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„Für die Menschen in Katar hat sich durch die WM definitiv etwas verändert“
Die Fußball-WM in Katar polarisiert seit der Entscheidung für das Emirat als Gastgeber der ersten WM-Endrunde im arabischen Raum vor zwölf Jahren. Galten danach zunächst besonders die Umstände des Zuschlags für den Wüstenstaat am Golf sowie die spätere Verschiebung des Turniers in den Winter als Skandal und nur weiterer Beweis für Korruption im Weltverband FIFA, rückten schon bald darauf immer mehr erschütternde Beschreibungen der elendingen Lebensbedingungen vor allem zugewanderter Arbeitsmigrant_innen für einen anhaltende Empörung in weiten Teilen der Welt.
In der Folge der immer heftigeren Proteste auf dem ganzen Globus, vor allem aber im westlichen Teil der Welt, gegen die Ausrichtung des wichtigsten Sportereignisses der Erde geriet auch die allgemeine Menschenrechtssituation in Katar in den Fokus der Öffentlichkeit. Denn außer für ausländische Arbeiter_innen, deren Einsatz auf den WM-Baustellen oft tödliche Folgen hatte, ist in dem islamischen Königreich die Lage für Frauen und Mitglieder der LGBTQ-Gemeinschaft problematisch, ja sogar prekär. Vor diesen Hintergründen trat das bereits seit Jahren bestehende Unbehagen über das „Milliardengeschäft Fußball-WM“ im Allgemeinen fast vollkommen in den Hintergrund. Nicht von ungefähr gilt schon heute als gesichert, dass die WM in Katar als größter Sündenfall des Sports – größer als sein Vorgängerturnier 2018 in Russland und auch größer die Olympischen Spiele 2008 (Sommer) und zu Jahresbeginn (Winter) in Peking sowie 2014 im russischen Sotschi (Winter) - in die Weltgeschichte eingehen wird.
Wenige Tage vor der Eröffnung des also umstrittensten WM-Turniers aller Zeiten, also vor dem skandalösen Verbot von harmlosen One-Love-Kapitänsbinden für die WM-Spiele, aber nur kurz nach den erschütternden Aussagen von Katars WM-Botschafter Khalid Salman über „geistige Schäden“ als Grund für Homosexualität, bewerteten Vertreter_innen aus Politik, Wissenschaft und aktiver Fanszene bei der Podiumsdiskussion „Mehr als 1:0 – Fußball-WM zwischen Sport, Politik und Menschenrechten“ die Problematiken aus verschiedenen Perspektiven.
Unter der Moderation des renommierten Sportwissenschaftlers Prof. Dr. Jürgen Mittag debattierten im Deutschen Fußball-Museum in Dortmund der Katar-Forscher Prof. Dr. Martin Beck, Sabine Poschmann als sportpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion sowie Patrick Haslinde für den Fanklub „Totale Offensive“ des örtlichen Bundesligisten Borussia Dortmund über zahlreiche Facetten des Spektakels mit politischer Bedeutung. Das Panel bemühte sich dabei ebenso um eine Einordnung der Menschenrechtsverletzungen in einen globalen Kontext wie um eine kritische Analyse der großen und schier unkontrollierten Macht von internationalen Sportverbänden und auch der Möglichkeiten von Fans und Sportkonsumenten zur Einflussnahme. Ein weiteres Thema dabei war allerdings auch Deutschlands neue Ambivalenz in den Beziehungen zu Katar aufgrund der Energiekrise durch den Ukraine-Krieg.
Den elementaren Leitgedanken der Diskussionen schickte Sohel Ahmed aus dem Landesbüro NRW der gastgebenden Friedrich-Ebert-Stiftung bereits in seiner Begrüßung voraus. „Sport ist politisch und hat immer auch eine politische Dimension.“
Beinahe wie zur Bestätigung entwickelte sich im Anschluss entlang der unterschiedlichen Themenkreise eine Debatte über die WM und deren Auswirkungen, die sich durch differenzierte Betrachtungen fundierter Erkenntnisse deutlich vom trendigen Katar-Bashing auf der Basis von Vorurteilen abhob. Besonders Beck, aber auch Poschmann wiesen entgegen dem Mainstream auf nachweislich eingetretene Verbesserungen nicht zuletzt für ausländische Arbeiter_innen in Katar hin. Poschmanns richtete jedoch unterdessen – flankiert durch die Expertise von Moderator Mittag - ihr Hauptaugenmerk auf die Verantwortung der Sportverbände für Entwicklungen in einem Gastgeberland von Großereignissen und entsprechende Kontrollmöglichkeiten. Haslinde hingegen betonte die Entschlossenheit der Fans und Zuschauer, Fehler im „System Sportbusiness“ anzuprangern und damit einen Beitrag zu Korrekturen leisten zu wollen.
Beck sorgte mit unpopulären Thesen auf der Grundlage seiner Studie „Kritik der politischen Ökonomie Katars“ über die Lebenswirklichkeit in dem kleinen Emirat für Reaktionen zwischen Verwunderung und Ablehnung. So sehr der Wissenschaftler die Politisierung der WM begrüßte, so entschieden wandte sich Beck gegen eine gleichzeitige Skandalisierung und bemühte sich dabei um die Unterstreichung von Grautönen.
In seinen Ausführungen legte Beck dar, dass internationale Gewerkschaften und auch Menschenrechtsorganisationen in den vergangenen Jahren positiven Veränderungen für Arbeiter_innen in Katar ausdrücklich anerkannt hätten. Seriös ließen sich die ursprünglichen Schätzungen über Tausende von Toten auf den WM-Baustellen nicht aufrechterhalten. „Katar hat Reformen eingeleitet. Widerwillig zwar, aber es hat Reformen eingeleitet“, konstatierte Beck.
Der Nahost-Fachmann verurteilte eine Stigmatisierung Katars alleine wegen „inakzeptabler“ Verletzungen sozialer Menschenrechte: „Wenn man deswegen die WM in Katar nicht gucken will, dann darf man auch keine Sportevents in Deutschland. Belgien, Griechenland oder den USA schauen, denn auch in diesen Ländern passieren Verletzungen sozialer Menschenrechte, die inakzeptabel sind.“
Zuversichtlich stimmt Beck die Dialogbereitschaft der katarischen Herrscher. „Das wird bisher zu wenig honoriert. Durch die westlichen Forderungen hatte Katar eigentlich keine andere Wahl, aber käme man Russland oder China mit dem Thema Menschenrechtsverletzungen, husten die einem doch etwas und bürsten alles ab.“
Unter dem Strich hätte die WM-Vergabe „aus Versehen positive Effekte“ in Katar bewirkt, meinte Beck: „Katar hat die Wucht der Kritik aus den westlichen Ländern unterschätzt. Aber zusammen mit seiner Isolation von 2017 durch die Golf-Nachbarn konnte Katar wegen der WM gar nicht mehr anders, als zum Beispiel sein bürgschaftsähnliches Kafala-System zu reformieren. Für die Menschen in Katar hat sich definitiv schon etwas verändert.“
Zu einer ähnlichen Bewertung kam Poschmann. „Die WM-Vergabe hätte nicht passieren dürfen, aber die Aufmerksamkeit durch WM hat in Katar auch zu Gesetzen geführt, die Gewerkschaften als schon vergleichbar mit deutschen Arbeitsschutzgesetzen einschätzen“, erklärte die Bundestagsabgeordnete: „Katar ist auf einem guten Weg, aber es reicht noch nicht aus, man muss es im Blick behalten und darf nicht mit Kritik sparen.“ Poschmann warb in diesem Zusammenhang zugleich um Geduld, weil auch in Europa die Menschenrechte erst über viele Jahre erkämpft werden musste.
Wie Beck konstatierte Poschmann in Bezug auf Katar bei Kritikern in Deutschland gerade in der momentanen Energiekrise einen Hang zur Doppelmoral: „Jeder will einen WM-Boykott und keiner mehr Gas aus Katar, obwohl Katar uns in unserer derzeitigen Notlage auch ein wenig rettet – aber keiner will aus Öl aus dem sicher noch viel problematischeren Saudi-Arabien verzichten deswegen und im Winter frieren.“
Nach Ansicht der Sportpolitikerin dürfte die Zukunft noch einige Gelegenheiten zur Bewertung von Fortschritten in Katar bringen. „Dieser kleine Staat strebt noch Großes an und macht bei einer Fußball-WM noch nicht Schluss“, sagte die 54-Jährige eine Olympia-Kandidatur des Emirats voraus: „Die Katarer gehen das sehr strategisch an. Sie wissen, dass sie irgendwann kein Öl und Gas mehr haben werden, und planen deswegen schon jetzt, wie sie ihr Geld anlegen und ihr Land umbauen. Dabei wissen sie auch genau, dass sie noch umsteuern und besonders gegenüber Saudi-Arabien in eine noch geschütztere Position hineinwachsen müssen, und werden sich deshalb um weitere Großereignisse bemühen.“
Unabhängig von Ländern ist die künftige Verhinderung von ähnlich streitbaren Vergaben von Top-Events im Sport Poschmanns Meinung nach nur durch Veränderungen bei den Verbänden möglich. „Alle, auch die Politik, müssen darauf achten, dass die festgeschriebenen Kriterien für Menschenrechte und Nachhaltigkeit eingehalten werden. Ich würde mir aber auch einen demokratischeren Ansatz beispielsweise bei der FIFA wünschen: Gianni Infantinos Werte sind nämlich ganz sicher nicht unsere Werte.“
Poschmanns Urteil passte zu Mittags Expertise außerhalb seiner Moderatoren-Aufgabe. „Die unangreifbar erscheinende Sonderstellung von Verbänden und ihrer Spitzenfunktionäre haben ihre Ursache darin, dass ihnen innen keine und außen nur eine begrenzte Anzahl von Gegenspielern gegenüberstehen. Dadurch und ihr Monopol über die Vergabe von WM-Wettbewerben und anderen internationalen Großereignissen, durch das sie selbst sehr viel Geld generieren können, perpetuieren sie ihre Macht“, meinte der 52-Jährige.
Der Wissenschaftler von der Deutschen Sporthochschule Köln sieht allerdings auch in dieser Hinsicht durch die WM in Katar Veränderungen aufkommen: „Wir erleben einen Zeitenwandel im internationalen Sport - besonders stark im westlichen Bereich treten Medien verstärkt kritisch und auch Fans in Erscheinung."
Vor allem die Fußball-Liebhaber beanspruchen inzwischen auch tatsächlich mehr als nur eine Nebenrolle im großen Spiel. Ihre in vielen Stadien sichtbaren Forderungen nach einem Boykott der WM In Katar zielen denn auch weit über das Turnier hinaus, wie Haslinde verdeutlichte: „Die Probleme betreffen ja nicht nur die FIFA, sondern auch die europäische UEFA und den Deutschen Fußball-Bund, denn es grundlegend strukturelle Probleme“, meinte der BVB-Anhänger.
Die Ablehnung der WM-Endrunde in Katar hat für Haslinde angesichts der längst schon nicht umkehrbaren Millionen-Deals auf unterschiedlichen Ebenen mehr mahnenden Charakter: „Es muss eine Grenze gezogen und deutlich gemacht werden, dass es so wie bisher im Fußball nicht weitergehen kann und man für die kommende Turniere sensibel wird.“
Haslindes Einschätzung zufolge haben die Fans durch ihre Anti-WM-Proteste bereits sehr viel erreicht: „Die Reformen in Katar sind ja nicht wegen der Vergabe der WM in das Land geschehen, sondern wegen der nachfolgenden Kritik am Land.“
Dietmar Kramer, Journalist
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