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Warum Wissenschaftlerinnen mit Kindern in Zeiten von Corona keinen Kopf für ihre Forschung haben. Ein Beitrag von Alena Sander & Claire Grauer.
Bild: tired von Andrea Piacquadio / pexels lizenziert unter CC0
Sobald eine Wissenschaftlerin ein Kind in die Welt setzt, fällt ihre Anzahl an Publikationen hinter ihren männlichen Kollegen zurück. Diese Tendenz scheint sich nun infolge der Covid-19-Pandemie verschärft zu haben.
Veröffentlichungen entscheiden über Karrieren in der Wissenschaft, verlaufen sie doch getreu dem Motto „Publish or Perish“: Veröffentliche oder gehe unter. Die Anzahl der Veröffentlichungen in Fachzeitschriften ist daher ein zentraler Faktor für den Verlauf jeder wissenschaftlichen Karriere.
Bereits vor Covid-19 publizierten Mütter weniger als Väter in vergleichbaren wissenschaftlichen Positionen. Ein Grund dafür sind traditionelle Geschlechterrollen hinsichtlich der Zuständigkeit für familiäre Sorgearbeit. Im Alltag bedeutet dies, dass die Professorin durchschnittlich mehr Zeit mit Sorgearbeit als ihr Partner verbringt und Frau Dr. mit ihrem Sohn die Sandkiste erforscht, während ihr Kollege Überstunden im Labor macht.
Wie viele Frauen und insbesondere Mütter weltweit, sind im Zuge der Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie auch die Wissenschaftlerinnen unter ihnen weit stärker als zuvor in die familiäre Sorgearbeit eingebunden. Dies wirkt sich, gemessen an der Anzahl der Publikationen, negativ auf ihre wissenschaftliche Tätigkeit aus: So haben Mütter in den Monaten März und April 2020 tendenziell weniger Beiträge zur Veröffentlichung in internationalen wissenschaftlichen Fachzeitschriften eingereicht als in den Jahren zuvor – Männer dagegen bis zu 25 Prozent mehr.
Wurde in den vergangenen Monaten über unbezahlte Sorgearbeit im Kontext von Covid-19 diskutiert, stand dabei der sichtbare, körperliche Teil dieser Arbeit im Fokus: Betreuung von Kleinkindern und Homeschooling für Schulkinder, vermehrt anfallende Hausarbeit oder auch Pflege von Angehörigen. Weit weniger wurde die sogenannte unsichtbare Sorgearbeit thematisiert, auch bekannt als kognitive Arbeit oder Mental Load.
Unter Mental Load verstehen wir die Antizipation von Bedürfnissen, das Treffen von Entscheidungen und die Überwachung der Familienlogistik. Anders gesagt: das “Projektmanagement” von Haushalt und Familie, welches zum Großteil auf den Schultern von Müttern lastet und wesentlich zu geistiger Ermüdung und erhöhtem Stress beiträgt. Der Mental Load, vermuten wir, ist neben der körperlichen Sorgearbeit ein gewichtiger Grund dafür, dass Wissenschaftlerinnen während der vergangenen Monate weniger sichtbaren Output in Form von Veröffentlichungen produzieren konnten als ihre männlichen Kollegen.
Um diese Vermutung zu überprüfen, haben wir haben mit 24 Müttern aus sieben europäischen Ländern über ihren Alltag während der vergangenen Monate gesprochen. Alle arbeiten derzeit als Wissenschaftlerinnen und haben Kinder im Kita- und Grundschulalter. Welche Arten der Sorgearbeit übernehmen sie im Pandemie-Alltag zwischen Familie und Forschung? Und welche Herausforderungen ergeben sich daraus für ihre wissenschaftliche Arbeit?
Kitas und Schulen geschlossen, die Großeltern gehören zur Risikogruppe – wer kümmert sich um die Kinder? Die Mütter. Wissenschaftlerinnen bilden da keine Ausnahme, im Gegenteil: Viele unserer Gesprächspartnerinnen gaben als gewichtigen Grund ihre flexiblen Arbeitszeiten an.
Die zeitliche Flexibilität von Forschungsarbeit war auch schon vor Covid-19 einer der Gründe, warum Wissenschaftlerinnen zu Hause oft mehr Sorgearbeit übernahmen als ihre nicht in der Wissenschaft tätigen Partner. Mit Corona wurde diese seit Mitte März nochmal deutlich umfangreicher, weshalb insbesondere in der Wissenschaft tätige Mütter sich verpflichtet fühlen, den Hauptteil der häuslichen Care-Arbeit zu leisten. Mit dieser Hauptzuständigkeit hat sich jedoch gleichzeitig die Forschungszeit erheblich reduziert und obendrein auf die Randzeiten des Tages oder stundenweise zwischendurch beschränkt.
Diese zeitliche Flexibilität hätten ihre Partner nicht gehabt, erzählten viele Forscherinnen. Die Arbeitgeber_innen ihrer Partner erwarteten, dass sie auch im Homeoffice ihre Arbeitszeiten unverkürzt ableisten.
Für produktive Forschungsarbeit oder gar in Veröffentlichungen sichtbare Forschungsergebnisse sind das sehr hinderliche Arbeitsbedingungen. In Ruhe und konzentriert über längere Zeiträume arbeiten zu können, sind grundlegende Voraussetzungen für das Schreiben einer wissenschaftlichen Publikation. Dazu stellvertretend eine Wissenschaftlerin aus Großbritannien:
Wenn ich mich abends nach zwölf Stunden Kinderbetreuung und Home Schooling an meinen Laptop setze, bin ich fast immer schon zu müde, um auch nur einen Blick in meine Forschung zu werfen. Ich hake dann lieber kleine To-Dos von meiner Liste ab und schreibe zum Beispiel Emails. Meine Forschung liegt daher seit Beginn der Krise auf Eis.
Ein weiterer Grund für die Care-Hauptzuständigkeit der Wissenschaftlerinnen: Sie verdienen meist weniger als ihre männlichen Partner, und ihre Arbeit wird oft eher als Zweitstudium denn als „echte“ bezahlte Berufstätigkeit wahrgenommen. Eine Doktorandin aus Frankreich berichtet:
Mein Freund verdient um einiges mehr als ich. Wenn er weniger verdient, kommen wir in echte Schwierigkeiten. Deswegen war klar, dass ich einen Großteil der Kinderbetreuung übernehmen würde, als die Grundschule unserer Tochter im März schloss.
Auch wenn die Partner bzw. Väter mitziehen – nicht immer spielen die Kinder bei den Arrangements der Eltern mit, wie eine Professorin aus Schottland berichtet:
Für meine Kinder bin ich fast immer die erste Ansprechperson, wenn es Probleme gibt. Obwohl mein Mann sich bemüht, platzen die zwei immer wieder ins Arbeitszimmer. Unter solchen Bedingungen ist es schwer, sich auf komplexe Gedankengänge zu konzentrieren – doch genau das ist Wissenschaft.
Ganz besonders schwierig ist die Lage alleinerziehender Wissenschaftlerinnen sowie jener, die einer Risikogruppe in Bezug auf Covid-19 angehören. Beides gleichzeitig erlebt eine Forscherin aus Belgien:
Mein Ex-Mann arbeitet in einem sogenannten systemrelevanten Beruf. Da ich schweres Asthma und Angst habe, mich bei ihm anzustecken, hat er seine Kinder seit mehreren Wochen nicht sehen und somit auch nicht betreuen können. Mir und den Kindern fällt derweil die Decke auf den Kopf - forschungstechnisch komme ich zu nichts mehr.
Kognitive Sorgearbeit als Dauerbelastung – unsichtbar und gleichzeitig immer da
Nicht alle unserer Gesprächspartnerinnen erleben ein starkes Ungleichgewicht bezogen auf die Aufteilung der häuslichen Sorgearbeit. Dennoch berichten selbst diejenigen, die sich die häusliche Sorgearbeit in etwa ausgeglichen mit dem Partner teilen, dass es für sie oft unmöglich ist, in Ruhe und konzentriert über längere Zeiträume arbeiten zu können. Woran liegt das?
In den vergangenen Monaten hat nicht nur der sichtbare Teil der Sorgearbeit zugenommen, sondern - damit einhergehend - auch der unsichtbare. Aktuell müssen Kinder von zu Hause unterrichtet und mehrere Mahlzeiten pro Tag geplant werden. Einkäufe erfordern nahezu strategische Vorbereitung. Hinzu kommen Urlaube, die umgeplant, Arztbesuche, die verschoben, und Kindergeburtstage, die an die Kontaktbeschränkungen angepasst werden müssen. Im Familienleben, in dem alle rund um die Uhr zu Hause sind, entsteht viel Frust, der ausgehalten und begleitet werden muss.
Unsere Gesprächspartnerinnen gaben zudem an, sich in den letzten Monaten mehr Sorgen gemacht zu machen als zuvor: um die Kinder oder um unmittelbare Angehörige wie die (oft weit entfernt lebenden) Eltern, um die eigene berufliche Zukunft oder um die allgemeine Weltlage während der Krise. Eine Forscherin aus Schweden dazu:
Ich stehe im Mittelpunkt der Familie und bin dafür zuständig, dass sich alle sowohl körperlich als auch mental wohlfühlen. Selbst mein Mann zählt dabei auf mich.
All dies verursacht eine zehrende emotionale Arbeit, die nach außen hin meist unsichtbar bleibt. Für die Betroffenen bedeutet sie jedoch oft einen erheblichen Verlust an der insbesondere für Forschungsarbeit notwendigen Konzentration und an den unabdinglichen kognitiven Fähigkeiten – einmal mehr, wenn die Wissenschaftlerin erst am Ende des Tages ihren Laptop aufklappen kann.
In unseren Gesprächen zeigte sich sehr deutlich, dass vor allem Mütter diese nie endende andauernde unsichtbare Sorgearbeit leisten. Eine Professorin aus Belgien sagt:
Ich muss zurzeit an so viele Dinge mehr denken, dass ich, selbst wenn ich endlich einmal vor meinem Computer im Arbeitszimmer sitze, einige Zeit brauche, um zur Ruhe zu kommen.
Viele Frauen beschreiben sich als “Nachrichtenzentrale”: Oft sind sie diejenigen im Haushalt, die aktuelle Meldungen zu Covid-19 verfolgen, geltende Regeln kennen und weitergeben. Dazu eine britische Wissenschaftlerin:
Wenn es um Corona geht bin ich die Informationsquelle Nummer eins in der Familie.
Die emotionale Sorgearbeit, die Wissenschaftlerinnen in ihren Familien leisten, endet jedoch nicht in den eigenen vier Wänden. Viele berichteten uns, dass auch ihre Studierenden aktuell mehr Beistand und Unterstützung brauchten denn je. Eine Professorin aus Deutschland sagt dazu:
Ich gebe mir sehr viel Mühe mit meinen Lehrveranstaltungen. Ich möchte nicht, dass meine Studierenden unter der aktuellen Situation leiden. Für sie ist es auch sehr schwer.
Eine Doktorandin aus Belgien erzählt, wie sie lange Gespräche mit der Leiterin der Kita ihres Kindes führte, da die Einrichtung aufgrund der Krise in finanzielle Schwierigkeiten geraten ist. Die viele Zeit, die sie mit Zuhören und Aufmuntern verbracht hätte “schlaucht mich selbst auch”, sagt sie, und oft denke sie auch in ihrer Arbeitszeit darüber nach.
Summa summarum: Die Coronakrise verstärkt bestehende Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern: Wissenschaftlerinnen mit Kindern übernehmen in Zeiten von Covid-19 im Vergleich zu Wissenschaftlern mit Kindern nicht nur das Gros der deutlich angestiegenen sichtbaren, körperlichen Sorgearbeit, sondern auch das der unsichtbaren, kognitiven Sorgearbeit. All dies führt dazu, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes nicht den “Kopf frei“ haben, um zu forschen und an ihren Publikationen zu arbeiten. Dies wiederum verursacht bei vielen Ermüdung und Stress sowie Frustration und Unsicherheit mit Blick auf die wissenschaftliche Karriere. Nach über drei Monaten Ausnahmezustand plagt viele Wissenschaftlerinnen obendrein ihr schlechtes Gewissen. Beispielhaft berichtet eine Irin:
Ich fühle mich ständig schuldig, gegenüber meiner Uni und gegenüber meiner Familie, denn zurzeit werde ich wirklich niemandem auch nur ansatzweise gerecht.
Damit Wissenschaftlerinnen mit Kindern trotz Pandemie und Ausnahmezustand keine Nachteile hinsichtlich ihrer weiteren Karrieren haben, muss sich langfristig das System ändern, in dem Beförderungen und Anstellungen auf Anzahl der Publikationen basierend vergeben werden. Schon vor Covid-10 sanktionierte es insbesondere Frauen mit Kindern und führt nach wie vor dazu, dass eine Vielzahl begabter und kreativer Forscherinnen der Wissenschaft vorzeitig den Rücken kehren.
Aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung im akademischen Arbeitsumfeld haben unsere Gesprächsteilnehmerinnen hinsichtlich der notwendigen Systemänderungen viele konstruktive Vorschläge:
Zudem forderten viele unserer Gesprächspartnerinnen von ihren akademischen Arbeitgeber_innen, gemeinsam mit Fördereinrichtungen konkrete und angemessene Lösungen für die durch die Betreuungskrise bedingten Produktivitätsverluste zu erarbeiten. Diese sollten insbesondere auf Wissenschaftlerinnen mit Kindern und anderen mit Pflegetätigkeiten Betrauten abzielen, um sicher zu stellen, dass die von ihnen geleistete Sorgearbeit ihren Karrieren nicht schadet.
Fast alle Forscherinnen, mit denen wir gesprochen haben, sehen nicht nur die Universitäten in der Pflicht. Auch die Politik muss dazu beitragen, dass Sorgearbeit im Allgemeinen aufgewertet wird – zum Beispiel über verlängerte, flexiblere und besser bezahlte Elternzeitenmodelle, die die Väter stärker in die Pflicht nehmen oder die größere Anreize für Väter schaffen, Auszeiten zu nehmen. Das wäre eine Maßnahme, um längerfristig und gesamtgesellschaftlich auch die unsichtbare Sorgearbeit gleichberechtigter zwischen Partner_innen zu verteilen.
Dass dies eine Lösung sein kann, zeigen die Ergebnisse unserer Befragung: Alle Forscherinnen, die angaben, sich trotz Krise relativ ausgeglichen zu fühlen und mit ihrer Forschung voranzukommen, berichteten auch, dass ihre Partner aktuell in Teilzeit arbeiteten (wie im Fall einer deutschen und einer britischen Wissenschaftlerin) oder in Elternzeit seien (wie in zwei Fällen von Wissenschaftlerinnen aus Schweden).
Autorinnen:
Alena Sander ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Zentrum für Entwicklungsstudien der Universität Louvain (Belgien) und Mutter eines zweijährigen Sohnes. Wenn sie nicht gerade ihren Sohn betreut, erforscht sie Machtbeziehungen und Widerstände im Rahmen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit.
Claire Grauer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Fakultät Nachhaltigkeit der Leuphana Universität Lüneburg und Mutter zweier Kinder (3 und 6 Jahre). In ihrer Forschungstätigkeit befasst sie sich mit dem Zusammenhang zwischen Zeitgestaltungskompetenz und nachhaltigem Konsum im Kontext von Bildung für nachhaltige Entwicklung.
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