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Auf den Knien, aber bitte mit Mundschutz? Es regt sich Widerstand gegen die neue Notstandsrhetorik.

Mit neuen Begründungen und Schwerpunkten hat sich in der uruguayischen Debatte ein Notstandsnarrativ ausgebreitet. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, den Notstandsbegriff zu definieren.

Bild: feministischer 1. May in Montevideo 2020 von © FES Uruguay

Wir erleben momentan eine Epoche, in der das Konzept des Notstands neu diskutiert wird.

Was ist ein Notstand? Was ist das, worauf unsere Körper und unsere Gemeinschaften nicht warten können?

Mit neuen Begründungen und Schwerpunkten hat sich in der uruguayischen Debatte ein Notstandsnarrativ ausgebreitet. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, den Notstandsbegriff zu definieren.

Die Diskussion hängt unmittelbar mit der Widersprüchlichkeit zusammen, die sich aus einer Gesetzesvorlage der Regierung ergibt: Als die Pandemie bereits in vollem Gange war, legte das Kabinett dem Gesetzgeber ein Reformpaket mit sogenannten »Dringlichkeitsgesetzen« (leyes de urgente consideración, LUC) vor. Dabei berief es sich auf eine Sonderbefugnis nach Art. 168 Ziffer 7 der uruguayischen Verfassung. Die Gesetzesvorschläge berücksichtigen jedoch weder die Bedingungen der aktuellen Gesundheitskrise noch gehen sie in irgendeiner Weise auf die Forderungen der Bevölkerung ein.

Wenngleich der uruguayische Präsident Lacalle Pou das Gesetz als »volksnah, gut und gerecht« bezeichnet hat, haben bestimmte politische Kreise, Gewerkschaften, Bildungsverbände und soziale Bewegungen immer wieder auf dessen demokratie- und volksfeindlichen sowie verfassungswidrigen und in doppelter Hinsicht inopportunen Inhalt hingewiesen. Denn wir durchleben derzeit eine historische Krise von globalen Ausmaßen. Und diese Krise zeigt mehr denn je, wie wichtig die Öffentlichkeit ist, wie unnachhaltig ein Wirtschaftsmodell ist, das auf Bereicherung durch Enteignung abzielt und das schonungslos die fürchterlichen Konsequenzen sichtbar macht, die das neoliberale System in der Krise verursacht.

Dessen ungeachtet sieht das Gesetzesprojekt eine Reihe von Strukturreformen vor und enthält ein Programm zur Weiterentwicklung (und Vertiefung) der neoliberalen Politik, wie es bereits in anderen Ländern (mit unheilvollen Konsequenzen) umgesetzt wurde. Zu den Maßnahmen gehören der Rückbau des Wohlfahrtsstaates, die Aufhebung grundlegender sozialer Rechte, die Privatisierung des öffentlichen Bildungswesens, eine Stärkung des Polizeistaats durch ein populistisches Strafrecht und Repression als einziges Mittel zur Lösung von Sicherheitsproblemen, die Schwächung der Demokratie durch die Kriminalisierung sozialer Proteste und Blockaden im öffentlichen Raum, die Einschränkung des Streikrechts und die rechtliche Absicherung des neoliberalen Wirtschaftsmodells durch diejenigen, die im In- und Ausland faktisch die Macht besitzen.

Die uruguayische Regierung will mit dieser Maßnahme ihre eigene Rolle als vermeintliche Vorkämpferin für Korrektheit und Republikanismus stärken. Zugleich wird ganz unverhohlen der Autoritarismus als legitime und angeblich notwendige Regierungsform verankert. Zudem soll damit gerechtfertigt werden, dass im Namen der Mehrheit die Interessen einiger weniger durchgesetzt werden.

Die bevorstehende Verabschiedung des Gesetzes soll die Grundrechte einschränken und kollektives Handeln durch ein Maßnahmenbündel ersticken, das in einem zeitgleich eingebrachten Gesetzesvorschlag verankert ist. Damit sollen die bisherigen Gesetze zu audiovisuellen Kommunikationsdienstleistungen geändert bzw. außer Kraft gesetzt werden.

Mit Mundschutz und zu Hause?

Die Pandemie hat sich offensichtlich als idealer Vorwand dafür erwiesen, abweichende Meinungen zurückzudrängen, die Straßen leer zu fegen, die Stimmen des Protests zum Schweigen zu bringen und das Streben nach Gerechtigkeit schon im Keim zu ersticken. Dennoch haben verschiedene Initiativen sowie soziale und gewerkschaftliche Bewegungen Möglichkeiten gefunden, wie sie sich neu organisieren und den politischen Widerstand so auf neue Beine stellen können.

Die menschenleeren Plätze erinnern an die schlimmsten Abschnitte unserer Geschichte. Sie rufen Bilder aus dunklen Zeiten hervor, in denen die Stimmen der Bevölkerung zum Schweigen gebracht wurden. Doch die kollektive Erinnerung an das Schweigen knüpft auch eine symbolische, gesellschaftliche und politische Verbindung zwischen der Mobilisierung auf der Straße, den Menschenrechten und der Demokratie.

Mit Blick auf die soziale Mobilisierung erscheint der vergangene 1. Mai als erster Vorbote dieser »neuen Normalität« und als starkes Symbol für die Möglichkeit neuer und vielfältiger Protestformen. Er stellt sich als Auftakt eines Prozesses und als lebendiger Raum für die Bevölkerung dar, sich gegen die Aktionen und die Rechtebeschneidung durch die rechtsgerichtete Koalition zu stellen.

Insbesondere mit Blick auf das Dringlichkeitsgesetz fällt auf, dass genau zu dem Zeitpunkt, an dem eine Reihe volksfeindlicher Reformen verabschiedet werden soll, die die soziale Unzufriedenheit Stück für Stück verstärken werden, ein Bündel willkürlicher Maßnahmen und Mechanismen verabschiedet wird. Diese dienen dazu, den Streikenden jede Legitimation abzusprechen und die Versammlungsfreiheit, das Recht auf abweichende Meinungen und den Zugang zu öffentlichen Informationen einzuschränken.

Zugleich kriminalisiert das Dringlichkeitsgesetz die Besetzung des öffentlichen Raums und geht dabei nicht nur weiter als bisher, sondern schränkt insbesondere das Streikrecht (Art. 398) ein. Damit überschreitet der Gesetzgeber eine Grenze, die selbst in der Diktatur respektiert wurde.[1]

Dieses »Gesetz« nährt in diesem Sinne (insbesondere unter den Stichwörtern Sicherheit und »Freizügigkeit«) einen Polizeistaat. Diese Tendenz lässt sich laut Raúl Zaffaroni weltweit beobachten und zeugt von einem auf Rache ausgelegten Strafrecht. Dabei beschränkt sich der Staat darauf, die Abgehängten durch ein Modell des verkümmerten Staates auf Abstand zu halten und es zuzulassen, dass die Gesellschaft von den großen Konzernen auf Geheiß eines abstrakten und geheimnisvollen »Marktes« regiert wird.

Die Kriminalisierung des Protests ist jedoch keineswegs neu. In den 35 Jahren, die die Demokratie nun schon währt, wurden zahlreiche Verfahren und Rechtsvorschriften[2] eingeführt, um die Versammlungsfreiheit, die Meinungsfreiheit und das Recht auf Widerstand durch Verfolgung, Einschüchterung und willkürliche Verhaftung von Protestierenden, willkürliche Aktionen und die widerrechtliche »Infiltration« und Verfolgung friedlicher Protestbewegungen einzuschränken.

Dennoch scheint die aktuelle Lage geradezu den perfekten Nährboden zu bieten, um ein noch repressiveres Regime zu etablieren. Auf dem Rechtsweg und in der Praxis soll Raum für die Verfolgung und Kriminalisierung von Dissidenten, Menschenrechten und Pressefreiheit geschaffen werden. Und das in einer Situation, in der die Handlungsfreiheit von Journalist_innen durch Zensurmaßnahmen ohnehin zunehmend eingeschränkt wird. Dabei stellt der Journalismus eine wichtige praktische Dimension der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit dar und dient der Verhinderung, Bekanntmachung und Sanktionierung institutioneller Gewalt.

Doch momentan ist nicht die Zeit für Schuldzuweisungen, Resignation oder Stillschweigen, denn das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Der Weg durch die Instanzen ist lang, wenn man den Autoritarismus zurückdrängen und den Bedeutungswandel der Begriffe »Ordnung und Gesetzestreue« aufhalten möchte, den uns das Dringlichkeitsgesetz aufzwingen will. Pandemie hin oder her – die Straße bleibt ein wichtiger Ort für die politische Teilhabe der Bevölkerung.

Wenngleich es den »Speerspitzen des Republikanismus« in Uruguay schwerfallen dürfte, dies zuzugeben: Wir brauchen dringend unabhängige Mechanismen, um in Zukunft auf nationaler und internationaler Ebene Rechtsmissbrauch, Gewalt und Repression bei friedlichen Märschen, Demonstrationen und Streiks wirksam zu verhindern.

Was wir nicht brauchen, sind Märtyrer_innen.

Setzen wir unsere Körper ein – aber nicht unser Leben.

Nur so können wir gemeinsam die knappe Luft atmen, die uns Heilung verspricht.

Valeria España ist Projektleiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung Uruguay und Gründer_in des Menschenrechtskollektivs »Centro de Promoción y Defensa de los Derechos Humanos«. Sie hat ein Studium der Rechtswissenschaften an der Universidad Nacional Autónoma de México absolviert, ein Magister in Menschenrechten und öffentlicher Politik sowie an der Universidad Nacional de Lanús in Buenos Aires promoviert.

* Dieser Text ist im spanischen Originalund ungekürzt erschienen in Hemisferio Izquierdo . Hier gelangen Sie zur spanischen Version.

In der deutschen Fassung verwenden wir eine geschlechtersensible Sprache.

[1] Vgl. www.montevideo.com.uy/Noticias/-Ni-la-dictadura-se-atrevio-a-tanto--dijo-Richard-Read-sobre-algunos-articulos-de-la-LUC-uc750600

[2] Dekret 76/2017 www.impo.com.uy/bases/decretos/76-2017


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