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Was denken Kulturschaffende über die neuen Corona-Schließungen zur Eindämmung der Pandemie?
Bund und Länder haben am 28. Oktober 2020 weitreichende Beschlüsse gefasst, um den Anstieg der Corona Neuinfektionen einzudämmen. Darunter fallen ebenfalls einschneidende Maßnahmen und Schließungen des Kulturbetriebes. Seit Montag, den 2. November 2020, sind Theater, Museen, Kinos, Opernhäuser und andere Kultureinrichtungen einen Monat lang geschlossen. Doch was bedeuten die erneuten Schließungen für die Branche und die Kulturschaffenden selbst? Wir haben dazu mit Dieter Ripberger, Intendant des Tübinger Zimmertheaters und der Schriftstellerin und Journalistin Tanja Dückers gesprochen. Beide sind Autor_innen der jüngst beim Dietz Verlag erschienenen Anthologie Echoräume des Schocks. Wie uns die Corona-Zeit verändert. Reflexionen Kulturschaffender und Kreativer.
Die Beiträge entstanden März bis Ende Juni 2020, also unmittelbar unter dem Eindruck der Ausgangsbeschränkungen – jetzt gerade im November erleben wir eine Neuausgabe und damit auch eine Verschärfung der in diesem Buch beschriebenen Probleme. Das ansprechend gestaltete und sehr lesbare Buch hat nichts an Aktualität verloren, sondern im Gegenteil neue gewonnen. Die Fragen, wie es in und nach der Pandemie weitergeht und welche Chancen sich für ein neues solidarisches und demokratisches Miteinander ergeben (könnten), sind nur noch drängender geworden. (culturmag.de)
Ein Kommentar von Dieter Ripberger, Intendant des Tübinger Zimmertheaters
Die Kultur ist hart getroffen. Es tut weh, nach all den Anstrengungen der letzten 7 Monate im November wieder schließen zu müssen. Dazu ein paar Gedanken.
Ein verbreitetes Argument ist: es gibt keine Evidenz für ausgelöste Infektionsketten in Theatern. Das (scheinbare) Gegenargument im Bund-Länder-Beschluss lautet: 75% der Ansteckungen sind nicht mehr nachvollziehbar. Der Schluss jedoch, dieses 75%-Nichtwissen pulverisiere unsere vermeintlichen Erfolge bei der Vermeidung von Ansteckungen, verkennt Folgendes: 25% der Fälle sind lokalisierbar. Das ist verdammt repräsentativ und darunter befindet sich keine Kultureinrichtung.
Es ist daher schon wesentlich mehr als der gute Glaube und die innere Überzeugung, die dafür sprechen, dass die ausgefeilten Hygienekonzepte bislang gottlob wirken.
Was aber halt auch stimmt: wir können einfach nicht statistisch leben. Ich meine: wir dürfen von der Politik saubere Argumentation und gute Gründe einfordern. Und wir dürfen selbstverständlich indigniert sein, im Spiegelstrich oberhalb der Bordelle aufzutauchen.
Gefährlich finde ich es aber, die Exekutive auf dem Niveau derer zu attackieren, die die Pandemie für ihre politischen Absichten missbrauchen wollen. Das ist Wasser auf die Mühlen der Falschen.
Wissenschaft generiert reversibles Wissen. Politisches Handeln ist nicht reversibel. Wir sollten respektieren, dass es für diese Jahrhundertnotlage kein Patentrezept gibt. Deshalb werfe den ersten Stein, wer jetzt mit absoluter Sicherheit weiß, was richtig ist. Und vor allem plädiere ich dafür, solidarisch mit denen zu sein, die jetzt Tag und Nacht ihre Energie, ihr Wissen und ihr Können für die Leben Anderer einsetzen. Keiner kann Kühllaster auf den Straßen wollen. Wie war das mit dem Tarifabschluss gerade?
Die Exekutive sollte jetzt überlegen, ob das Verdrängen der Menschen ins Private und in den Untergrund wirklich dazu beiträgt, das Risiko einer Ansteckung abzusenken. Oder ob nicht im Gegenteil die öffentlichen Räume, die (nicht nur) sozialer Kontrolle unterliegen, nicht die wahren Wellenbrecher sein können. See you in December!
Der Bundestagspräsident hat schon im Frühjahr gezeigt, auf welcher anspruchsvollen diskursiven Welle die deliberative Demokratie surfen kann: „Die Menschenwürde schützt nicht vor dem Sterben müssen.“
Die Exekutive muss daher auf diesem argumentativen Niveau die aktuellen und folgenden politischen Entscheidungen begründen und die grundrechtlichen Güter sorgsam abwägen. Die Kunstfreiheit geht von Startplatz 5,3 GG aus ins Rennen. (Wo nochmal steht Saturn im Grundgesetz?)
Ein Kommentar von Tanja Dückers, Schriftstellerin und Journalistin
Um es gleich vorab zu sagen: die Fallzahlen sind beunruhigend, und der Blick auf die Lage in den hiesigen Krankenhäuser auch. Nur noch 156 freie Intensivstationsbetten (diese Zahl wird bei Erscheinen des Artikels nicht mehr aktuell sein) für eine 3,8-Millionen-Metropole klingen nicht gut, zumal stets die Rede davon ist, dass man „mehr Betten als Personal hierfür“ habe. Ja, es muss etwas passieren. Doch richtet ein derart planloses Herunterfahren des kulturellen Lebens in Deutschland nicht am Ende mehr Schaden als Nutzen an?
Werden durch flächendeckende Kino-, Theater- , Konzerthaus-, Tanzbühnen- und Opernschließungen, durch den Shutdown von Museen, Galerien, Showrooms, Literaturhäusern, Lesebühnen und vielen, vielen kulturellen Räumen mehr wirklich die Fallzahlen signifikant gesenkt? Das muss stark angezweifelt werden.
Bislang ist kein einziger Corona-Ausbruch, kein Cluster, kein Superspreader-Event der Kulturszene nachweisbar. Keiner. Sicher, im Moment sind 75 Prozent der Infektionen nicht mehr rückverfolgbar, also kann kein Lebensbereich für sich reklamieren, in gar nicht zu Fallzahlen beizutragen. Aber: im Zweifelsfall für den Angeklagten, es gilt die Unschuldsvermutung. Zumal gerade die Kultureinrichtungen sich im besonderen Maße um Hygienekonzepte bemüht und meist gut durchdachte Maßnahmen eingeführt haben, früher als der Bundestag beispielsweise.So entsteht der Eindruck, dass diejenigen, die sich bisher als besonders „compliant“, wie man in der Medizin sagt, also als besonders kooperativ erhalten haben, nun abgestraft werden. Doch die Kulturschaffenden, zu denen auch viele Branchenvertreter_innen mit gutem Medienzugang sowie in der Öffentlichkeit sehr bekannte Künstler_innen gehören, sind für die Bundesregierung in dieser präzedenzlosen Situation wichtig! Spielt dieser „Wellenbrecher“ nicht vielmehr den Coronaleugnern und –skeptikern in die Hände, denen sich jetzt möglicherweise noch deutlich mehr Menschen anschließen werden?
Nicht einmal unter rein epidemiologischen Aspekten erscheint dieser Kultur-Shutdown zielführend. Es bleibt zu befürchten, dass die Menschen sich nun statt zu Kulturveranstaltungen im privaten Bereich treffen, denn der Wunsch nach Nähe, nach Austausch, nach Erleben bleibt ja bestehen. Das ist aber viel gefährlicher als ein markierter Sitzplatz im Theater oder ein Ausstellungsbesuch, mit reduzierter Gästezahl und Maske.
Wäre es nicht sinnvoller, das Personal von Gesundheitsämtern durch schnell ausgebildetes Personal für diesen Zweck aufzustocken, um der gefährlichen, unkontrollierten Ausbreitung entgegenzutreten - anstatt alles was „schön“ ist, zu schließen?
Der Berliner Kultursenator hat seiner Irritation Ausdruck verliehen, in dem er der Berliner Zeitung sinngemäß sagte: Ein Monat lang ohne Kultur sei schon krass und nicht mehr vermittelbar. Wie soll man den Bürgerinnen und Bürgern erklären, dass ein Theaterhaus schließen muss, aber weiter munter durch eine Shoppingmall geschlendert werden darf? Er gab sich selber die ironische Antwort mit „Das weiß nur der Kapitalismus“.
Ebenso bevorzugt werden schon wieder die Kirchen. Gottesdienste dürfen weiter stattfinden, Lesungen in Literaturhäusern, Vorträge in Akademien aber nicht. Das ist nicht nachvollziehbar. Dazu noch eine Randbemerkung: Welcher Logik folgt die Bestimmung, dass bei konfessionellen Beerdigung mit Pfarrer 30 Trauergäste kommen dürfen, bei einer weltlichen, ohne Kirchenpersonal, jedoch nur 10?
Die Mehrzahl der Kulturschaffenden und mit ihnen auch das kulturinteressierte Publikum (darunter viele ältere Mitbürger_innen) ist bisher den Maßnahmen der Bundesregierung gefolgt. Doch jetzt wird den Kulturvertreter_innen vermittelt, nur von tertiärer Relevanz zu sein. Anstatt sich die Mühe zu machen, vielleicht noch genauer zu überlegen, wie man Hygienekonzepte angesichts rasant steigender Infektionszahlen verfeinern kann, hält man sich von politischer Seite nicht lange mit den sehr unterschiedlichen Formaten und Möglichkeiten von Kultureinrichtungen auf, sondern shuttet alles rigoros down. Man bemüht sich nicht um ein differenziertes Handeln und Entscheiden. Hier vermisst man eindeutig mehr Sorgfalt, mehr Hinwendung, mehr Kenntnis und Expertise. Denn die meisten Vertreter_innen von Kultureinrichtungen hätten sich zum Beispiel an einer stärkeren Etablierung von Hybridkonzepten – einer Kombination aus Präsenz- und Online-Veranstaltungselementen – beteiligt oder sich um noch bessere Lüftungskonzepte bemüht. Wenn man sie denn mal gefragt, zu Rate gezogen hätte. Und ihnen nicht nur vorgeschrieben hätte, was ab Montag läuft oder nicht.
Es ist den Entscheider_innen offenbar auch nicht klar oder egal, was es – monetär wie psychologisch – für eine gesellschaftliche Gruppe bedeutet, wenn sie pauschal mit einem Aufführungsverbot, also einem partiellen Berufsverbot, belegt wird. Kunst und Kultur entstehen eben nicht nur im stillen Kämmerlein, sondern auch in der Interaktion, durch Resonanz und Teilhabe.
Wo bleibt bei diesem „Wellenbrecher-Lockdown“ die öffentliche Wertschätzung der Kultur in Deutschland?
Die coronabedingte Schließung von Kulturorten wird deren Bedeutung nicht gerecht. Ein Kommentar von Dr. Carsten Brosda, Kultursenator Hamburg.
Den Beitrag lesen Sie hier.
Hören Sie hier ein Interview mit Vizekanzler Olaf Scholz zum Wellenbrecher-Lockdown.
Martin Rabanus, Kultur- und medienpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion gibt Antworten auf Fragen, die derzeit viele Menschen im Kultur- und Medienbetrieb bewegen.Zum Videointerview gelangen Sie hier.
Die Corona-Pandemie hat den Kultur- und Kunstbereich besonders hart getroffen. Wie können wir Kunst, Kultur und kulturelle Räume noch besser als bisher stärken und schützen? Das ist eines der Themen unseres digitalen 7. Kulturpolitischen Fachforums, dass am 27. November 2020 startet. Alle Infos zur Tagung und das Programm finden Sie hier.
Kultur in ihren vielfältigen Ausdrucksformen bildet das Fundament einer Gesellschaft. Sie ist der Pfad zur eigenen Identitätsfindung und weitet den Blick für fremde Welten. Literatur, Musik, bildende Kunst, Architektur, Theater oder Film schaffen eine phantasievolle Grundlage für die Auseinandersetzung mit den politischen und kulturellen Realitäten des Alltags. Mehr zur kulturpolitischen Arbeit der FES finden Sie hier.
In der Corona-Krise werden vor allem Männer um Stellungnahmen gebeten - Frauen werden dagegen in den Medien eher als "Betroffene" dargestellt.
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