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Dienstag, 22.01.19 19:15 bis Dienstag, 22.01.19 21:15 - Leverkusen

Neustart in der Pflege - Das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG)


Terminexport im ICS-Format

Bild: von FES

Rückblick auf die Diskussionsveranstaltung am 22. Januar in Leverkusen:

Das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz birgt Chancen für die Personalausstattung in der Pflege – doch es fehlt an Bewerber_innen.

Überlastete Pflegekräfte und menschenunwürdige Zustände: Dieses Bild von der Pflege herrscht in Deutschland vor. Der Pflegenotstand ist auch in der medialen Berichterstattung präsent. Das zum 1. Januar 2019 in Kraft getretene Pflegepersonal-Stärkungsgesetz, das Krankenhäusern und Pflegeheimen durch mehr Personal und bessere Finanzierung Entlastung verspricht, ist das Ergebnis langwieriger politischer Diskussion – nicht nur während der jüngsten Koalitionsverhandlungen. Krankenhausgesellschaften und die Unions-Parteien hatten massiv gegen das Gesetz lobbyiert – vergebens. Doch gehen die neuen gesetzlichen Regelungen weit genug? Bringt das Gesetz wirklich Verbesserungen? Wie ist es um den Fachkräftemangel in der Pflege bestellt?

 

Über Fragen wie diese diskutierten die Teilnehmer_innen der Diskussionsveranstaltung „Neustart in der Pflege“ im Forum Leverkusen. Neben dem SPD-Gesundheitsexperten und Bundestagsabgeordneten, Professor Dr. Karl Lauterbach, präsentierten Cornelia Fischer, Einrichtungsleiterin des Seniorenzentrums „Stadt Leverkusen“ der Arbeiterwohlfahrt (AWO), Grit Genster, Bereichsleiterin Gesundheitspolitik der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, und Boris Velter, Bundesvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Gesundheitswesen (ASG) ihre Einschätzungen zu den aktuellen und zukünftigen Entwicklungen. Während des von der Redakteurin Lisa von Prondzinski moderierten Abends wurde deutlich: Im Bereich der Pflege liegt vieles im Argen, Personal fehlt massiv. Doch das neue Pflegepersonal-Stärkungsgesetz sei ein wichtiger und richtiger Schritt, die Situation in Krankenhäusern und in Pflegeheimen zu verbessern. „Natürlich müssen noch viele weitere Schritte folgen“, sagte Lauterbach. Diese seien unter anderem nötig, um die Attraktivität von Pflegeberufen in Deutschland zu steigern. Aus seiner Sicht ist das die Grundlage dafür, junge Menschen für eine Ausbildung oder ein Studium in diesem Bereich zu begeistern.

 

Aktuelle Situation der Krankenhausversorgung in Deutschland

Zu Beginn der Veranstaltung gab SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach einen Überblick über die Kosten in der Krankenhauspflege. „Die Ausgaben steigen seit 20 Jahren. Aktuell geben wir jährlich 75 Milliarden Euro für die Krankenhausversorgung aus.“ Für die nächsten 15 Jahre rechne er mit einer weiteren Verschärfung der Situation. „Die erste große Kohorte der Baby-Boomer, die in den Jahren 1958 bis 1968 geboren ist, kommt in den nächsten 15 Jahren in das Alter chronischer Krankheiten und wird Krankheiten entwickeln, die nur im Krankenhaus behandelt werden können. Sehr stark betroffen sein werden sie von Herz-Kreislauf- und Krebs-Erkrankungen. Aus der Epidemiologie wissen wir, dass von den Baby-Boomern jeder Zweite im Laufe seines Lebens an Krebs erkranken wird“, prognostizierte Lauterbach. Für den Bereich der Krankenhausversorgung müsse dieses Wissen zu Änderungen führen – zum Beispiel durch sehr viel mehr ambulante oder kurz-stationäre Versorgung. Im Durchschnitt wird jeder vierte Deutsche aktuell einmal jährlich ins Krankenhaus eingeliefert – mit einer Aufenthaltsdauer von 7,3 Tagen. „Bei Hüft- und Kniegelenksoperationen wäre eine schnellere Mobilisierung der Patienten auch aus medizinischen Gründen sinnvoll. Operationen wie diese könnten in Zukunft mit deutlich kürzerer Verweildauer einhergehen“, erklärte Lauterbach. Durch Maßnahmen wie diese würden Krankenhäuser und Personal entlastet und hätten mehr Kapazität frei für schwerwiegendere Fälle.

 

Das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz und seine Folgen für die Pflege

Während seines Vortrags bekräftigte Lauterbach, dass es 2004 gewichtige Gründe für die Änderung der Fallpauschalen in der Gesundheitsversorgung gegeben habe. Die Vergütung von medizinischen Leistungen pro Behandlungsfall habe jedoch dazu geführt, dass rund 50 Prozent mehr Ärzte, aber zehn Prozent weniger Pflegekräfte eingestellt wurden. Auch aufgrund dieser Entwicklung sei die Einführung des neuen Pflegepersonal-Stärkungsgesetzes erfolgsversprechend. „Die Fallpauschalen werden ab 2020 um die Pflegepersonalkosten bereinigt“, machte Lauterbach deutlich. Dadurch werde die Pflege aus der Ökonomisierung des Gesundheitssystems und dem Wettbewerb um Kostensenkung herausgelöst. Darüber hinaus bekommen Krankenhäuser in Zukunft neues Personal zu 100 Prozent von den Kostenträgern bezahlt. Gleiches gilt auch für Tarifsteigerungen. Im Bereich der Altenpflege werden durch das neue Gesetz 13.000 zusätzliche Stellen in Pflegeheimen von den Krankenkassen finanziert – ohne die Pflegebedürftigen zu belasten.

 

Höhere Personalausstattung

In Sachen Arbeitsbelastung des Pflegepersonals sehe es Lauterbach nach in den deutschen Krankenhäusern aktuell so aus, dass diese besonders in großen Krankenhäusern hoch sei. „Der Druck ist in privaten Krankenhäusern tendenziell höher als in den Krankenhäusern in freier oder gemeinnütziger Trägerschaft. Im Ländervergleich versorgt eine Pflegekraft in Deutschland rund 50 Prozent mehr Fälle als eine Pflegekraft in Norwegen oder der Schweiz.“ Das sei fatal, denn eine bessere Ausstattung beim Pflegepersonal wirke sich signifikant auf die Sterblichkeitsrate aus. „Wir haben zu wenig Pflegekräfte, um eine gute Pflege zu erreichen. Bis 2045 oder 2050 werden wir einen Mehrbedarf von rund 50 Prozent haben. Um dann eine optimale Pflege zu erreichen, benötigen wir 500.000 Pflegekräfte mehr.“ Solle die Pflege auf dem aktuellen Niveau gehalten werden, fehlten bis zu diesem Zeitraum immerhin noch 250.000 neue Pflegekräfte. In der Altenpflege gebe es einen ganz ähnlichen Bedarf. „Dort haben wir es mit einer deutlichen Zunahme der Demenzerkrankungen zu tun“, sagte Lauterbach und forderte flächendeckende Tarifverträge für die Beschäftigten der Pflege. „Ansonsten bleibt uns nur die amerikanische Lösung. In den Vereinigten Staaten wird massiv auf Assistenzkräfte zurückgegriffen, da genügend qualifizierte Fachkräfte fehlen. Schaffen wir es, mehr Fachkräfte auszubilden, können wir darauf verzichten.“

 

Streitpunkt generalistische Ausbildung in der Pflege

Während der anschließenden Podiumsdiskussion bezeichnete Boris Velter von der ASG die Änderung bei den Fallpauschalen als fundamentalsten Punkt der Koalitions-Verhandlungen. „Das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz ist ein mutiger, richtiger Schritt. Es ist bahnbrechend und wichtig“, sagte er. Grit Genster von ver.di pflichtete ihm bei: „Noch wichtiger jedoch als zusätzliche Stellen sind flächendeckende Tarifverträge.“ Sie warnte vor Kannibalisierungseffekten, wenn es keine einheitliche Bezahlung in Pflegeberufen und in den verschiedenen Einrichtungen gebe. „Es darf nicht passieren, dass in Zukunft Kräfte aus der Alten- in die Krankenpflege abwandern.“ Für Cornelia Fiedler vom AWO-Seniorenzentrum „Stadt Leverkusen“ bestehe diese Gefahr durchaus. „Ich finde, dass die Altenpflege im Gesetz stiefmütterlich behandelt wurde. Es ist mein täglicher Kampf, Fachkräfte zu finden.“ Durch das Gesetz könne sie zwar zwei weitere Stellen finanziert bekommen, jedoch fehle es massiv an Bewerber_innen. Aus ihrer Sicht wirke sich das schlechte Image der Pflege auch im Bereich der Personalsuche aus. „Wir haben derzeit nur acht unserer zwölf Ausbildungsstellen besetzt. Immer wieder steigen Auszubildende vor dem Abschluss aus, weil ihnen die berufliche Belastung zu groß wird“, berichtete die Einrichtungsleiterin aus ihrer Berufspraxis. Die geplante generalistische Ausbildung in der Kranken-, Kinderkranken- und Altenpflege wirke sich ihrer Meinung nach zusätzlich negativ für den Bereich der Altenpflege aus. „Die in der Altenpflege im Vergleich schlechtere Bezahlung sorgt dafür, dass wir gute Leute an die Krankenpflege verlieren“, zeigte sie sich überzeugt. Genster machte auf den Wert einer qualitativ hochwertigen Ausbildung aufmerksam: „Aktuell erhalten 28 Prozent der Auszubildenden in Pflegeberufen keinen Abschluss, weil sie die Prüfung nicht schaffen oder früher aussteigen. Viele Berufseinsteiger_innen werden abgeschreckt von zu wenig fachlicher, systematischer Anleitung und von der beruflichen Wirklichkeit, die sie während ihrer Ausbildung erleben.“ Handlungsbedarf sehe sie beim Gesetzgeber. Die Personalbemessung müsse sich am tatsächlichen Bedarf orientieren. Personaluntergrenzen zu definieren, würde nicht ausreichen.

 

Finanzierungsproblem in der Altenpflege

Für den Bereich der Altenpflege machte Velter auf ein grundsätzliches Finanzierungsproblem aufmerksam. „Wir brauchen so etwas wie eine Bürgerversicherung“, sagte er. Denn Gehaltssteigerungen im Pflegebereich dürften nicht auf die Pflegebedürftigen umgelegt werden. „Sonst haben wir bald nicht mehr 80 Prozent, sondern 100 Prozent der Pflegebedürftigen in der Sozialhilfe.“ Das sei sozialpolitisch ein großes Problem.

 

Höhere Gehälter in Leasing-Arbeitsverhältnissen

Wie auch in vielen anderen Berufen, entwickelt sich auch im Bereich der Pflege die Zahl der Soloselbständigen stark nach oben. In den Vereinigten Staaten sei es durchaus gängige Praxis, dass sich vor allem private, finanziell gut ausgestattete Krankenhäuser gute Pflegekräfte – je nach Bedarf – einkauften. „Diese Krankenhäuser werben den anderen Einrichtungen Personal ab.“ Dort, wo dann Personal fehle, müssten Operationen verschoben werden, was wiederum zu geringeren Einnahmen führe. Diese Situation zeichne sich auch in Deutschland ab, wo immer mehr Pflegekräfte ihre festen Stellen reduzierten, um mit dem restlichen Zeitbudget von Leihfirmen für Dienste eingeteilt zu werden. „In der Intensivpflege wird Leihbeschäftigten teilweise viermal so viel bezahlt wie den Stammkräften. Pflege ist Beziehungsarbeit. Wenn immer mehr auf Leiharbeit gesetzt wird, schadet das letztlich auch der Versorgungsqualität“, sagte Genster. Die ver.di-Vertreterin forderte, die Arbeitsbedingungen für Stammkräfte zu attraktivieren. Grundlage dafür sei aus ihrer Sicht, dass sich weiterhin mehr und mehr Pflegekräfte gewerkschaftlich organisierten. „Dort, wo sich besonders viele Arbeitnehmer_innen gewerkschaftlich organisieren, gelingen die besten Tarifabschlüsse.“

 

Plädoyer für die Bürgerversicherung bzw. Pflege-Bürgerversicherung

„Wir geben im internationalen Vergleich mit den anderen europäischen Ländern und den USA – für die Alten- und die Krankenpflege – unterproportional viel Geld aus“, erklärte Karl Lauterbach. Moderatorin Lisa von Prondzinski fragte: „Sind die Pflegebedürftigen denn nicht bereit mehr zu zahlen, wenn sie wüssten, dass das Geld auch in der Pflege ankommt?“ Doch die eigentliche Frage sei Lauterbach zufolge viel eher, ob die Pflegebedürftigen denn überhaupt mehr bezahlen sollten. „Wie kann ich vermitteln, einzelne Bürger_innen mehr zu belasten, wenn ich andere gesellschaftliche Gruppen komplett außen vor lasse. Ich bin zum Beispiel selbst Beamter. Mein Pflegebeitragssatz ist viel geringer als wenn ich gesetzlich versichert wäre. Wenn ich diese Privilegien habe kann ich doch nicht vermitteln, dass andere mehr zahlen soll. Aus Gerechtigkeitsgründen bin ich ganz klar für die Bürgerversicherung und eine solidarische Finanzierung der Krankenversicherungs- und Pflegekosten.

 

Chance Digitalisierung

Die Zeit, in der Pflegekräfte massiv aus osteuropäischen Ländern nach Deutschland kamen, ist vorbei. „Die Anzahl der Pflegekräfte, die von den Philippinen oder aus Vietnam zu uns kommen, ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. In allen Lebensbereichen bietet die Digitalisierung Chancen – auch in der Pflege. Wenn durch die künstliche Intelligenz in Zukunft zahlreiche Dienstleistungsberufe wegfallen, könnte das eine Chance für die Pflege sein.“ Kurzfristig müssten sich Patient_innen und Pflegebedürftige jedoch erst einmal mit den erlebbaren Auswirkungen des Pflegepersonal-Stärkungsgesetzes begnügen. Denn dort, wo nun zusätzliche Stellen besetzt und Schichten personell besser ausgestattet würden, zeigten sich umgehend positive Effekte – auf Beschäftigte, Patient_innen und Pflegebedürftige. „Vielleicht erhalten wir irgendwann die Chance, zu einer wahren Bezugspflege zu kommen, bei der nicht jeden Tag ein neues Gesicht zu den Bewohner_innen kommt. Ich wünsche mir eine Situation, in der sich Pflegekräfte auch einmal zu den Patient_innen setzen und sich mit ihnen unterhalten können“, schloss Cornelia Fiedler von der AWO die Diskussion.

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Textautor: Marcus Hammes, Journalistenbüro Köln
Redakteurin und Fotos: Jeanette Rußbült, Landesbüro NRW der Friedrich-Ebert-Stiftung

 

 

Links:

Zeit-Online: Wird es bald attraktiver, in der Pflege zu arbeiten?

https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-01/pflegeausbildung-verbesserung-pflege-plaene-faq

 

Friedrich-Ebert-Stiftung

Qualität in einem sektorenübergreifenden Gesundheitswesen

http://library.fes.de/pdf-files/wiso/14885.pdf

 

Zukunft der Pflegepolitik

http://library.fes.de/pdf-files/bueros/china/13984.pdf


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