie neue, erhebliche Herausforderungen mit sich gebracht hat, wurde zu lange von zu vielen negiert. Unsere Infrastrukturen haben sich unserer Einwanderungsgesellschaft nicht angepasst. Das gilt für die kommunale Ebene – Stichwort: Wohnen – und ganz besonders für unser Bildungssystem.

Wir brauchen einen guten und durchlässigen Übergang in den Arbeitsmarkt, bezahlbaren Wohnraum und eine soziale Durchmischung von Wohngebieten. Und, wir brauchen Repräsentation. Vorbilder, d.h. Menschen, die hier gut angekommen und Teil unserer Gesellschaft sind. Menschen, die eine Brücke bauen können. Bundesweit sind Menschen mit Migrationsbiografie auf kommunaler und Landesebene deutlich unterrepräsentiert. Besonders deutlich gilt das für Flächenländer wie NRW. Ich selbst bin ein gutes Beispiel dafür: Der einzige „meiner Art“ von 31 Landräten im bevölkerungsreichsten Bundesland.

Vielfalt ist ein Mehrwert, wenn wir gute Förderinstrumente aufbauen und zur Anwendung bringen!

Leider aber schaffen wir es derzeit nicht einmal zwischen der Situation in Großstädten und ländlichen Regionen zu unterscheiden. Der Verteilmechanismus von Geflüchteten über den Königsteiner Schlüssel wird unseren gesellschaftlichen Realitäten nicht mehr gerecht. Insbesondere dichtbesiedelte Städte sind an ihren faktischen Kapazitätsgrenzen angelangt. Faktoren wie Arbeitslosenquote und Ausländeranteil sollten auf kommunaler Ebene auch bei der Ansiedlung von Neubürgerinnen eine Rolle spielen können. Auf kommunaler Ebene brauchen wir passgenaue Lösungen.

Ähnlich wie es der bekannte Bürgermeister der belgischen Stadt Mechelen, Bart Somers, vorlebt, glaube ich, dass wir eine Doppelstrategie aus „ressourcenorientierter Sicht auf Diversität“ und „Null-Toleranz bei grenzüberschreitendem Verhalten“ benötigen.

Integration, d.h. die Organisation eines gelingenden Ankommens von Menschen in unserer Gesellschaft ist eine herausfordernde Daueraufgabe. Wir müssen konsequent darauf achten, dass Menschen, die zu uns kommen, auch tatsächlich Zugang in unsere Gesellschaft haben. Dazu gehört die Anbindung an unsere unterschiedlichen staatlichen Infrastrukturen; sei es die Busanbindung von der Unterkunft zu Behörden, Schulen, Arbeit oder aber die Teilhabe am kulturellen Leben. Wir brauchen ein Schulsystem, das den Bedarfen einer Einwanderungsgesellschaft gerecht wird: ausreichend Personal, starke Kooperationen zwischen Schulsozialarbeit, Lehrkräften und außerschulischen Angeboten; eine qualitativ hochwertige OGS und den Fokus auf jene Schulform, bei der alle Kinder, ganz gleich mit welcher Biografie, zusammenkommen: die Grundschule. Hiervon profitieren alle: Junge Familien, berufstätige Eltern, auch Kinder aus bildungsfernen Schichten. Am Ende sichern wir mit jeder Investition in Bildung und Qualifizierung für den Arbeitsmarkt unsere eigene Zukunft als hochentwickeltes Industrieland.

 

Überforderungssituationen benennen ohne in Rassismen zu verfallen

Dennoch: Wir haben zu wenig auf die „schwarzen Schafe“ unter Menschen mit Migrationshintergrund geschaut. Viel zu häufig wurden diejenigen, die das Thema problematisiert haben, automatisch in die rechte Ecke gesteckt. Das muss aufhören. Wir müssen darüber sprechen ohne aber in Rassismen zu verfallen. Auf dieser Seite der Doppelstrategie müssen wir anerkennen, dass es desintegrativ handelnde Migranten gibt, die häufig aus patriarchalen Strukturen, vielfach aus muslimisch geprägten Ländern, kommen und auch, dass es eine überproportionale Anzahl von Tatverdächtigten nichtdeutscher Herkunft gibt.

Auch ist offensichtlich, dass es in Kitas und Schulen zu nicht hinnehmbaren Überforderungssituationen kommt, wenn zu viele sprachliche Barrieren bestehen und zusätzlich viele Kinder mit Förderbedarf adäquate Ansprache benötigen. Wir müssen darüber sprechen, dass wir auch in den unterschiedlichen Einwanderergruppen Menschen haben, die unsere freiheitlich-demokratischen Grundordnung und unseren Grundrechten weder schätzen noch teilen und es gerade bei diesen Gruppen auch Rassisten, Antisemiten und Homophobe gibt. Menschenverachtende Ideologien haben in unserem Land nichts verloren. Dem müssen wir entschieden entgegentreten, egal aus welcher Ecke sie kommen.

Als erster Landrat mit Migrationshintergrund in Deutschland empfinde ich es als meine Aufgabe, diese Doppelstrategie vor Ort vorzuleben. Dabei hilft mir sicherlich meine eigene Identität als Akzeptanzquelle bei Migrantengruppen und Mehrheitsgesellschaft.

Wie wir gut zusammenleben und Teil desselben Teams sein können, ist eine der drängendsten Fragen, die die Mitte der Gesellschaft bewegen. Wir dürfen dieses Terrain auf keinen Fall den Extremisten überlassen: Sie wollen Spaltung, wir wollen Zusammenhalt! Gehen wir es gemeinsam an, „ohne Angst und Träumereien“, wie es unser damaliger Bundespräsident Johannes Rau im Jahre 2000 in seiner viel beachteten Rede zu genau diesem Thema gesagt hat.

 


Zur Person

Ali Doğan ist seit Februar 2023 Landrat des Kreises Minden-Lübbecke in Nordrhein-Westfalen. Er wurde 1982 in Herford geboren. Seine Eltern sind Anfang der 70er Jahre nach Deutschland eingewandert. Aufgewachsen in Enger, Spenge und Bünde lebt er mit seiner Familie im ostwestfälischen Minden.

Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.


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