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Ingo Zamperoni, Angelique Kerber, Markus Lanz, Nazan Eckes, Helene Fischer, Jamal Musiala – sie haben ihn alle: einen Migrationshintergrund. Warum die Kategorie „Migrationshintergrund“ aber wenig aussagekräftig ist und dennoch zum politischen Sprachgebrauch gehört, haben Deniz Oguzhan und Laura Dinnebier für uns aufgeschrieben.
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Die Kategorie „mit Migrationshintergrund“ spielt in der deutschen Bevölkerungs- und Bildungsstatistik eine zentrale Rolle, weist aber erhebliche methodische und politische Schwächen auf. Ursprünglich eingeführt, um migrationsbedingte Unterschiede und Ungleichheiten zu erfassen, vermischt es heute Menschen unterschiedlicher Generationen und Migrationserfahrungen und fördert ethnisierte Abgrenzungen. Individuelle Teilhabechancen und -barrieren, sowohl im Bildungsbereich als auch darüber hinaus, bleiben dadurch weiterhin verdeckt
Eine Kategorie, die sich überlebt hat?
Die Kategorie "mit Migrationshintergrund" trifft auf den Moderator Markus Lanz aus Südtirol ebenso zu wie auf Geflüchtete aus Syrien oder der Ukraine. Intuitiv denkt man aber seltener an Markus Lanz, wenn man “Mensch mit Migrationshintergrund” hört. Trotzdem spielt diese Kategorie in der deutschen Bevölkerungs- und Bildungsstatistik eine zentrale Rolle, obwohl sie erhebliche methodische und politische Schwächen aufweist. Ursprünglich eingeführt, um migrationsbedingte Unterschiede und Ungleichheiten zu erfassen, vermischt sie heute Menschen unterschiedlicher Generationen und Migrationserfahrungen und fördert ethnisierte Abgrenzungen. Individuelle Teilhabechancen und -barrieren, sowohl im Bildungsbereich als auch darüber hinaus, bleiben dadurch weiterhin verdeckt. Eine kritische Auseinandersetzung mit derart künstlichen demografischen Kategorien ist daher unerlässlich – gerade dann, wenn sie wie natürlich erscheinen. Gleichzeitig erfordert evidenzbasierte Politikgestaltung eine kontinuierliche Suche nach und Evaluation von präziseren Alternativen und deren Förderung.
Über 40% der Schüler:innen haben einen sogenannten „Migrationshintergrund“
Laut Statistischem Bundesamt hatte 2021 mehr als ein Viertel der Bevölkerung einen Migrationshintergrund, wobei dies im Bildungssektor fast 40% der Schüler_innen betraf. Doch wie kommen solche Zahlen zustande? Die Bundesländer nutzen unterschiedliche Begriffe, was den Datenvergleich erschwert. In NRW wird von bis zu 42% an Schüler_innen „mit Zuwanderungsgeschichte“ gesprochen. Das umfasst auch jene, deren familiäre Verkehrssprache nicht Deutsch ist. Zudem ist die Kategorie „Menschen mit Einwanderungsgeschichte“ gesetzlich verankert und umfasst Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit oder die nach 1955 zugewandert sind oder in Deutschland Geborene, deren Eltern eine der beiden Kategorien erfüllen. Diese Vielbegrifflichkeit führt zu Verwirrung und Missrepräsentation der Diversität in der Gesellschaft.
Deswegen werden gegenwärtige Erhebungsmethoden und Kategorien den Anforderungen der heute zunehmend diverseren Gesellschaft nicht gerecht. Sie basieren stark auf externen Fremdzuschreibungskategorien wie „mit Migrationshintergrund“. Solche Fremdzuschreibungen sind unpräzise und tendieren potenziell zu Stigmatisierung. Das macht es besonders schwierig, Rassifizierung und Diskriminierung zu identifizieren.
Der „Migrationshintergrund“ verdeckt statistisch Rassifizierung und Diskriminierung
Dementsprechend ist von zentraler Bedeutung die Notwendigkeit, Selbstzuschreibungen bzw. Selbstidentifikationen – bspw. anhand spezifischerer Bezeichnungen wie „Afrodeutsche“ oder „Deutsche Asiat_innen“ - in die Erhebungen zu integrieren, um strukturelle Diskriminierung und Rassismuserfahrungen präziser zu erfassen und zu analysieren. Internationale Beispiele, wie der Census in Großbritannien oder Erhebungen in Kanada, zeigen, dass es möglich ist, solche Selbstzuschreibungen in statistische Erhebungen einzubeziehen. Auch in Deutschland gibt es bereits vereinzelt Ansätze, die Selbst- und Fremdwahrnehmungen in die Forschung zu integrieren, wie etwa das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), das in seinen Projekten offene und standardisierte Identifikationen erhebt.
Der„Migrationshintergrund“ verschleiert den Blick auf strukturelle Ungleichheit
Auch bildungspolitische Fragen bewegen sich im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdzuschreibung, obwohl hier der Fokus stattdessen mehr auf der sozialen Herkunft liegen sollte – dem sozialen, kulturellen und finanziellen Kapital des Elternhauses. Häufig soll der "Migrationshintergrund" Leistungsdefizite erklären. Das Problem wird zudem individualisiert. So zeigt eine Studie, dass in der medialen Darstellung von Bildungsproblemen bei Kindern mit Migrationshintergrund "individualisierende Deutungen" überwiegen. Strukturelle Ungleichheiten werden oft ausgeblendet und die Verantwortung stattdessen den Eltern übertragen. Doch das vereinfacht komplexe Zusammenhänge und verhindert eine differenzierte Problemanalyse. Die Vielfalt der Definitionen und Operationalisierungen des Migrationshintergrunds in der Forschung erschwert zusätzlich die Deutung und Interpretation von Studien und damit auch eine präzise mediale Berichterstattung.
Trotzdem nutzen Politik und Forschung diese Kategorie, um politische Entscheidungen umsetzen zu können bzw. strukturelle Ungleichheiten zu erkennen, obwohl sie sich als kontraproduktiv erweist. Das Dilemma hierbei ist nämlich, dass es „Sichtbarkeit und Benennung [braucht], um Unsichtbarkeit und Ungleichheit anzugreifen“, wie es Naika Foroutan formuliert.
Des Weiteren sind antidemokratische Bewegungen und die Zunahme rechtspopulistischer und rassistischer Einstellungen nicht nur eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, sondern eine akute Gefahr für die Wissenschaftsfreiheit und den Wissenschaftsstandort Deutschland. Ein wachsendes Bewusstsein für die adäquate Erfassung migrationsbezogener Realitäten und eine kritische Auseinandersetzung mit den bestehenden Kategorien sowie deren Auswirkung auf die Gesellschaft ist somit zwingend erforderlich.
Die Kategorie „Migrationshintergrund“ erfüllt ihren Zweck nicht
Es wird immer deutlicher - der Migrationshintergrund und seine aktuellen alternativen Bezeichnungen erfüllen nicht den ihnen zugedachten Zweck. Die vom Migrationshintergrund erwartete Möglichkeit, Rassifizierung und Diskriminierung zu identifizieren wie eine Art deutscher Ersatz für race, kann die Kategorie wegen ihrer Unschärfe und Stigmatisierung nicht erfüllen. Es drängt ein Paradigmenwechsel hin zu sensibleren Erhebungsmethoden. Diese in der Zivilgesellschaft und in der Wissenschaft bereits geführte Debatte muss in den legislativen Bereich übertragen werden. Dafür bedarf es Ressourcen und der Schaffung von Diskussionsplattformen. Zudem erfordert ein Paradigmenwechsel inklusive Ansätze, die die jeweils relevanten Gruppen und Betroffenen, aktiv in den Prozess einbeziehen, statt über sie hinweg zu entscheiden: Der Paradigmenwechsel gelingt nur im Miteinander, nicht im Übereinander.
Laura Dinnebier ist Politikwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Duisburg-Essen mit dem Schwerpunkt Politische Repräsentation in pluralen Gesellschaften. In diesem Rahmen lehrt und forscht sie vorwiegend im Bereich der Integrations- und Migrationspolitikforschung und beschäftigt sich mit neuen Zugängen zur Erfassung migrationsbedingter Vielfalt.
Deniz Oğuzhan, B.A., ist wissenschaftliche Hilfskraft am Arbeitsbereich für Politische Theorie und Demokratieforschung am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig.
Hier gehts zur vollen Version vom weiterdenken 06/2024: "Migrations-wer-wie-was? Zur Notwendigkeit eines Wandels in Politik und Forschung"