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Junge Zeitarbeiter_innen in Lateinamerika - ein unschönes Gesicht der »Arbeit der Zukunft«

Zeit- und Leiharbeit wird auch von lateinamerikanischen Gewerkschaften als problematisch angesehen – aus gutem Grund.

Demonstrierende Frauen in Chile

Bild: Frauen demonstrieren gegen die Arbeitsbedingungen in Chile von FES Chile

Fragen an Katja Meyer, Gewerkschaftskoordinatorin für Lateinamerika und die Karibik der FES Berlin

 

Ungesicherte Beschäftigungsformen wie Zeit- und Leiharbeit sind in Deutschland ein großes Thema. Wie sieht es damit in Lateinamerika aus?

Nicht erst seit Beginn der Digitalisierung ist die Zeit- und Leiharbeiter_innen-Branche eine wachsende Industrie in Lateinamerika, die Millionen von Arbeitskräften beschäftigt – hauptsächlich für den Produktions- und Dienstleistungssektor (Handel, Informations- und Kommunikationstechnologie, Finanzen, Gesundheit). In Brasilien wird die Zahl der Leiharbeiter_innen auf über eine Million geschätzt, in Kolumbien auf mehr als 500 000 Menschen. Insgesamt macht das laut der globalen Dienstleistungsgewerkschaft UNI Global Union 14 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse in Lateinamerika aus.

Das Phänomen ist überall gleich unschön: Leiharbeitnehmer_innen werden rasch ersetzt – ungeachtet ihrer Bemühungen, Fähigkeiten zu erwerben, die für das betreffende Unternehmen nützlich sind. Einige Beispiele: In Peru sind unter dem Vorwand der Kostensenkung generell Monatsverträge und Outsourcing-Praktiken an der Tagesordnung. Der Supermarktgigant Carrefour stellt bevorzugt Mitarbeiter_innen über Zeitarbeitsfirmen ein wie z. B. in der Dominikanischen Republik. Und schätzungsweise 35 000 Arbeitnehmer_innen sind temporär in Call-Centern in Lateinamerika beschäftigt, ihr Durchschnittsalter beträgt 20 Jahre. In Kolumbien klagen Gewerkschaftsorganisationen über die verbreitete Diskriminierung von Leiharbeiter_innen, die gemäß formaler Regelungen die gleichen Gehälter und Sozialleistungen wie fest angestellte erhalten müssten.

Hinzu kommt, dass die sogenannte Gig Economy in der Region auf dem Vormarsch ist: Über Onlineplattformen werden kleinere Aufträge kurzfristig an unabhängige Freiberufler_innen oder geringfügig Beschäftigte vergeben. Scheinselbstständigkeit und die allgemeine Individualisierung der Arbeit führen zu einer immer weiter wachsenden Zahl von „rechtlosen“ Arbeitnehmer_innen. Mit digitalen Plattformen, die Dienstleistungen von der Gesundheitsfürsorge bis hin zur Reinigung anbieten, werden Lücken in den Arbeitsgesetzen geschickt ausgenutzt. Dies betrifft zunehmend junge Beschäftigte und hier insbesondere Frauen, deren Wunsch nach der Vereinbarkeit von familiärer Verantwortung und Lohnarbeit schamlos ausgenutzt wird.

 

Bieten diese Arten von Jobs vielleicht auch Chancen für die Menschen?

Die Realität zeigt, dass befristete Verträge keine Eintrittskarte für bessere Arbeitsplätze oder dauerhafte Beschäftigungen sind, sondern eher der Übergang von der Befristung zur Arbeitslosigkeit. Neoliberale bzw. rechtskonservative Regierungen zielen darauf ab, das Arbeitsrecht „flexibler“ – für die Arbeitgeber – zu machen und damit individuelle sowie kollektive Rechte auszuhöhlen. So haben die Arbeitsmarktreformen in Brasilien im vergangenen Jahr prekäre Arbeitsverhältnisse, atypische Einstellungsformen und inhumane Arbeitszeiten gebracht und damit sozialen Abstieg, noch mehr Informalität und Ungleichheit bewirkt, wovon vor allem junge Menschen betroffen sind. Die Beschäftigungssituation und Entlohnung junger Frauen ist dabei noch schlechter als die von Männern. Auf dem Arbeitsmarkt des Dienstleistungsbereichs mit 70 Prozent Frauen in den Bereichen Gesundheit, Handel und Reinigung verfügen diese über keine Verhandlungsmacht, zumal sie unzureichend gewerkschaftlich organisiert sind.

 

Gibt es erfolgreiche Gewerkschaftsstrategien, um diesen Entwicklungen wirksam zu begegnen?

Ein sehr positives Beispiel ist das mehrjährige Projekt Temporary Agency Work and Young Workers der UNI Global Union: Diese hat mit FES-Unterstützung in Lateinamerika gezielt die Gewerkschaftsjugend u. a. in Argentinien, Chile, Kolumbien und Peru geschult. Die Workshops förderten den Erfahrungsaustausch, das Erlernen neuer Ideen zur Stärkung von gewerkschaftlicher Organisation sowie die Entwicklung gemeinsamer Aktionspläne. Bislang waren die Erfolge vielfältig: In multinationalen Unternehmen wie Randstad und Manpower konnten neue Gewerkschaften gegründet werden, die Verbesserungen bei Entlohnung, Arbeitsbedingungen und Arbeitsschutz erzielten sowie spezielle Gender- und Jugendklauseln in Kollektivverträge integrierten. Mittels Kampagnen der UNI-Jugendnetzwerke wurden auch Studierende auf der Suche nach dem ersten Job sensibilisiert und rekrutiert. Die jungen Leute stritten zudem erfolgreich für eine wichtige Bewusstseinsänderung innerhalb der Gewerkschaftsspitzen, nämlich für die Überzeugung, dass Zeitarbeiter_innen nicht als „Job-stehlende Konkurrent_innen“, sondern als Verbündete im Kampf gegen prekäre Arbeit gesehen und integriert werden müssen.


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