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Wie pflegende Angehörige die Folgen von Corona abpuffern. Ein Beitrag von Dr. Regina Frey.
Bild: man standing inside white painted room von Alex Boyd lizenziert unter CC0
Es ist inzwischen allen klar: Das Coronavirus ist ein Desaster, das weitaus mehr als eine gesundheitliche Dimension hat. Das Virus verändert den Alltag der Menschen nachhaltig. Neben den nun von Eltern in Eigenregie zu betreuenden und zu beschulenden Kindern sind es aber auch alte und kranke Menschen, um die sich in der Krise verstärkt gekümmert werden muss. Wenig medialer Augenmerk lag bisher auf der häuslichen Pflege von Angehörigen. Aber auch hier verschärft die Krise die ohnehin schon bestehenden Belastungen enorm.
Wie viele Arbeiten, die mit und für Menschen im sozialen Nahbereich getan werden müssen, ist auch Pflege eine Frauendomäne, sowohl im privaten informellen Rahmen als auch beruflich in der ambulanten Pflege und in Heimen. In Deutschland findet die Pflege vorwiegend ehrenamtlich in den Familien statt: Über Dreiviertel der Pflegebedürftigen wird zu Haus versorgt, das sind knapp 2,6 Millionen Menschen, die deutliche Mehrheit unter ihnen wird durch Angehörige gepflegt (Destatis 2018, S. 16). Das Robert Koch Institut nennt die pflegenden Angehörigen „Deutschlands größter Pflegedienst“, er besteht zu 65 Prozent aus Frauen.
Die körperlichen, psychischen und finanziellen Belastungen erwerbstätiger Pflegender sowie die unzureichenden Unterstützungsleistungen (trotz Pflegereformen) beschreibt Barbara Stiegler in einer aktuellen FES-Expertise. Mit der Pandemie geraten die ohnehin oft fragilen Pflege-Arrangements zunehmend aus den Fugen: Social Distancing ist mit der Pflege hilfsbedürftiger Menschen schlicht unmöglich, häusliche Pflege deshalb aufgrund fehlender Schutzvorkehrungen für die Pflegenden wie für die zu Pflegenden gefährlich geworden. Alte Menschen gehören zu den Hochrisikogruppen. Die Angehörigen müss(t)en ihre sozialen Kontakte einschränken, um weder die hilfsbedürftigen Menschen noch sich selbst zu gefährden. Wer erwerbstätig ist und/oder Kinder zu betreuen hat, ist in einer zusätzlichen Zwickmühle.
Obendrein bricht die professionelle Unterstützung, die häuslich Pflegende bislang in Anspruch nehmen konnten, zunehmend weg. Die Verbraucherzentrale meldet, dass in vielen Bundesländern Tages- und Nachtpflege schließen, die Pflege müsse „in der Regel zu Hause in Eigenregie übernommen werden“ – komplett, analog zur rund-um-die-Uhr-Kinderbetreuung. Auch die 24 Stunden-Pflegerinnen, die häufig aus Osteuropa für einige Monate in Privathaushalten pflegen, kümmern sich nun um ihre eigenen Familien oder können nicht mehr nach Deutschland einreisen. Auf tagesschau.de wird von einer Versorgungslücke gesprochen, es sei eine „Zitterpartie für Angehörige“. Das bedeutet, Angehörige müssen teilweise professionelle medizinische Tätigkeiten selbst verrichten oder demente Menschen rund um die Uhr betreuen. Das ist für sie selbst eine Überforderung, und kann gravierende Folgen haben.
Aber wie soll es sonst gehen? In der ambulanten Pflege (lt. Destatis über 85 Prozent Frauenanteil) gibt es Hinweise darauf, dass Pflegekräfte vermehrt selbst erkranken. Der Bayrische Rundfunk meldet, den ambulanten Pflegediensten gehe die Schutzkleidung aus – sie ist Mangelware, und Krankenhäuser haben Vorrang. Die Angst der professionell Pflegenden, Patient_innen oder sich selbst anzustecken, ist dadurch enorm.
Der Schutzkleidungsmangel wird allerorts zum Problem. Beim Thema unbezahlte und bezahlte Pflege kommen jedoch andere Mängel hinzu, die schon älter sind als Corona. Wie auch andere seit Corona zu „systemrelevanten Berufen“ aufgestiegenen Berufe, war diese schwierige Arbeit der Pfleger_innen vor dem Virus hierzulande chronisch unterbewertet: In Deutschland verdienen Fachkräfte in den Bereichen Gesundheit und Pflege laut Lena Hipp und Nadiya Kelle „weniger als die Mehrheit aller in Deutschland abhängig Beschäftigten und auch weniger als Beschäftigte mit vergleichbarem Profil und ähnlichen Arbeitszeiten in anderen Berufen.“ Die oben genannten 24-Stunden-Kräfte sind zumeist prekär und am äußersten Rande der Legalität beschäftigt.
In den privaten Haushalten müssen diese Lücken jetzt gestopft werden – egal welche weiteren Verpflichtungen, Belastungen und finanziellen Engpässe bestehen. Und da Frauen ohnehin mehr unbezahlte Care-Arbeit machen und im Schnitt auch schlechter verdienen, vergrößern sich wohl die Lücken zwischen den Geschlechtern: Frauen leisten im Schnitt eineinhalbmal mehr unbezahlte Sorgearbeit als Männer; mit dem Wegfall externer Unterstützung in Betreuung und Pflege ist damit zu rechnen, dass sich dieser „Gender Care Gap“ noch weitet. Auch die Möglichkeiten zur Erwerbsarbeit werden mit der Übernahme der Pflege eingeschränkt. Zwar können pflegende Angehörige seit 2015 bis zu sechs Monaten „Pflegezeit“ bekommen, es gibt aber in dieser Zeit weder Gehalt noch Lohnersatzleistungen. Die Seite der Verbraucherzentrale informiert darüber, dass „zur Abfederung des Verdienstausfalls (.) Beschäftigte ein zinsloses staatliches Darlehen erhalten (können)“. Aber kann Verschuldung die Perspektive für pflegende Angehörige sein?
In vielen Bereichen werden jetzt Notmaßnahmen umgesetzt: Kurzarbeitergeld, Zuschüsse für Selbständige, ja auch die Erntehelfer_innen dürfen (mit Auflagen) wieder einreisen, um zu verhindern, dass die Spargelernte zusammenbricht. Aber was ist, wenn die unbezahlt pflegenden Angehörigen am Limit ihrer körperlichen und finanziellen Möglichkeiten sind? Also: Wer kümmert sich eigentlich jetzt um die, die sich unbezahlt um die Schwächsten und Verletzlichsten kümmern? Die Interessensvertretung pflegender Angehöriger „wir pflegen!“ hat jetzt Sofortmaßnahmen zur Unterstützung von pflegenden Angehörigen gefordert: Eine unbürokratische finanzieller Unterstützung pflegender Angehöriger, Schnelltests, die Sicherstellung von Pflegehilfsmitteln und Schutzausstattung oder auch regionale Soforthilfe-Teams.
Schon vor dieser akuten Situation lagen Vorschläge auf dem Tisch, wie die sich Kümmernden besser abgesichert werden könnten, so auch im Zweiten Gleichstellungbericht. Jeder zu Hause pflegenden Person solle eine Entgeltersatzleistung analog zum Elterngeld geboten werden und ein aus Steuermitteln finanziertes flexibles Zeitbudget von insgesamt 120 Tagen. Ähnlich hat Barbara Stiegler in der o.g. FES-Expertise ein „1.000 Stunden-Modell“ ausgearbeitet, das als Element einer geschlechtergerechten Pflegepolitik eingesetzt werden kann. Denn es fragt sich natürlich: Warum wird ein Teil des Gehalts weiterbezahlt, wenn Kinder zu versorgen sind, aber nicht, wenn Alte und Kranke zu pflegen sind? Das im Gutachten für den Zweiten Gleichstellungsbericht vorgeschlagene „Erwerb-und-Sorge-Modell“ als Richtschnur umzusetzen hieße: Die Probleme in der Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit müssten nicht länger individuell im Privaten bewältigt werden. Die mehrheitlich von Frauen getragene unbezahlte Arbeit ist kein Fass ohne Boden! Werden die gesellschaftlichen Engpässe, die es schon vor der Krise gab und die nun in tragischer Weise einmal mehr zutage treten, nicht anders aufgefangen als von unbezahlt Arbeitenden, droht das Fass nun endgültig überzulaufen.
Autorin:
Dr. Regina Frey ist Politikwissenschaftlerin und Geschlechterforscherin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind geschlechtergerechte Organisations- und Personalentwicklung, Gleichstellung in der Haushaltspolitik / Gender Budgeting sowie Institutionelle Mechanismen für Gleichstellung. Sie berät Politik, Verwaltung, Hochschulen und Zivilgesellschaft in Sachen Gender von der internationalen bis zur kommunalen Ebene.
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