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Reformdebatte Arbeitszeiterfassung: Wie macht es Spanien?

Interview mit Gregor Erlebach, Anwalt für Arbeitsrecht in Barcelona


Hintergrund


Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom Mai 2019 muss die Arbeitszeit von Beschäftigten objektiv, verlässlich und zugänglich erfasst werden. Konkret bezog sich das Urteil auf einen Rechtsstreit, der vom spanischen obersten Gerichtshof an das EuGH weitergereicht wurde. Die sozialistische spanische Regierung kam dem Urteil zuvor, indem sie kurz vor dem EuGH-Urteil eine entsprechende gesetzliche Regelung auf den Weg brachte. Mittlerweile hat das Bundesarbeitsgericht auch für Deutschland klargestellt, dass die aktuelle Gesetzeslage im Bereich der Arbeitszeiterfassung nicht den EuGH-Anforderungen entspricht. Die Bundesregierung arbeitet daher an einer Reform.

Welche Erfahrungen hat Spanien mit seiner reformierten Arbeitszeiterfassung, die nun als eine der strengsten der Welt gilt, in der Zwischenzeit gemacht? Was lässt sich daraus für die deutsche Reformdebatte lernen? Das fragen wir Gregor Erlebach, Anwalt für Arbeitsrecht bei der spanischen Großkanzlei Cuatrecasas, im Interview.
 


FES: Herr Erlebach, Ihre Kanzlei vertritt viele in Spanien ansässige Unternehmen, die seit Mai 2019 nun dazu verpflichtet sind, die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten im vollen Umfang zu dokumentieren. Kurz zur Einordnung: Inwiefern unterscheiden sich die aktuellen Anforderungen von der Situation vor Mai 2019? 

Gregor Erlebach: Der Gesetzgeber hatte sogar bereits vor dem EuGH-Urteil, im März 2019, die Verpflichtung zum genauen Erfassen der Arbeitszeit eingeführt. Auch vor der Gesetzesänderung durfte die gesetzliche Arbeitszeit nicht überschritten werden, aber die Nachweis- und Kontrollmöglichkeiten waren begrenzt. Es bestand die Verpflichtung Überstunden zu dokumentieren, nicht aber die effektive Arbeitszeit. Der genaue Nachweis der Überstunden war allerdings ohne Erfassen der Arbeitszeit manchmal schwierig. Insofern entsprach die damalige spanische Rechtslage weitgehend der aktuellen in Deutschland.

Das neue Gesetz verpflichtet Arbeitgeber in Spanien nun dazu, die Arbeitszeit mit den realen Kommen- und Gehen-Werten zu erfassen. Dies muss taggenau erfolgen und die Erfassung darf nachträglich nicht mehr abänderbar sein. Die entsprechenden Nachweise müssen der Arbeitsbehörde jederzeit zur Prüfung zur Verfügung stehen.   

Die Neuerung ist in dieser Form insbesondere für Vollzeitverträge relevant. Für Teilzeitverträge bestand die Pflicht zum Erfassen der Arbeitszeit bereits vor der Gesetzesänderung. Das lag insbesondere daran, dass bei Teilzeitverträgen Überstunden nicht zulässig sind. Mehrarbeit war und ist bei Teilzeitverträgen nur über sogenannte „Zusatzstunden“ möglich, die zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausdrücklich im Voraus vereinbart werden müssen.        


Die Begeisterung von Seiten der Wirtschaft für die neue Arbeitszeiterfassungsregelungen war begrenzt und es wurde die Sorge einer bürokratischen Überforderung der Unternehmen formuliert. Jetzt, mit mehr als zwei Jahren Abstand, hat sich diese Befürchtung bestätigt? 

Ich denke, es geht weniger um den bürokratischen Aufwand an sich, denn in vielen Bereichen, vor allem in der Produktion, war die Zeiterfassung schon vor der Gesetzesänderung an der Tagesordnung. Es geht vielmehr darum, im Unternehmensalltag ein effizientes und auch ausreichend dynamisches System zu finden, das den konkreten Notwendigkeiten des Unternehmens und der Mitarbeitenden Rechnung trägt. Auch innerhalb eines Unternehmens gibt es durchaus verschiedene Situationen, die unterschiedliche Formen der Zeiterfassung notwendig machen können. So passt die klassische „Stechuhr“ nicht für alle Tätigkeiten. Die Bedürfnisse in der Verwaltung oder für Vertriebsmitarbeitende sind z.B. anders als in der Produktion. Auch neue Arbeitsformen wie das mobile Arbeiten stellen neue Herausforderungen dar.    


Gibt es konkrete Vorgaben, wie die Arbeitszeit der Beschäftigten erfasst werden mussund wenn ja, welche sind das? 

Nein, das Gesetz legt nicht fest mit welchem System, ob elektronisch oder handschriftlich, die Arbeitszeit erfasst werden muss. Die Erfassung muss taggenau erfolgen, sie muss die tatsächliche Arbeitszeit abbilden, darf nachträglich nicht abänderbar sein und muss der Arbeitsbehörde jederzeit aktualisiert vorgelegt werden können. Auch Betriebsrat und betroffene Arbeitnehmer_innen haben das Recht auf Einsichtnahme.   

 
Unterscheiden sich die Anforderungen und auch die Umsetzung der Regelungen mit Blick auf Großunternehmen und kleine oder auch mittlere Betriebe?  

Nein, hier gibt es keine Unterscheidung. Das ist durchaus ein Problem. Denn gerade für kleinere Unternehmen ist der Aufwand im Verhältnis recht hoch.  


Immer wieder wird die Sorge von Unternehmensseite, aber auch von Seite der betroffenen Beschäftigten, geäußert, dass das Modell der Vertrauensarbeitszeit bei der Vorgabe einer umfassenden Arbeitszeiterfassung, nicht anwendbar sei. Wie schätzen Sie diese Befürchtung ein? 

Ja, das Modell der Vertrauensarbeitszeit lässt sich in seiner früheren Form nach der Gesetzesänderung so nicht mehr aufrechterhalten. Arbeitgeber und Arbeitnehmer können nicht einfach auf die Arbeitsergebnisse blicken und die Arbeitszeit, die dazu notwendig war, vernachlässigen. Das hat Vor- und Nachteile – sowohl für Arbeitgeber- als auch Arbeitnehmendenseite. 

Einerseits wird sichergestellt, dass Arbeitnehmer_innen die gesetzlichen Grenzen der Arbeitszeit nicht, bzw. nicht ohne entsprechenden Ausgleich überschreiten. Durch die genaue Erfassung der Arbeitszeit lässt sich aber auch leichter feststellen, welche Arbeitnehmer sehr effizient und welche eventuell weniger effizient arbeiten, d.h. länger für ein vergleichbares Ergebnis benötigen. Das gefällt nicht jedem Arbeitnehmer und jeder Arbeitnehmerin und kann auch Unternehmen dazu veranlassen, korrektive Maßnahmen zu ergreifen.  

Es gibt zahlreiche Branchen, insbesondere im Dienstleistungsbereich und im Technologiesektor, in denen die Vertrauensarbeitszeit auch bei Arbeitnehmenden und von Seiten des Betriebsrats ausdrücklich erwünscht ist. Eine in der IT arbeitende Person beispielsweise, die ganz oder teilweise aus dem Homeoffice arbeitet, möchte nicht durch eine lückenlose Zeiterfassung „kontrolliert“ werden. Sie möchte arbeiten, wann und wie es ihr gefällt, um sich kreativ entfalten zu können, und am Arbeitsergebnis gemessen werden. Das kann die Arbeitgeberseite aber in dieser reinen Form nicht mehr zulassen. Dabei spielen natürlich auch Aspekte des Arbeitsschutzes eine Rolle.  

Hier geeignete praktische Lösungen zu finden, die einerseits den gesetzgeberischen Vorgaben Rechnung tragen und andererseits die tatsächlichen Bedürfnisse der Arbeitgeber- und Arbeitnehmendenseite berücksichtigen, ist in diesem Bereich vielleicht die größte Herausforderung für die Sozialpartner.        


Ein Beweggrund für die Reform der sozialistischen Regierung von Pedro Sánchez war es, die unbezahlten Überstunden in Spanien abzubauen und damit auch den Anteil an Steuern und Sozialabgaben, der dem Staat jährlich entgeht, zu reduzieren. Inwiefern ist dieses Ziel erreicht worden? 

Das ist aus meiner Perspektive schwer zu bewerten. Einerseits ist es sicherlich so, dass die Unternehmen in verstärktem Maße für diese Thematik sensibilisiert sind. Andererseits findet auch eine Verstärkte Prüfung durch die Arbeitsbehörden statt. Die nicht korrekte Arbeitszeiterfassung findet sich mittlerweile unter den „Top 3“ der sanktionierten Verstöße. Wenn bei Teilzeitverträgen keine Erfassung der Arbeitszeit vorgenommen wird, wird zudem widerlegbar vermutet, dass es sich um einen Vollzeitvertrag handelt – mit entsprechenden Sanktionen und Nachzahlungen an die Sozialversicherung.    


Die Erfassung der tatsächlichen Arbeitszeit von Beschäftigten ist die Grundlage für eine Bewertung, ob Stunden- und Mindestlöhne, aber auch Pausen- und Ruhezeiten eingehalten werden und macht effektive Kontrollen von Seiten der Aufsichtsbehörden erst möglich. Können Sie uns einen kurzen Einblick geben, wie die Kontrolle der arbeitsrechtlichen Vorschriften in Spanien organisiert ist?  

Die Einführung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung soll im Idealfall mit dem Betriebsrat verhandelt und vereinbart werden. Zumindest muss der Betriebsrat aber vorher angehört werden. Der Betriebsrat hat natürlich auch Kontrollfunktionen. So hat er das Recht auf Einsichtnahme in die Arbeitszeiterfassung der Betriebsstätte, die er repräsentiert, und kann dem Arbeitgeber Verstöße anzeigen und auch gegen eine nicht vorhandene oder nicht ausreichende Arbeitszeiterfassung vorgehen. Er kann Verstößeauch gegenüber der Arbeitsinspektionzur Anzeige bringen. Die Arbeitsinspektion ist in Spanien eine zentralisierte Behörde, die jedoch regionale Vertretungen mit eigenen, übertragenen Kompetenzen hat. Auch jeder einzelne Arbeitnehmer bzw. jede Arbeitnehmerin hat dieses Recht, natürlich nur hinsichtlich der eigenen Arbeitszeiterfassung.  

Die Arbeitsinspektion prüft die Einhaltung der Vorschriften zur Arbeitszeiterfassung und wird sowohl aufgrund von Anzeigen als auch von Amts wegen tätig. Eine der Kampagnen der Arbeitsinspektion ist derzeit auf die verstärkte Kontrolle der Arbeitszeiterfassung gerichtet. Bei Verstößen kann die Inspektion unter Fristsetzung verbindliche Aufforderungen aussprechen und Bußgelder verhängen. Werden nicht vergütete oder nicht mit Freizeit ausgeglichene Überstunden entdeckt, werden auch hierfür Bußgelder fällig und die Vergütung ist mit entsprechenden Sozialabgaben nebst Verspätungszuschlägen und weiteren Sanktionen nachzuzahlen.  

Eine fehlende Arbeitszeiterfassung kann aber auch zu einem prozessualen Risiko für den Arbeitgeber werden. Wird beispielsweise im Rahmen einer Kollektivklage durch den Betriebsrat oder einer Sammelklage Betroffener das Ableisten von nicht vergüteten Überstunden schlüssig vorgetragen, und kann der Arbeitgeber den Vortrag nicht durch Vorlage der Arbeitszeiterfassung widerlegen und sich damit entlasten, kann das Gericht die geforderte Überstundenvergütung zusprechen. Der Arbeitgeber hat dagegen ohne Arbeitszeiterfassung wenig Verteidigungsmöglichkeiten.              


In Deutschland ist die Debatte zum Thema der Arbeitszeiterfassung nun im vollen Gang und die Bundesregierung soll es sich zum Ziel gemacht haben, einen entsprechenden Referentenentwurf im ersten Quartal 2023 vorzulegen. Auf Grundlage der Erfahrungen, die Sie als Anwalt in Ihrer Berufspraxis bisher mit der neuen Arbeitszeiterfassung gemacht haben: Welche Hinweise würden sie den an der Gesetzesvorlage arbeitenden Referent_innen gerne mitgeben? 

Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gilt in Spanien unabhängig von der Art der Tätigkeit und der Position des Mitarbeitenden. Mit Ausnahme der Geschäftsführung sind auch sämtliche Führungskräfte von der Pflicht erfasst. Das führt in der Praxis häufig zu Problemen.  

Man sollte daher flexible Lösungen zur Arbeitszeiterfassung erwägen, die den jeweiligen Bedürfnissen und Anforderungen sowohl hinsichtlich der Position eines Mitarbeiters als auch hinsichtlich der Art der Tätigkeit, einschließlich neuer Arbeitsformen, wie z.B. mobilem Arbeiten, stärker Rechnung tragen. Dort wo es von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite ausdrücklich erwünscht ist, sollte man versuchen, die Vertrauensarbeitszeit neu zu definieren anstelle sie vollständig abzuschaffen.  

Auch sollte man prüfen, wie man der unterschiedlichen Unternehmensrealität in kleinen, mittleren und großen Betrieben entsprechend Rechnung tragen kann.       

Ein weiterer Punkt, den auch bereits die spanische Arbeitsinspektion in ihren Interpretationskriterien aufgegriffen hat, ist, dass häufig nicht alle erfassten Zeiten auch effektive Arbeitszeiten sind. Hier empfiehlt sich ein flexibles Kriterium. Übliche Pausen sollten z.B. von Anfang an berücksichtigt werden, um zu unnötiges „Stechen“ zu vermeiden. 

 
Herzlichen Dank für das Interview!
 

 


Gregor Erlebach

ist Rechtsanwalt bei der spanischen Großkanzlei Cuatrecasas und berät hier umfassend im Bereich des Individual- und Kollektivarbeitsrechts. Er ist spezialisiert auf Arbeitsvertragsrecht, die Rechtsbeziehungen von Führungskräften und entsandten Mitarbeitern, Kündigungsrecht, arbeitsrechtliche Flexibilisierungs- und Restrukturierungsmaßnahmen, sowie Angelegenheiten im Bereich des Tarifrechts. 

Er studierte Rechtswissenschaft in Mainz und Valencia sowie in Puerto Rico und ist seit 2005 sowohl als deutscher Rechtsanwalt als auch als spanischer Rechtsanwalt (Abogado) zugelassen. Herr Erlebach ist Mitglied der Deutsch-Spanischen Juristenvereinigung (DSJV) und des Kreises Deutschsprachiger Führungskräfte in Spanien (KDF). 


Ansprechpartnerin in der FES: Susan.Javad(at)fes.de

 

 


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