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Nach Corona muss die systemrelevante Care-Arbeit endlich als fundamentaler Bestandteil unseres Wirtschaftssystems gelten. Ein Beitrag von Prof. Dr. Uta Meier-Gräwe.
Bild: Euro von Carlos Pernalete Tua / pexels lizenziert unter CC0
Es war ein Paukenschlag, als die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB), Jutta Allmendinger, am 3.05.2020 bei Anne Will den Satz formulierte, dass die Frauen nach Corona „eine entsetzliche Retraditionalisierung erfahren werden und wir frauenpolitisch drei Jahrzehnte verlieren.“ Per Video-Zuschalte versuchte der Bayerische Ministerpräsident Markus Söder zwar zu beschwichtigen, wir sollten nicht in die alten Rituale verfallen und unsere Erfolge bei der Corona-Krisenbewältigung schon wieder klein reden. Dennoch hallte der Satz lange nach. Und das zu Recht!
Eine der Berufsgruppen, die plötzlich als systemrelevant wahrgenommen wird, sind die Beschäftigten in der Altenpflege. Es handelt sich mehrheitlich um Frauen, die in Westdeutschland einen Bruttodurchschnittslohn für Vollzeit von 2.870 Euro beziehen, Altenpflegehelferinnen müssen sich sogar mit 2.040 Euro begnügen. Das sind sage und schreibe 40 Prozent weniger als der Durchschnittsverdienst aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland. Man kann es sich nicht schönreden: Frauen stecken in Deutschland größtenteils in Berufen mit einem eingebauten Verarmungsrisiko. Dieser und auch andere anspruchsvolle Sorgeberufe erfahren seit Jahren eine viel zu geringe Bewertung und Bezahlung gegenüber gleichwertigen „Männerberufen“ bei extrem hoher Arbeitsintensität.
So verdient die männlich dominierte Berufsgruppe im Bereich der IT-Dienstleistungen im Stundendurchschnitt knapp 17 Europro Stundemehr als Fachkräfte in Pflege und Gesundheit trotz eines vergleichbaren Ausmaßes an Arbeitsanforderungen und -belastungen. Das belegen arbeitswissenschaftliche Studien von der Uni Essen-Duisburg. Auch der Vergleich der Löhne mit einer ausgebildeten Fachkraft in der Automobilbranche zeigt, dass trotz eines vergleichbar hohen Anforderungsniveaus dort fast doppelt so viel verdient wird wie in den Gesundheits- und Pflegeberufen. Da es sich hier um ein Berufssegment handelt, in dem größtenteils Frauen tätig sind, die in ihrem Alltag auch noch die Hauptlast der privaten Sorgearbeit schultern müssen, arbeiten etwa zwei Drittel der Beschäftigten in der ambulanten und stationären Pflege in Teilzeit. Wer wundert sich da eigentlich noch über weibliche Altersarmut?
Weitere Gründe für die „Flucht in die Teilzeit“ sind in den fatalen Arbeitsbedingungen, permanentem Zeitdruck und der notorischen Unterbesetzung von Personalstellen zu suchen. Gute Bedingungen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie? In diesem Berufsfeld sieht es damit noch viel schlechter aus als in anderen Branchen. Im BKK Gesundheitsatlas 2017 wurden Häufigkeit und Dauer von Krankschreibungen der Beschäftigten im Gesundheitswesen analysiert. Das Ergebnis: Das Erkrankungsgeschehen in Pflegeberufen sei „besorgniserregend“. Nicht einmal die Hälfte aller Altenhilfeeinrichtungen hat eine betriebliche Gesundheitsförderung für ihre Mitarbeiter_innen eingerichtet.
Woran das liegt? Seit Jahren wird in diesem Berufsfeld auf Privatisierung und Deregulierung gesetzt. Der Anteil privater Träger in der ambulanten Pflege betrug 2017 bereits 66 Prozent, der Anteil privater Pflegeheime stieg auf 43 Prozent. Dort müssen Renditen erwirtschaftet und deshalb Personal und Sachmittel eingespart werden. Freigemeinnützige Träger und kommunale Anbieter sind Verlierer dieser Entwicklung. Der Bundesärztekammerpräsident Klaus Reinhardt hat für die Zeit nach Corona ein neues Finanzierungsmodell für Krankenhäuser in Deutschland gefordert: „Kliniken sind Einrichtungen der Daseinsfürsorge und keine Industriebetriebe. Krankenhäuser müssen dem Patient_innen dienen, nicht dem Profit.“ Das gilt selbstverständlich auch für Pflegeeinrichtungen und andere Dienstleistungsbetriebe personaler Versorgung. Die dort Beschäftigten einschließlich der hauswirtschaftlichen Dienstleister_innen, die seit Corona allesamt einem erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt sind, müssen in Zukunft von ihrem Einkommen leben können; ihre Arbeit ist systemrelevant.
Doch welche Rolle spielen diese Tatsachen beim Nachdenken über eine Neuausrichtung der Wirtschaft und Konjunkturförderprogramme nach Corona? Offensichtlich keine. Bisher jedenfalls wird primär über Autokaufprämien, Zulieferbetriebe oder über die Zukunft der Lufthansa debattiert. Dagegen ist zum Beispiel überhaupt nicht mehr die Rede von der schon im aktuellen Koalitionsvertrag der Bundesregierung vereinbarten Einführung von subventionierten Gutscheinen, die berufstätige Eltern und ältere Menschen für haushaltsnahe Dienstleistungen in Anspruch nehmen können, um ihren Alltag gut bewältigen und möglichst lang eine selbständige Lebensführung im vertrauten Wohnumfeld beibehalten zu können. Das würde zugleich eine geeignete Markteinführungshilfe sein, um der verbreiteten Schwarzarbeit in diesem Bereich entgegenzuwirken. Unser Nachbarland Belgien macht es seit 2004 vor.
Wenn Wirtschaftsminister Peter Altmaier über die Zukunft nach Corona laut nachdenkt, hat er fast ausschließlich die Industrie im Auge. Wirtschaft umfasst aber eben viel mehr. Carearbeit – unbezahlt und (unter-)bezahlt – ist das Fundament der deutschen Volkswirtschaft. Das allerdings wird von maßgeblichen Entscheidungsträger_innen so bisher immer noch nicht gesehen. Wie ist es sonst zu erklären, dass trotz der einschneidenden Erfahrungen, die wir in der Corona-Pandemie alle gerade machen, über den Care-Sektor als Wirtschaftsfaktor schon jetzt gar nicht mehr verhandelt wird?
Nach Corona muss grundsätzlich Schluss sein mit diesem industriegesellschaftlichen Strukturkonservatismus! Gute Löhne dürfen sich nicht länger nur auf Jobs beschränken, deren Produktivität sich in exportierbaren Gütern bemessen lässt. Wir können nun mal Kinder nicht immer schneller erziehen oder Alte, Kranke und behinderte Menschen immer schneller pflegen, wie es die Schweizer Ökonomin Mascha Madörin schon vor Jahren formuliert hat.
Es ist absurd: obwohl alle Arbeitsmarktprognosen bis 2030 von einem weiteren Rückgang der benötigten Arbeitskräfte in den produktionsbezogenen Berufsfeldern – darunter auch in der Automobilindustrie – ausgehen und demgegenüber die Gesamtheit der Tätigkeiten in Bildung und Erziehung, in den Gesundheits- und Sozialberufen und in der Körperpflege in 10 Jahren den mit Abstand größten (!) Beschäftigungssektor darstellen werden, ist eine grundsätzliche Neubewertung und Aufwertung dieser Dienstleistungsbranchen bisher nicht erfolgt. Zudem setzt Deutschland zur Behebung seiner veritablen Carekrise eher auf die Transformation von Ehrenamt in prekäre Freiwilligendienste als auf Professionalisierung. Und es ist auch keine tragfähige Strategie, sich in Zukunft weiter auf die sogenannten 24-Stunden-Indoor-Betreuungskräfte aus dem Ausland zu verlassen, die Löhne weit unter dem hierzulande üblichen Mindestlohn erhalten. Damit verbleiben wir auf dem Pfad der Billigdienstleistungsökonomie. Fortschritte in der Gleichstellungsbilanz werden wir so jedenfalls nicht erzielen.
Die Entwicklung einer tragfähigen Struktur in den Sorgeberufen muss künftig ganz selbstverständlich auch von digitalen Gewinnen mitfinanziert werden. Denn ohne Sorgearbeit funktionieren weder Industrie und Handwerk noch die vielbeschworene Digitalisierung. Zudem brauchen wir in den kommenden Jahren Zehntausende zusätzlicher Fachkräfte im Care-Bereich. Auf der anderen Seite werden viele Arbeitsplätze in bestimmten Produktionssektoren definitiv zurückgebaut. Doch wann endlich diskutieren wir über breit angelegte Berufsbildungs- und Umschulungsprogramme, um Erwachsene für den Care-Bereich zu qualifizieren und ihnen danach auch attraktive Arbeitsplätze mit guten Löhnen und Aufstiegschancen anzubieten?
Solange Frauen in relevanten Entscheidungsgremien von Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Medien derart unterrepräsentiert sind wie in Deutschland, ist leider zu befürchten, dass die einseitige Industriefixierung der Wirtschaftsbosse fortgeschrieben wird und sich die düstere Prognose der Präsidentin des WZB bewahrheiten könnte. Denn männlich dominierte Entscheidungsgremien denken Care einfach nicht mit. Der Bericht der Deutsch-Schwedischen Allbright-Stiftung (2019), die sich für mehr Frauen und Diversität in Führungspositionen und für gleiche Karrierechancen für Frauen und Männer einsetzt, hat folgenden ernüchternden Befund ermittelt: von den 160 börsennotierten Unternehmen in Deutschland haben sich 53 (darunter: Fielmann, Südzucker, Norma Group und Jenoptik) definitiv zum Ziel gesetzt, bis 2022 einen Frauenanteil von 0 Prozent im Vorstand anzustreben bzw. beizubehalten. Von einer geschlechtergerechten Gesellschaft war Deutschland also schon vor Corona Jahrzehnte entfernt. Sollten jetzt wirklich nochmal drei Jahrzehnte dazukommen?
Autorin:
Univ.-Prof.`in em. Dr. sc. oec. Uta Meier-Gräwe, Leitung des Lehrstuhls für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen (1994-2018) sowie des Kompetenzzentrums „Professionalisierung und Qualitätssicherung haushaltsnaher Dienstleistungen“ (2013-2018), Mitglied der Sachverständigenkommission zur Erstellung des Ersten und Zweiten Gleichstellungsberichts der Bundesregierung (2011-2017).
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