Die FES wird 100! Mehr erfahren

Kolumbien: Frieden und Gerechtigkeit zusammen denken

Der Friedensprozess in Kolumbien braucht langfristige internationale Unterstützung - auch von Deutschland.

Ein Haus an einer Straßenecke. Daran lehnt ein Mann.

Bild: Jardin, Colombia von Pedro Szekely lizenziert unter CC BY-SA 2.0

Mit Abschluss des sehr umfassenden Friedensvertrags zwischen dem kolumbianischen Staat und der Guerilla FARC endete 2016 einer der längsten bewaffneten Konflikte der Welt. Über 50 Jahre mit – je nach Lesart – fünf bis sechs Friedensprozessen hatte das Land hinter sich. Der bewaffnete Konflikt mit der FARC ist beigelegt, aber auch heute noch sind vielfältige Gewaltakteure in Kolumbien aktiv. Allein 2018 sind bisher 71.771 neue Opfer registriert worden. Das Ringen um die Umsetzung des Friedensvertrages wird mit Gewalt ausgetragen – seit der Unterzeichnung wurden 138 Bürgerrechtler_innen und Aktivist_innen ermordet, die sich für Opferanliegen, Umweltfragen, Landrückgabe, Alternativen zum Drogenanbau, Menschenrechte und andere Fragen stark gemacht hatten.

Das „Integrale System für Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nichtwiederholung” (SIVJRNR) wird nur erfolgreich sein, wenn auch der Friedensvertrag langfristig Bestand hat. Das System enthält als wesentliche Bestandteile die Sondergerichtsbarkeit, die Suchstelle nach Verschwundenen und die Wahrheitskommission. Der Friedensvertrag umfasst darüber hinaus eine Landreform, politische Reformen, Reformen in der Drogenpolitik, die Verringerung des Drogenkonsums sowie das Ende des bewaffneten Konflikts und Demobilisierung. Der Vertrag wird durch Vorschläge der neuen Regierung von Iván Duque gefährdet, der bereits im Wahlkampf angekündigt hatte, den Friedensprozess zwar nicht zu beenden, doch stark abzuändern. Es besteht die Gefahr, dass der Prozess unterfinanziert und dadurch schlecht durchgeführt wird.

Besonders der Transitional Justice-Prozess ist gefährdet

Besonders gefährdet ist die Transitional Justice (TJ), da die Regierungspartei die gemilderten Strafen, die die ehemalige Guerilla innerhalb der TJ erhalten kann, nicht anerkennen möchte und die Mitglieder des Militärs von der Sondergerichtsbarkeit ausnehmen will. Außerdem vernachlässigt die Regierung, so wie bereits ihre Vorgänger, die soziale Reintegration der ehemaligen Kombatant_innen. So wird die ländliche Entwicklung, die Teil der Lösung struktureller Konfliktursachen ist, den besser geförderten, großindustriellen Unternehmen der Agrar- und Ernährungswirtschaft weichen müssen. Im Gegensatz zum arbeitsintensiven Coca-Anbau bieten diese Unternehmen jedoch keine Einkommensquellen für die arme Landbevölkerung der weniger entwickelten Landesteile. Die Schaffung neuer Arbeitsplätze ist daher in den vom Konflikt betroffenen Regionen besonders aussichtslos. Weiterhin ist der Anstieg von Gewalt höchst besorgniserregend. Während sie seit 2012 zurückgegangen ist, ist die Kriminalitätsrate 2018 wieder stark angestiegen.

Infolge dieser Entwicklungen ist die Aussicht auf einen dauerhaften Frieden mit sozialer Integration und mehr sozialer Gerechtigkeit in Kolumbien gefährdet. Das Beispiel Kolumbien zeigt also, wie schwer es ist, eine "tief gespaltene Gesellschaft[en] [durch einen Transformative Justice Ansatz] zu versöhnen", selbst wenn ein umfassender Ansatz wie hier im Friedensvertrag vorliegt.

Das SIVJRNR nicht nur technisch, sondern auch politisch stärken

Die Versöhnungsprozesse und Nichtwiederholungsgarantien, die die Wahrheitskommission und die Stelle für die Verschwundenen in institutionalisierter Form anstreben, benötigen mehr internationalen politischen Rückhalt. Deutschlands derzeitiges Engagement in der Entwicklungszusammenarbeit durch die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) trägt hoffentlich dazu bei, dass die Abstimmung und Kooperation innerhalb des SIVRNR - wie so oft eine Herausforderung in TJ-Prozessen - im Laufe der Zeit besser funktioniert. 

Doch darüber hinaus muss das System vor allem in der Öffentlichkeit deutlich sichtbarer werden. Dafür gibt es konkrete Maßnahmen. Deutschland könnte zum Beispiel darauf dringen, dass der Präsident die Ergebnisse der Wahrheitskommission im Beisein der internationalen Gemeinschaft entgegen nimmt. Öffentliche Kampagnen in allen Teilen des Landes könnten die Legitimität erhöhen. Außerdem darf sich die Sondergerichtsbarkeit nicht alleine auf die Hauptstadt konzentrieren. Deutschland sollte auf die Versuche der kolumbianischen Regierung, der Sondergerichtsbarkeit ihre Kraft zu nehmen, reagieren, indem es der Förderung solcher politikwirksamer Maßnahmen hohe Priorität beimisst.

Transitional Justice nicht überfrachten

In vielen Ländern, auch in Kolumbien, findet TJ nicht in einem Kontext konsolidierter Rechtsstaatlichkeit statt. TJ wird oft selbst als der erste Schritt hin zur Rechtsstaatlichkeit gesehen; weg von einem Herrschaftssystem, das die strukturelle Gewalt (re)produziert. Dieser Anspruch tendiert aber dazu, TJ zu überfrachten.

Der kolumbianische Rechtsstaat weist viele Mängel auf und wird im Land als „hyper-legalistisch” kritisiert: Soziale und politische Diskussionen weisen eine unausweichliche juristische Komponente auf, während juristische Diskussionen häufig eine beachtliche politische Wirkung haben. Gleichzeitig fehlt marginalisierten Bevölkerungsgruppen, die überproportional von Gewalt betroffenen sind, der Zugang zum Recht. Dass innerhalb des SIVJRNR zum ersten Mal in der Geschichte des Landes versucht wird, einen Ansatz zu wählen, der die Opfer der Gewalt in den Mittelpunkt stellt und ihnen den Zugang ermöglicht, ist ein realistischer kleiner Beitrag zu mehr Rechtsstaatlichkeit. Dies kann aber das gesamtgesellschaftliche Defizit in diesem Bereich auf keinen Fall auffangen, zumal die Sondergerichtsbarkeit gesondert vom juristischen Rechtsstaatssystem stattfindet. Wenn es tatsächlich gelingt, den Opfern in absehbarer Zeit in nennenswertem Umfang Zugang zu Recht zu ermöglichen, könnte dies jedoch das gesellschaftliche Engagement für den Prozess der Wiedergutmachung und Nichtwiederholung fördern. 

Verstärkt parlamentarisch arbeiten

TJ-Prozesse stellen die bisherigen Moralvorstellungen eines Landes und damit die gesellschaftliche Ordnung auf den Kopf. In Kolumbien scheint die Bereitschaft zu derart grundlegenden Veränderungen politisch nicht in dem Maße gegeben zu sein, wie es das Friedensabkommen vermuten ließ. Gerechtigkeit, die in der Übergangszeit von der Bevölkerung gefordert wird, hängt stark mit Versöhnung zusammen. Versöhnung wiederum ist eng daran geknüpft, dass gesellschaftliche und politische Beziehungen eingegangen sowie politische Reformen durchgesetzt werden, Regierung und Opposition nach demokratischen Spielregeln handeln und der politische Dialog zwischen Regierung und Zivilgesellschaft auf Augenhöhe stattfindet. Daran arbeiten in Kolumbien auch die deutschen politischen Stiftungen. Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) fördert zum Beispiel die Zusammenarbeit zwischen Kongressabgeordneten, Zivilgesellschaft und Expert_innen. Zudem unterstützt sie eine Gruppe von fast 50 oppositionellen Kongressabgeordneten aus sieben Parteien des Mitte-Links Spektrums, die sich gemeinsam für friedenspolitische und sozialpolitische Themen stark machen.

Die friedensbewegte Zivilgesellschaft in Kolumbien richtet sehr hohe Erwartungen an die internationale Gemeinschaft. Diese wiederum hat besonders mit dem gescheiterten Referendum eigene Ohnmachtserfahrungen gemacht. Deutschland wird jedoch in den Friedensverträgen explizit um Hilfe bei der Übergangsjustiz gebeten. Die politische Ausgestaltung dieses Dilemmas ist nicht einfach. Eine politische Unterstützung der notwendigen Wertetransformationen im Sinne der universellen Menschenrechte kann durch internationale Parlamentarier_innentreffen stärker als bisher im (inter)nationalen Dialog und im Austausch mit der Zivilgesellschaft erfolgen– und nicht ausschließlich als Elitenprojekt. Die FES hat beispielsweise ihre Arbeit zu Sicherheitssektor-Governance in diesem Jahr mit einer breiten Zielgruppe von Parlamentarier_innen, Polizei, Militärs, Akademiker_innen und Vertreter_innen der Zivilgesellschaft intensiviert. Im Dezember findet dazu im kolumbianischen Parlament das erste internationale Parlamentarier_innentreffen mit Vertreter_innen aus Deutschland und Asien zur demokratischen Kontrolle des Sicherheitssektors statt.

Geduld und Pragmatismus lernen

Der kolumbianische Kontext lehrt Geduld und Pragmatismus. Überhöhte Erwartungen an TJ sind nach den Jahrzehnten von Massengräueltaten in Kolumbien fehl am Platz. Stattdessen gilt es, einen Friedensprozess der kleinen Schritte zu gehen und das Land in seiner gesellschaftlichen Transformation auch in den nächsten Jahrzehnten dauerhaft politisch zu begleiten. Oft führen kleine Schritte aus einer Krise, man muss sie aber beherzt gehen. Beispielsweise muss es regelmäßig klare Worte der internationalen Gemeinschaft zur mangelnden Umsetzung und der anhaltenden Gewalt geben. Ein Brief der EU-Staaten 2018 ist ein wichtiges politisches Zeichen und zeigt die gute Abstimmung und Koordination untereinander, geht als vereinzelte Initiative aber in der öffentlichen Diskussion schnell wieder unter.

Zusätzlich zu klaren Aussagen kann die internationale Gemeinschaft dabei helfen, den TJ-Prozess in andere Politikfelder einzubetten, zum Beispiel durch progressive Vorschläge innerhalb der nationalen und internationalen Drogenpolitik (siehe UNGASS 2016). Sie könnte beispielsweise effektive Substitutionsprogramme verstärkt unterstützen und die kolumbianische Regierung auffordern, einen Fokus auf die Klärung der Strafverfolgung von Cocabäuer_innen und die ländliche Entwicklung im weiteren Sinne zu legen. Gleichzeitig sollte sie verhindern, dass eine Strafrechtsreform in Kolumbien TJ-Ansätze konterkariert. Dies geschieht bereits, indem die kolumbianische Regierung etwa das Strafmaß für Drogenbesitz unverhältnismäßig erhöht hat.

Außerdem sollte die internationale Gemeinschaft wie bisher Finanzhilfen an Bedingungen knüpfen. Es besteht die Sorge, die derzeitige Regierung könne den TJ-Prozess finanziell aushungern. Allerdings zeigen sich die internationalen Geber bisher fast geschlossen in ihrer Einstellung, den Prozess nicht zu finanzieren, was unter entwicklungspolitischen Gesichtspunkten richtig ist; schließlich ist Kolumbien seit kurzem Mitglied in der OECD. Es ist besser, friedenspolitische Ziele auf politischem Wege zu erreichen und Finanzierung oder Kredite wie in der Vergangenheit erfolgreich an die Erreichung friedenspolitischer Teilschritte zu knüpfen. Die internationale Gemeinschaft sollte diese Teilschritte für die nächsten Jahren gemeinsam ausarbeiten.

Koordinieren und strategischer denken

In dieser durch verschiedene Politikfelder geprägten komplexen Situation ist es für deutsche Organisationen wichtig, sich gemeinsam die Zeit zu nehmen, einen strategischen Blick nach vorn zu richten. Gelegenheit dazu bieten beispielsweise die Besuche des Sonderbeauftragten für Kolumbien. Die GIZ, die KfW Entwicklungsbank, das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit, das Auswärtige Amt sowie die politischen Stiftungen sollten sich kontinuierlich sowohl in Deutschland als auch in Kolumbien abstimmen und eine wirksamere Strategie zur Unterstützung von Transformationsprozessen vor Ort entwickeln. Dafür braucht es verbindliche Formate.

 

Kristina Birke Daniels ist Landesvertreterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kolumbien.

Der Artikel erschien am 22. November 2018 zuerst auf  peacelab.blog

 


Referat Lateinamerika und Karibik

Kontakt

Mareike Schnack
Hiroshimastr. 28
10785 Berlin

+49 30 269 35-7484
+49 30 269 35-9253

Mareike.Schnack(at)fes.de

Das Referat Lateinamerika und Karibik arbeitet in folgenden Themenfeldern:

  • Soziale Gerechtigkeit
  • Demokratie
  • Sozial-ökologische Transformation
  • Friedens- und Sicherheitspolitik
  • Internationale Politik

Wir fördern den politischen Austausch zwischen Lateinamerika, Deutschland und Europa.

Hier finden Sie unsere thematischen Ansprechpartner_innen

weiter

Kolumbien und Venezuela: so nah und doch so fern

weitere Informationen

COVID 19 and organized crime: »Latin American governments are in a state-making competition with crime«

weitere Informationen

Coca Buena, Coca Mala: Die Drogenproduktion in Peru

weitere Informationen
nach oben