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Wie geht Iran mit der Fluchtbewegung aus Afghanistan um? David Ramin Jalilvand gibt Einblick im Interview.
Wie werden die aktuellen politischen Entwicklungen in Afghanistan von der iranischen Politik und den Medien kommentiert und eingeschätzt?
Während über die Machtübernahme der Taliban weitgehend geschwiegen wird, feiern Irans führende Politiker und staatliche Medien das vermeintliche Scheitern des Erzrivalen USA. Jenseits offizieller Rhetorik stellen die Entwicklungen im Nachbarland jedoch eine große Herausforderung für Iran dar. Denn mit dem Modus Vivendi der letzten Jahre hatte sich Teheran recht gut arrangiert. Die US-geführte Allianz in Afghanistan garantierte ein Mindestmaß an Sicherheit. Das wiederum ermöglichte es Iran, die Wirtschaftsbeziehungen mit Afghanistan und Zentralasien signifikant auszubauen.
Werden sich Iran und Afghanistan auch unter den neuen Machthabern wirtschaftlich annähern?
Nach dem Sieg der Taliban ist die Zukunft der iranisch-afghanischen Beziehungen nun offen. Teheran ist an pragmatischen Beziehungen mit den neuen Machthabern in Kabul interessiert und hat hierzu bereits länger politisches Kapital investiert. Seit Jahren unterhält Iran Kontakte mit den einst ideologisch und politisch verfeindeten Taliban und noch im Juli fand in Teheran ein hochrangiges Treffen mit Vertretern der Taliban und der Ghani-Regierung statt. Dabei liegt das iranische Augenmerk auf drei Kerninteressen: die Sicherheit afghanischer Schiiten, als deren Schutzmacht sich Iran versteht; die Sicherstellung, dass Terroristen und iranische Separatisten in Afghanistan keinen Rückzugsort finden; sowie die Aufrechterhaltung der Wirtschaftsbeziehungen.
Laut UNHCR leben bereits rund drei Millionen registrierte wie nicht registrierte afghanische Geflüchtete in Iran. Wie würden Sie die Lebensbedingungen dieser Menschen beschreiben?
Die Situation von Afghan_innen in Iran stellt sich insgesamt schwierig dar. Zwar gibt es durchaus einige positive Faktoren, aufgrund derer sich die Situation afghanischer Migrant_innen in Iran positiv von der Lage Schutzsuchender in anderen Ländern des Mittleren Ostens abhebt. Auch wenn im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung Benachteiligungen existieren, kommen als Flüchtlinge registrierte Afghan_innen in Iran etwa in den Genuss einer elementaren Schulbildung sowie einer Krankenversicherung, die eine grundlegende medizinische Versorgung abdeckt. Unter der Rohani-Regierung wurde 2020 auch ein Gesetz verabschiedet, das Kindern aus afghanisch-iranischen Ehen, bei denen die Mütter iranisch sind, die Staatsbürgerschaft ermöglicht.
Dennoch sind afghanische Geflüchtete in Iran mit vielfältigen Diskriminierungen und Barrieren konfrontiert. Nicht nur sind in der iranischen Gesellschaft offen zur Schau gestellte xenophobe Haltungen gegenüber Afghan_innen weit verbreitet. Migrant_innen aus Afghanistan haben in der Regel auch keinen gesicherten Status, sondern lediglich Aufenthaltstitel, die jährlich verlängert werden müssen und keinen Weg zu einem dauerhaften Bleiberecht vorsehen. In der Vergangenheit kam es auf dieser Grundlage immer wieder zu Abschiebungen. Teilweise werden Geflüchtete aus Afghanistan auch gewaltsam am Grenzübertritt gehindert, was wiederholt zu Todesopfern führte.
Arbeitserlaubnisse sind, sofern sie erteilt werden, ebenfalls befristet und beschränken sich grundsätzlich auf Tätigkeiten mit geringer Qualifikation. Hinzu kommt, dass afghanische Migrant_innen häufig keine Freizügigkeit genießen und sich nur in bestimmten Teilen des Landes aufhalten dürfen, was insbesondere den Zuzug in die Metropolen unterbinden soll. Auch arbeiten viele Afghan_innen, insbesondere jene, die nicht offiziell registriert sind, als Tagelöhner_innen auf dem Schwarzmarkt und sind dabei der Willkür ihrer Arbeitgeber_innen ausgesetzt.
Besonders problematisch ist die Situation afghanischer Frauen. Angesichts tradierter kultureller Praktiken wie Kinder- und Zwangsehen oder Gewalt in der Ehe fehlt afghanischen Migrantinnen in Iran hinreichender Schutz. Denn das iranische Rechtssystem, benachteiligt Frauen systematisch und die Zugangshürden sind für Afghaninnen in der Praxis sehr hoch.
Der iranische Staat wiederum nutzt die Not afghanischer Geflüchteter aktiv aus. Mit vagen Versprechungen auf ein Bleiberecht, eine iranische Staatsangehörigkeit oder die Versorgung von Familien, aber auch mit der Androhung von Abschiebungen werden Afghanen für Kampfeinsätze in Syrien rekrutiert. Hierzu schuf Iran mit den Fatemiyoun sogar eine eigene Brigade. Diese verpflichtet mutmaßlich sogar Minderjährige.
Die iranische Regierung hat schon vor einigen Monaten Pufferzonen im Grenzgebiet zu Afghanistan eingerichtet. Wie viele Menschen sind hier bereits angekommen und was erwartet die Menschen in diesen Zonen?
In Erwartung einer größeren Fluchtbewegung richtete die iranische Regierung parallel zum Abzug der Truppen der US-geführten Allianz bereits vor Monaten Auffanglager in den Provinzen Razavi-Chorasan, Süd-Chorasan, sowie Sistan und Belutschistan entlang der afghanisch-iranischen Grenze ein. Augenscheinlich haben seither tausende Afghan_innen in Iran Zuflucht gesucht, wenngleich es keine belastbaren Zahlen hierzu gibt. Die iranische Staatsführung betont, Afghan_innen würden „mit offenen Armen“ willkommen geheißen. Dabei ist allerdings unklar, was damit konkret gemeint ist. In den Auffanglagern werden die Geflüchteten zwar mit dem Nötigsten versorgt. Offen bleibt jedoch insbesondere die Frage, ob sie mittelfristig in Iran bleiben dürfen oder nach Afghanistan zurückgeführt werden. Diese Frage dürfte zu einem Politikum in den künftigen Beziehungen zwischen Iran und den Taliban werden.
Eigentlich dürften die Integrationsperspektiven für Afghan_innen in Iran doch nicht schlecht sein: Eine der in Afghanistan gesprochenen Hauptsprachen, Dari, und das in Iran gesprochene Farsi sind Dialekte derselben Sprache. Auch sind viele der aus Afghanistan Flüchtenden wie die meisten Iraner_innen Schiiten. Wie schätzen Sie vor diesem Hintergrund die Aussicht ein, dass geflohene Afghan_innen in Iran bleiben können und wollen?
Grundsätzlich könnten diese Faktoren eine erfolgreiche Integration erleichtern. Doch die Lage stellt sich komplexer dar. Nicht nur die fremdenfeindlichen Ressentiments spielen hierbei eine Rolle. Erschwerend kommt hinzu, dass Iran seit Jahren unter einer Wirtschaftskrise leidet, die jüngst durch die US-amerikanischen Sanktionen noch einmal erheblich verstärkt wurde. Immer mehr Iraner_innen sind mit teils existenziellen sozio-ökonomischen Problemen konfrontiert. Die Armutsrate hat sich beispielsweise im letzten Jahrzehnt verdoppelt. Aktuell leidet das Land zusätzlich extrem unter der Delta-Variante des Coronavirus, das die Grenzen der Belastbarkeit des iranischen Gesundheitssystems gesprengt hat. Offiziellen Angaben zufolge fallen in diesen Wochen täglich mehr als 500 Menschenleben der Pandemie zum Opfer, die Dunkelziffer dürfte sogar noch höher sein. Diese Faktoren führen dazu, dass die Bereitschaft von Bevölkerung und Politik, eine größere Zahl afghanischer Geflüchteter dauerhaft aufzunehmen und zu integrieren, eher gering ist.
Deutschland und die EU müssten jetzt die Anrainerstaaten Afghanistans unterstützen, damit aus Afghanistan Fliehende in der Region bleiben, so eine Forderung von verschiedenen Politiker_innen in Deutschland. Mit Blick auf Iran: Welche Spielräume sehen Sie für eine schnelle, effektive Unterstützung, wenn man die weiterhin bestehenden Sanktionen gegen das Land mitbedenkt?
Nicht nur aufgrund der US-amerikanischen Sanktionen, auch aus politischen Gründen scheidet eine direkte finanzielle Unterstützung des iranischen Staats aus. Dennoch teilen beide Seiten auf grundsätzlicher Ebene das Interesse, afghanische Flüchtlinge in Iran zu versorgen, ungeachtet aller übrigen Differenzen. Deutschland könnte Sachmittel bereitstellen oder den Einsatz deutscher Helfer_innen finanzieren. Allerdings ist diese Form der Unterstützung in Teheran politisch brisant und Gegenstand innenpolitischer Machtkämpfe. So musste etwa ein Team von Ärzte ohne Grenzen, das im Frühjahr 2020 anlässlich der Corona-Pandemie ins Land gereist war, unverrichteter Dinge wieder abreisen – vorgeblich, weil Iran keine Hilfe benötige. Eine dritte Option wäre, andere im Land aktive bilaterale oder multilaterale Organisationen zu unterstützen, etwa das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) oder den Norwegian Refugee Council.
Iran gilt aufgrund seines Atomprogramms, der Menschenrechtslage und seines autoritären Regimes als schwieriger Partner. Wie können Deutschland und die EU dennoch konstruktiv mit dem Land in der afghanischen Flüchtlingsfrage zusammenarbeiten?
Grundsätzlich könnten Deutschland und Europa Iran dabei unterstützen, afghanischen Migrant_innen Chancen und Perspektiven zu eröffnen. Konkret: Maßnahmen fördern, die Bildung, Gesundheitsversorgung, die Integration in den Arbeitsmarkt, gesellschaftliche Teilhabe usw. verbessern. Dafür, dass dies gelingen könnte, spricht aktuell aber nicht sehr viel. Vielmehr gibt es in der Praxis einige Barrieren. In Iran gibt es wie erwähnt politische und gesellschaftliche Vorbehalte gegenüber einer vollständigen Integration afghanischer Migrant_innen. Insbesondere aber die zunehmend angespannteren Beziehungen zwischen Europa und Iran dürften ein Hindernis sein. Der nunmehr ehemalige Präsident Rohani etwa politisierte bereits 2018, im Zusammenhangmit dem Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen, die Flüchtlingsfrage mit der Drohung, Europa mit Drogen, Geflüchteten und Terror zu überfluten. Der Spielraum, konstruktiv zusammenzukommen, hat sich in den letzten Jahren deutlich verringert.
Dr. David Jalilvand
ist Analyst und leitet die Berliner Research Consultancy Orient Matters, die sich auf die Dynamiken zwischen Geopolitik, Wirtschaft und Energie in Iran und dem Mittleren Osten spezialisiert hat.
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