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Die Corona-Pandemie hat sichtbar gemacht, dass Arbeitsmigrant_innen in vielen Fällen für die Volkswirtschaft unentbehrliche Tätigkeiten verrichten.
In einer Welt nach Covid-19 müssen Arbeitsmigrant_innen in sämtlichen Plänen für den Wiederaufbau von Volkswirtschaften berücksichtigt werden.[1] Sie verdienen die Aufmerksamkeit der Ziel- wie auch der Herkunftsländer, denn sie gehören nicht nur zu den am stärksten von den Lockdown-Maßnahmen getroffen Arbeitskräften, sondern sie sind, auch wenn sie oft als unerwünscht angesehen werden, im Hinblick auf ein besseres Wiederaufbauen („Building Back Better“) unverzichtbar. Viele Arbeitsmigrant_innen wurden zur Rückkehr in ihre Heimatländer gezwungen, konnten dieser Aufforderung jedoch nicht nachkommen, weil entweder die Grenzen geschlossen oder ihre Arbeitgeber nicht in der Lage waren, die durch Covid-19 enorm verteuerten Rückkehrflüge zu bezahlen, wie dies bei Dutzenden von Hausangestellten in Libanon der Fall war. Andere Migrant_innen wiederum kehrten in Länder zurück, die sie ursprünglich wegen der geringen Beschäftigungschancen dort verlassen hatten. Wichtig ist, wie deutlich die Pandemie gezeigt hat, dass Arbeitsmigrant_innen weltweit in den verschiedensten Wirtschaftssektoren eine ganz wesentliche Rolle spielen.
Im Durchschnitt beträgt der Anteil der Arbeitsmigrant_innen an der Gesamtzahl aller Erwerbstätigen weltweit 4,7 Prozent bzw. 164 Millionen Arbeitskräfte (ILO 2018); fast die Hälfte davon sind Frauen. Diese Arbeitskräfte sind überwiegend in Ländern mit hohem Einkommen (67,9 Prozent) oder oberem mittlerem Einkommen (18,6 Prozent) beschäftigt.
In vielen Ländern machen Arbeitsmigrant_innen einen erheblichen Teil der erwerbstätigen Bevölkerung aus. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft und Volkswirtschaft des jeweiligen Landes, und ihre Erwerbsbeteiligung ist in der Regel höher als die der einheimischen Arbeitnehmer_innen (ILO 2018).
Dennoch ist es gängige Praxis, Arbeitsmigrant_innen von Lohnzuschüssen oder anderen Sozialschutzmaßnahmen, die zur Abmilderung der wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie ergriffen wurden, auszuschließen. Der Grund dafür ist, dass sie in der Regel zeitlich befristete und häufig informelle Beschäftigungen ausüben oder im Rahmen undurchsichtiger Systeme von Unterverträgen angestellt werden.
Die Corona-Pandemie hat sichtbar gemacht, dass Arbeitsmigrant_innen in vielen Fällen unentbehrliche Tätigkeiten im Gesundheitswesen, im Bau-, Verkehrs- und Dienstleistungssektor sowie in der Landwirtschaft und der Lebensmittelverarbeitung verrichten.[2] Bei den Hausangestellten ist der Anteil weiblicher Arbeitsmigranten erheblich, sie machen 73,4 Prozent (d.h. 8,45 Millionen) aller in Haushalten tätigen Arbeitsmigrant_innen aus (ILO 2015).
Beschäftigungen, die während der Pandemie als „unentbehrlich“ beschrieben wurden, sind häufig genau diejenigen, die besonders anstrengend, prekär und schlecht bezahlt sind, die regelmäßig unbezahlte Überstunden erfordern und die deshalb von der lokalen Bevölkerung gemieden werden. Schlachthöfe und Fleischverarbeitungsbetriebe machten in Ländern wie den USA und Deutschland Schlagzeilen wegen der hohen Inzidenz von Covid-19-Fällen in ihren Arbeitsstätten, was im Falle Deutschlands dazu führte, dass die Region, in der sich der betroffene Schlachthof befand, unter Quarantäne gestellt werden musste (The Economist 2020). Gleichzeitig erfuhr die Öffentlichkeit, dass viele der betroffenen Arbeitnehmer_innen Migranten waren, die in überfüllten und infektionsgefährdeten Unterkünften wohnten. Tatsächlich führen die in diesen Sektoren vorherrschenden schwierigen Lebensbedingungen und die häufig schlechten Arbeitsbedingungen dazu, dass diese Tätigkeiten weniger attraktiv für die örtliche Bevölkerung sind, selbst wenn sich dadurch ihre Verdienstmöglichkeiten verringern. Ein typisches Beispiel ist die Landwirtschaft. Viele Industrieländer setzen in der Pflanz- und Erntezeit ausländische Saisonkräfte ein. Diesmal war es jedoch für die Bauern aufgrund der Grenzschließungen schwierig, die benötigten Arbeitskräfte zu finden. Stadtbewohner waren weder bereit noch in der Lage, diese Arbeitskräfte zu ersetzen, denn es stellte sich heraus, dass Tätigkeiten in der Landwirtschaft spezielle Qualifikationen erfordern – eine Tatsache, die bisher nicht anerkannt worden war (ILO 2020c). Um das Ziel eines besseren Wiederaufbauens („Build Back Better“) zu erreichen, braucht es einen Perspektivwechsel im Hinblick auf den sozialen Wert, der den Sektoren mit hohem Anteil von Arbeitsmigrant_innen beigemessen wird. Die Erleichterung der Anerkennung früher erworbener Kenntnisse könnte sich positiv auf die Weiterbeschäftigung aller Arbeitnehmer_innen auswirken (gleich ob es sich um einheimische oder migrantische Arbeitskräfte handelt), und die öffentlichen Arbeitsverwaltungen könnten dabei Hilfestellung leisten (ILO 2020c).
In manchen Fällen sind Arbeitsmigrant_innen in Gastländern gestrandet, ohne Zugang zu Sozialschutz zu haben. Die Pandemie hat nicht nur die Arbeitslosenzahlen in die Höhe getrieben, sondern zu verstärkter Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit gegenüber Arbeitsmigrant_innen geführt, aber auch zu Ernährungsunsicherheit, schlechteren Arbeitsbedingungen, einschließlich der Kürzung oder Nichtzahlung von Löhnen, zu beengten oder unangemessenen Lebensbedingungen, die die Einhaltung von Abständen unmöglich machen, zu Bewegungseinschränkungen sowie zu mehr Gewalt und Missbrauch, insbesondere gegenüber Hausangestellten (ILO 2020a; Begum 2020; Caraballo 2020).
Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) kam es allein im zweiten Quartal 2020 zu einem Rückgang der globalen Arbeitsstunden der Beschäftigten in der informellen Wirtschaft in einem Umfang, der dem Verlust von über 305 Millionen Vollzeitarbeitsplätzen entspricht (ILO 2020b). Dies ist für Arbeitsmigrant_innen von großer Bedeutung. Neueste Forschungen der ILO zeigen, dass fast 75 Prozent der weiblichen und 70 Prozent der männlichen Arbeitsmigranten in der informellen Wirtschaft vieler Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen tätig sind.[3]
Wenn die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung nach und nach gelockert werden, könnten sich Millionen von Arbeitsmigrant_innen zur Rückkehr in ihre Heimatländer gezwungen sehen. Diese gehören häufig zur Kategorie der Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen, in denen die Arbeitsmärkte ohnehin geschwächt sind durch hohe Arbeitslosigkeit und gravierende Störungen der Geschäftsabläufe im Gefolge der Pandemie (ILO 2020b). Hinzu kommt, dass die Familien der Arbeitsmigrant_innen wegen des Wegfalls der Rücküberweisungen, die sie bis dahin erhalten hatten, finanzielle Verluste erleiden werden.[4]
Während die Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften in den kommenden Monaten höchstwahrscheinlich zurückgehen wird, weil in vielen reichen und aufstrebenden Volkswirtschaften die Wachstumsraten sinken, wird die Arbeitsmigration nicht völlig zum Stillstand kommen, was auch nicht wünschenswert wäre. Die Schaffung menschenwürdiger und produktiver Arbeitsplätze ist eine wichtige Voraussetzung für den Wiederaufschwung in Ländern überall auf der Welt. Ganz besonders wichtig ist sie jedoch für Arbeitsmigrant_innen, damit diese bei der Verwirklichung der Versprechen der Ziele für nachhaltige Entwicklung, die in der Entwicklungsagenda 2030 enthalten sind, nicht noch weiter zurückfallen. Eine gute Steuerung der Arbeitsmigration kann hier ausschlaggebend sein.
Die Regierungen können die Chancen für ein besseres Wiederaufbauen ihrer Volkswirtschaften nutzen, indem sie auf Rechte basierende und geschlechtergerechte Rahmenbedingungen zur Steuerung der Arbeitsmigration einführen, die einen gesamtstaatlichen und gesamtgesellschaftlichen Ansatz unterstützen, wie im Globalen Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration gefordert. Wenn solche Rahmenbedingungen die Kohärenz zwischen Migrations- und Beschäftigungspolitik verbessern und den Dialog zwischen Regierungen und Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden sowie den Sozialpartnern untereinander fördern, können sie eine gerechtere Verteilung des unter Mithilfe von Arbeitsmigrantinnen und -migranten geschaffenen Wohlstands erreichen. Damit wird auch den Interessen der Herkunfts-, Transit- und Zielländer in ausgewogenerer Weise Rechnung getragen (ILO 2020d). Die Internationalen Arbeitsnormen, insbesondere die grundlegenden Rechte bei der Arbeit, sollten einen „Kompass für menschenwürdige Arbeit“ bilden, der den Kurs für zeitnahe und längerfristige Erholungsmaßnahmen vorgibt, die nicht nur dem Schutz der Arbeitsmigrant_innen, sondern auch den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts Rechnung tragen (ILO 1949a, 1949b, 1975a, 1975b, 2016, 2020d, 2020e). Gleichzeitig ist es unerlässlich, dass alle Arbeitnehmer_innen, unabhängig von ihrem vertraglichen Status oder ihrer Staatsangehörigkeit, einen angemessenen Arbeits- und Sozialschutz erhalten. Dies ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, den Missbrauch bestimmter Arbeitsregelungen zu verhindern, Sozialdumping und unlauteren Wettbewerb zwischen Unternehmen zu vermeiden und gleichzeitig der Diskriminierung von Arbeitsmigrant_innen vorzubeugen.
Wenn Regierungen Strategien für den Aufbau stärkerer und widerstandsfähiger Volkswirtschaften planen, sollten bestimmte Bereiche besondere Aufmerksamkeit erhalten.
Bekämpfung betrügerischer und missbräuchlicher Praktiken bei der Anwerbung von Arbeitsmigrant_innen durch die Umsetzung der Standards und Leitlinien der ILO für faire Anwerbung, um so die von Arbeitsmigrant_innen zu zahlenden Gebühren und Kosten zu beseitigen und zur Verhinderung von Zwangsarbeit und Menschenhandel beizutragen.
Flankierung der politischen Maßnahmen durch mehr Informationen, gestützt auf eine robustere Erhebung, Weitergabe und Analyse von Daten.
Sicherstellung der stärkeren Einbeziehung von Arbeitsmigrant_innen in die Sozialschutzsysteme (ILO 2019).
Einführung von Programmen zur Weiterentwicklung der Qualifikationen von Arbeitsmigrant_innen auf allen Qualifikationsstufen, zur Eröffnung des Zugangs zu Systemen für die Anerkennung von Qualifikationen sowie zur Stärkung der Arbeitsmarktinstitutionen und des sozialen Dialogs.
Heranziehung bilateraler und multilateraler Zusammenarbeit, einschließlich bilateraler Arbeitsmigrationsabkommen, um menschenwürdige Arbeit im Rahmen von Migrationskorridoren zu fördern und Migrant_innen, die ihre Arbeitsplätze verloren haben, wirtschaftlich zu unterstützen, unter anderem durch Hilfe bei der Vorbereitung auf den Wiedereinstieg in die Arbeitsmärkte der Heimatländer. Die ILO und die Internationale Organisation für Migration (IOM) haben sich an die Spitze der Bemühungen des Migrationsnetzwerks der Vereinten Nationen gestellt, für das gesamte VN-System geltende Leitlinien für bilaterale Arbeitsmigrationsabkommen zu verabschieden, die zur Förderung einer solchen Zusammenarbeit beitragen können.
Erleichterung nachhaltiger und erfolgreicher Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Dabei sollten die Qualifikationen, Talente, das Wissen und das Kapital anerkannt werden, die Arbeitsmigrant_innen mit Blick auf den Wiederaufbau nach der Pandemie in die Volkswirtschaften ihrer Heimatländer einbringen können.
Am allerwichtigsten ist jedoch, dass Arbeitsmigration Teil eines viel breiter angelegten Denkprozesses in Bezug auf Industrie, Bildung, Arbeitsmarkt, Besteuerung und Wohlfahrt werden muss. Arbeitsmigrant_innen sind ein grundlegender Bestandteil der Weltwirtschaft; sie übernehmen in verschiedenen Sektoren unentbehrliche Aufgaben und sollten daher genauso wie die einheimischen Arbeitnehmer_innen in den Genuss allfälliger Lohnerhöhungen und sonstiger Verbesserungen kommen. --- [1] Dieser Artikel basiert auf verschiedenen Berichten der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die im Verlauf der Corona-Pandemie veröffentlicht wurden. Besonderer Dank gilt Michelle Leighton und Christiane Kuptsch für ihre Beiträge.
[2] Nach Schätzungen der ILO verrichten 11,5 Millionen Arbeitsmigrant_innen Hausarbeit, häufig im Bereich der häuslichen Pflege (ILO 2018).
[3] Daten über informelle Arbeitsmigrant_innen aus Ländern, in denen entsprechende Daten verfügbar sind (Amo-Agyei 2020).
[4] Schätzungen der Weltbank gehen von 689 Milliarden US-Dollar im Jahr 2018 aus (World Bank 2019).
Manuela Tomei
ist Direktorin der Hauptabteilung Arbeitsbedingungen und Gleichstellung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO).Dieser Artikel erschien im 2020 als Teil der Publikation "Building Back Better: A Call for Courage". Die vollständige Publikation (verfügbar in Englisch, Spanisch und Französisch) sowie die Podcast-Serie, in der die Autor_innen ihre Beiträge diskutieren, befindet sich unter: https://geneva.fes.de/e/new-publication-and-podcast-series-building-back-better-a-call-for-courage-1
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