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Junge Stimmen finden im politischen Diskurs oft nicht ausreichend Gehör. Mit einer Textreihe von Stipendiat_innen der FES wollen wir unseren Teil dazu beitragen, dass sie an der strategischen Debatte teilnehmen. Im zweiten Text vergleichen die Autor_innen die historische Entwicklung der Zivilgesellschaften in Russland und der Ukraine.
Kiew, November 2004 – tausende Menschen haben sich auf den Straßen versammelt. Sie demonstrieren gegen Fälschungen bei der Präsidentschaftswahl, die eine Woche zuvor der pro-russische Kandidat Wiktor Janukowytsch gewonnen hat. Erster Gratulant: der russische Präsident Wladimir Putin. Doch die Bevölkerung protestiert. Aus dem ganzen Land strömen Menschen in die Hauptstadt. Ukrainische Prominente und Gäste wie der polnische Friedensnobelpreisträger Lech Wałęsa treten bei Kundgebungen auf. Die Farbe Orange des unterlegenen Kandidaten Wiktor Juschtschenko wird zum Symbol der Bewegung. Nach mehreren Wochen erreichen sie eine Wiederholung der Wahl, die der pro-westliche Juschtschenko gewinnt. Das Volk hat sich durchgesetzt.
Moskau, Dezember 2011 – nach Vorwürfen der Wahlfälschung beim Sieg von Putins Partei ‚Einiges Russland' demonstrieren tausende Menschen. Sie trotzen Minusgraden, Schnee und Übergriffen der russischen Polizei. Unter den Demonstrant_innen ist auch der frühere Vize-Ministerpräsident Boris Nemzow. Doch sie scheitern, ebenso wie mit ihren Protesten gegen Putins Amtseinführung im Mai 2012. Es fehlt an der Unterstützung der breiten russischen Bevölkerung. Sicherheitskräfte beenden die Versammlungen nach kurzer Zeit gewaltvoll. Nemzow bleibt das Gesicht der russischen Opposition, bis er 2015 bei einem Spaziergang nahe dem Kreml erschossen wird. Ermittlungen überführen angebliche Auftragsmörder in Tschetschenien, die Auftraggeber werden nicht identifiziert. Blumen an Nemzows Todesort werden bis heute regelmäßig entfernt, das Gedenken dort konsequent unterbunden.
Lebendige politische Zivilgesellschaften sind ein unabdinglicher Bestandteil offener, demokratischer Gesellschaften. Wie wichtig ihre Existenz ist und was ihr Fehlen für ein Land bedeutet, lässt sich in der Ukraine und der Russischen Föderation gut erkennen. Die Orange Revolution 2004 und die Proteste des Euromaidan 2013/14 in Kiew gegen die Entscheidung von Präsident Janukowytsch, auf russischen Druck ein EU-Assoziierungsabkommen nicht zu unterzeichnen, zeigen, wie unterschiedliche Gruppen gemeinsam ihre Stimmen erheben und ihre Ziele erfolgreich durchsetzen.Im Kontrast dazu stehen die Demonstrationen 2011/12 gegen den Wahlbetrug bei der russischen Präsidentschaftswahl. Obwohl auch hier viele verschiedene zivilgesellschaftliche Akteur_innen zusammenkamen, mangelte es an der Fähigkeit, die Proteste aufrechtzuerhalten. Als direkte Reaktion schränkten bald neue Gesetze die Möglichkeiten des politischen Engagements stark ein.
Russland und die Ukraine – letztere fremdbestimmt – waren jahrhundertelang Teil des russischen Zarenreiches und der Sowjetunion und somit zumindest teilweise historisch gemeinsam geprägt. Um eine Antwort zu finden, ist es notwendig, die jeweiligen Entwicklungen beider Zivilgesellschaften in den vergangenen Jahrhunderte und besonders seit dem Ende des Kalten Krieges zu analysieren. Welchen Einfluss hatte der Westen auf beide Gesellschaften? Welche Lehren können wir aus dem Scheitern zivilgesellschaftlicher Kooperation mit Russland seit 1991 ziehen, um ähnliche Fehler in Zukunft zu vermeiden?
Gefördert, gefeiert – geächtet, unterdrückt: Wo stehen die Zivilgesellschaften heute?
In der Ukraine hat sich nach der Orangen Revolution eine aktive und vielfältige Zivilgesellschaft entwickelt. Ein bedeutender Akteur ist die NGO "Euromaidan SOS", die 2012 entstand und sich seither für die Verteidigung der Menschenrechte und die Unterstützung der Opfer politischer Gewalt einsetzt. Die Organisation wird von internationalen Partnern wie dem Auswärtigen Amt, der EU-Kommission und anderen NGOs wie der International Federation for Human Rights gefördert. Ein weiteres Beispiel ist das 2007 gegründete "Center for Civil Liberties", das sich für den Schutz der Menschenrechte und die Aufklärung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit einsetzt. Es spielt eine wichtige Rolle bei der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen im andauernden Krieg gegen die Ukraine und setzt sich insbesondere für staatliche Rechenschaftspflicht ein. Für seine Arbeit wurde das CCL 2022 mit dem Right Livelihood Award und dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
In Russland hingegen sind die Möglichkeiten für politische zivilgesellschaftliche Initiativen stark begrenzt. Eine Vertreterin ist die während der Glasnost-Ära gegründete Vereinigung "Memorial“. Sie unterstützt politische Gefangene und dokumentiert systematische Menschenrechtsverletzungen. Die Organisation war lange ein Stachel im Fleisch des Moskauer Regimes, sah sich jahrelang Repressionen ausgesetzt und wurde Ende 2021 durch das oberste russische Gericht aufgelöst. Aktuell kann sie ihre Arbeit nur im Ausland weiterführen. Auch andere zivilgesellschaftliche Akteur_innen in Russland haben mit Bedrohung und Repressionen zu kämpfen. 2012 wurden nacheinander zwei Gesetze verabschiedet: Zunächst das „Gesetz über ausländische Agenten“, das es der Regierung erlaubt, unliebsamen Organisationen mit ausländischen Förderern durch starke Einschränkungen die Arbeit erheblich zu erschweren. Außerdem ein Anti-Protest-Gesetz, das durch die Androhung hoher Geldstrafen Menschen vom Demonstrieren abschrecken soll. Im Rahmen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine ab Februar 2022 wurde das Agentengesetz weiter verschärft, sodass sich auch Privatpersonen kennzeichnen müssen. Ihre persönlichen Informationen dürfen zudem veröffentlicht werden, was sie zum Ziel von Einschüchterung und Gewalt machen kann.
Diese Beispiele verdeutlichen die unterschiedlichen Zustände in den Ländern. Während in der Ukraine eine vielfältige politische Zivilgesellschaft existiert, die in der Lage ist, positive Veränderungen herbeizuführen, sind solche Möglichkeiten für Akteur_innen in Russland kaum vorhanden. Repressive Maßnahmen der Regierung haben dazu geführt, dass viele Organisationen ihren Aktivitäten kaum und oft nur verborgen nachgehen können. Dennoch gibt es immer noch mutige Aktivist_innen, die sich trotz aller Widrigkeiten weiter für ihre Ziele einsetzen.
Welche Farbe trägt der Umbruch?
Die Ukraine und Russland haben eine lange gemeinsame Geschichte, die großteils von russischer Hegemonie geprägt ist. Dennoch gab es subtile, aber bedeutende Unterschiede in der gesellschaftlichen Entwicklung beider Länder. In der Ukraine existiert schon lange politische Teilhabe: Bereits die Kosaken des 16. Jahrhunderts pflegten libertäre Werte, die in Divergenz zur Autokratie des russischen Zarenreiches standen. So trafen sie beispielsweise Entscheidungen wie die Wahl ihrer Anführer gemeinschaftlich. Die Kosaken werden in der modernen Ukraine für die zentrale Rolle verehrt, die sie für den Prozess der Nationalitätsbildung gespielt haben. Heutige zivilgesellschaftliche Bewegungen – etwa die Aktivist_innen des Euromaidan – sehen sich explizit in ihrer Tradition.
Im 19. Jahrhundert begannen Teile der ukrainischen Bevölkerung nach nationaler Autonomie vom Zarenreich zu streben. Sowohl dort als auch nach der Oktoberrevolution in der UdSSR wurden die ukrainische Identität und Kultur jedoch systematisch unterdrückt. Um sich gegen die Repressionen zu wehren, organisierte sich die Zivilgesellschaft umso stärker. Diese Erfahrungen prägten das kollektive Bewusstsein der ukrainischen Bevölkerung für zivilgesellschaftliche Teilhabe und schufen eine kritische Haltung gegenüber autoritären Strukturen.
Im Gegensatz dazu war das politische System in Russland jahrhundertelang zunächst auf den Zaren und später die sowjetische Führung konzentriert. Letztere begann bald nach der Oktoberrevolution mit der Gleichschaltung der Gesellschaft und schlug dissidentische Bewegungen brutal nieder. Die kommunistische Ideologie und das Prinzip der Einheit wurden gefördert, um eine homogene Gesellschaft zu schaffen, in der individuelle Freiheiten und pluralistische Organisationen unterdrückt wurden. Diese Zentralisierung der Macht hinderte die Bevölkerung, das gesellschaftliche und politische Leben aktiv mitzugestalten. Die Entwicklung einer eigenständigen Zivilgesellschaft in der UdSSR konnte erst mit der Glasnost-Politik Michail Gorbatschows ab 1986 langsam beginnen. Nach dem Ende des Kalten Krieges hatten sowohl die Ukraine als auch Russland die Chance, sich von der sowjetischen Vergangenheit zu lösen und demokratische Strukturen aufzubauen. Während dies der Ukraine mit der Orangen Revolution – der ersten der sogenannten Farbrevolution – und dem Euromaidan gelang, folgte Russland jedoch einem autoritären Kurs, der die unabhängige Zivilgesellschaft einschränkte.
Ein Blick voraus
Die Zukunftsaussichten beider Länder sind von verschiedenen Faktoren abhängig. In der Ukraine hat die Zivilgesellschaft bereits gezeigt, dass sie positive Veränderungen herbeiführen kann. Trotz bestehender Probleme wie Korruption und politischer Instabilität gibt es ein großes Potenzial für weiteres Wachstum. Eine kontinuierliche Unterstützung der Zivilgesellschaft durch internationale Partner könnte dazu beitragen, Demokratie und Rechtsstaat in der Ukraine zu festigen. Entscheidend für die zukünftige Interaktion von westlicher Seite ist zunächst der Ausgang des andauernden Krieges in der Ukraine. Der Wiederaufbau des Landes darf sich allerdings nicht nur auf politischer und wirtschaftlicher Ebene bewegen. Auch die Zivilgesellschaft wird Unterstützung dringend benötigen und westliche Regierungen sowie NGO sollten sich bemühen, sie zu leisten.
In Russland sind die zivilgesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten aufgrund der Repressionen der Regierung seit 2012 weitaus kleiner. Dennoch gibt es weiterhin couragierte Aktivist_innen, die sich für Veränderungen einsetzen und deren Arbeit gezielte Unterstützung von westlicher Seite verdient, damit eine aktive und fruchtbare Zivilgesellschaft entstehen kann. Die Fehler der ‚Wandel durch Handel‘-Politik der letzten Jahrzehnte dürfen sich nicht wiederholen. Statt sich lediglich auf ökonomische Zusammenarbeit zu konzentrieren, gilt es eng mit zivilgesellschaftlichen Initiativen zu kooperieren. Die Aussichten hierfür hängen hauptsächlich von der Entwicklung des politischen Klimas nach Kriegsende ab.
In beiden Ländern müssen Projekte lang- statt kurzfristig gefördert werden, um einen nachhaltigen Aufbau zu ermöglichen. Die strategische Planung über die Ausrichtung von Programmen sollten Menschen mit Kenntnissen der lokalen Gegebenheiten übernehmen, um zu verhindern, dass internationale Geldgeber die Arbeit mit unrealistischen Ansprüchen erschweren. Das war nach 1991 häufig anders: von westlicher Seite wurde versucht, bei der Förderung der entstehenden Zivilgesellschaften westliche Standards vorauszusetzen. Dabei wurden die Unterschiede maßgeblich unterschätzt. Für die Zukunft wird es entscheidend sein, einander stattdessen auf Augenhöhe zu begegnen.
Die in diesem Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen sind die der Autor_innen und geben nicht unbedingt die Haltung der Redaktion oder der Friedrich-Ebert-Stiftung wieder.
Jennifer Schäffer und Cornelius Lilie sind Stipendiat_innen der Friedrich-Ebert-Stiftung und Teilnehmende der Werkstatt Junge Soziale Demokratie.
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