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Referat Naher/Mittlerer Osten und Nordafrika

"Wenn man handelt, hat man weniger Angst"

Seit der großangelegten russischen Invasion in die Ukraine im Februar 2022 leistet das Land Widerstand. Vor allem zivilgesellschaftliche Organisationen sind für die Versorgung der Bevölkerung und die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft unverzichtbar. Im Zeitenwende-Interview gibt die Aktivistin Kseniia Bukshyna Einblicke in ihre Arbeit.

Die Fragen stellte Felix Kösterke. Das Interview kann hier auch im englischen Original abgerufen werden.

 

Frau Bukshyna, könnten Sie uns Ihre Organisationen kurz vorstellen? Worin besteht Ihre Arbeit und wie ist sie strukturiert?

Ich bin die Gründerin von zwei Nichtregierungsorganisationen (NROs) in der Ukraine. Die eine heißt „Constructive Journalism and New Media Institute“ (Institut für konstruktiven Journalismus und neue Medien). Diese Organisation hat ihre Tätigkeit bereits vier Jahre vor dem großangelegten Angriff Russlands aufgenommen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Medien, Kommunikation und der soziologischen Erforschung sozialer Probleme in der Ukraine. In den letzten Jahren haben wir uns intensiv mit geschlechtsspezifischen Themen und der Agenda Frauen, Frieden, Sicherheit, insbesondere vor dem Hintergrund derjenigen Probleme beschäftigt, mit denen Frauen in der Ukraine konfrontiert sind, nämlich Armut, häusliche Gewalt, starke Belastung durch Kinderbetreuung, Ungleichheit und Missbrauch.

 

Genau deswegen habe ich mit dem Team die zweite Organisation namens „Tak Shtab“ gegründet. „Tak“ bedeutet „Ja“ auf Ukrainisch. Denn mit unserer Arbeit und unserer langfristigen Unterstützung sagen wir „Ja“ zu schutzbedürftigen Frauen in unsicheren Verhältnissen. Die Gründung erfolgte noch am zweiten Tag der Invasion. Mir war einfach klar, dass wir den Menschen hier und jetzt helfen mussten. Wenn man handelt, hat man weniger Angst, und zumindest hat man die Illusion von Kontrolle.

 

Unsere Geschichte begann wie folgt: Wir hatten ein großes Büro im Zentrum von Kiew. Geteilt haben wir es mit einigen weiteren Teams. Es war eine Art „Home-Coworking“. Nach dem Angriff sind viele Leute dort weg, die Räumlichkeiten standen leer. Ich habe den Vermieter kontaktiert und ihn gebeten, uns die Räume ein paar Monate zur Verfügung zu stellen, sodass wir den Keller für die Lagerung von Waren und als einen sicheren Ort im Falle von Angriffen nutzen konnten. Er stimmte zu, und wir verwandelten das Büro in ein humanitäres Zentrum.

 

Wie sah Ihre Arbeit damals aus?

Als wir den Entschluss gefasst hatten, ein humanitäres Zentrum aufzubauen, habe ich das einfach auf Facebook gepostet und den Leuten so mitgeteilt, wo wir waren und dass wir genügen Platz hatten, damit sie Waren liefern oder abholen konnten, falls sie etwas benötigten. So wurden wir zu einer Anlaufstelle für Freiwillige, die vorbeikamen und Waren abholten, um anderen zu helfen oder bei uns mitarbeiteten. Viele Leute haben mich angeschrieben und mir gesagt, dass sie nicht mehr weiter wüssten und keine Ahnung hatten, was sie tun sollten. Oft fragten sie, „können wir bitte einfach zu Euch kommen und bei Euch mitmachen?“

 

In den ersten Wochen haben wir alles gemacht und alles geliefert: Angefangen von Tiefkühlhühnchen über Güter für das Militär bis hin zu Arzneimitteln und Hundefutter. Ungefähr 30 Leute sind in den ersten Tagen zu uns gestoßen. Dank der verschiedenen Erfahrungen und Fähigkeiten der Freiwilligen waren wir auf Zack und haben sehr schnell durchgängig geliefert. Mein großes Glück war, dass ich das richtige Netzwerk an Leuten in der Ukraine kannte und viele hochkompetente Leute mit großen Herzen zu uns stießen. Wir hatten Kreative, die uns halfen konnten wir schnell sichtbar zu werden. Ein Manager brachte Struktur in die Organisation und hat dafür gesorgt einen präzisen und zügigen Arbeitsablauf zu etablieren. Technische Fachkräfte haben die Software für uns entwickelt. Das hat die ehrenamtliche Arbeit erleichtert. Wir konnten uns einfach per Chat organisieren und die Freiwilligen wussten immer, was sie einpacken und ausliefern sollten.

 

Das klingt sehr beeindruckend. Nur wie hat sich Ihre Arbeit dann hin zu einer stärkeren Ausrichtung auf Frauen und deren Bedürfnisse gewandelt?

In der dritten Kriegswoche schrieb mir eine Freundin, die ein Geschäft für Babysachen hat. Sie meinte, sie hätte einige hochwertige Waren, die sie nicht verkaufen konnte. Sie war niedergeschlagen und plante, zusammen mit ihren Kindern die Ukraine zu verlassen. Also wollte sie 200 Packungen Windeln und 150 Packungen Feuchttücher spenden.

 

Ich hatte bereits Erfahrung im zivilgesellschaftlichen Bereich mit einem medialen Onlineauftritt für bewusste Eltern namens Promum. Es ist ein in der Ukraine bekanntes Nischenmedium, das sich mit neuen Ansätzen zur Kindererziehung, Familienbeziehungen und der Geschlechterordnung befasst.

Also haben wir dann Posts in den sozialen Medien veröffentlicht und Frauen gebeten sich zu melden, wenn sie diese Artikel benötigen. Uns war bewusst, dass es Frauen in der Ukraine nicht nur an Sicherheit mangelte, sondern dass sie auch sehr grundlegende Güter benötigten, darunter Babyartikel. Wir versuchten zu helfen. Am nächsten Morgen wachte ich auf und öffnete das Antragsformular. Es waren bereits 5.000 Anfragen eingegangen!

 

Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass wir uns in unserer Hilfe auf Frauen mit Kindern konzentrieren sollten. Die Stärkung der Position der Frau in der Gesellschaft war schon vorher ein Herzensanliegen. In dem Bereich kannte ich mich auch aus. Als ich diese ganzen Anfragen sah, dachte ich: „Oh, Gott, ich brauche ja ganze Laster voller Windeln und Babynahrung!“

 

Zum Glück rief mich ein paar Tage später eine meiner Freund:innen an und sagte mir, dass sie einen LKW für uns hätten. Eigentlich fing es dann so richtig mit diesem ersten Laster an. Es war wirklich ein großes Durcheinander zu Beginn. Wir bekamen so viele Hilfslieferungen und lieferten unglaublich viele Unterstützungspakete aus.  

Seitdem haben wir in den letzten anderthalb Jahren viel verändert, weil wir nach einigen Monaten gemerkt haben, dass wir eine Art von Abhängigkeit bei den Empfängerinnen unserer Hilfe entstehen ließen. Gleichzeitig versuchten wir längerfristig zu denken und unsere Arbeit nachhaltiger zu gestalten. - Dazu mussten wir erstmal die Bedürfnisse unserer Hilfsempfängerinnen besser erfassen.

 

Also haben wir Ende Februar 2022 angefangen, die Frauen zu befragen. Dazu benötigten wir in einem ersten Schritt ca. 1.000 ausgefüllte Online-Umfrageformulare um die entsprechenden Analysen durchführen konnten. Nachdem unsere Umfrage eineinhalb Tage lang online war, hatten wir schon 2.700 Antworten erhalten. Vor uns lagen wirklich viele Probleme und zahlreiche Herausforderungen, aber gleichzeitig sahen wir auch viele Möglichkeiten und die Bewältigungsmechanismen, über die diese Frauen verfügen. Dann begannen wir mit der Feldarbeit. Unsere Soziolog*innen und Sozialarbeiter*innen besuchten und interviewten Mütter in der ganzen Ukraine. Uns wurde klar, dass sich viele Probleme überlagerten. Viele Mütter wurden beispielsweise zu Alleinerziehenden, weil ihre Partner bei der Armee sind oder sie haben ihre Arbeit verloren oder aber sie müssen sich um die ganze Familie kümmern. Die Frauen in der Ukraine hatten schon vor Kriegsbeginn mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Die drastische Situation im sozialen Wohnungsbau macht das Leben von vier Millionen Frauen (Zahl der vertriebenen Frauen in der Ukraine) unerträglich. Es haldet sich um eine drastische Lage: 20 % haben Kinder mit Behinderungen, 77 % haben keine Arbeit und 63 % der Frauen haben Kinder im Alter von unter 3 Jahren. Diese sich überschneidenden Probleme und der anhaltende Krieg zeigten uns deutlich, dass sehr proaktive Maßnahmen ergriffen werden müssen.

 

Außerdem sind die Frauen ständig unterwegs. Dieses Problem bleibt unsichtbar, aber 23 % unserer Hilfsempfängerinnen sind während des Krieges bereits mehr als dreimal umgezogen. Jedes Mal geben sie also Geld aus, wenden Energie auf, kommen an einen neuen Ort und müssen irgendeinen Job oder Unterstützung finden. Das ist ein sehr heikles Problem. Uns wurde klar, dass diese Frauen äußerst gefährdet sind und aufgrund der Militarisierung der Gesellschaft nicht gesehen werden. Selbst wenn es jetzt unabhängige Medien in der Ukraine gibt, bleiben diese Probleme im Verborgenen und werden nicht oft publik gemacht. Außerdem hat die Ukraine, obwohl sie sich in ihrer Verfassung als sozialer Wohlfahrtsstaat bezeichnet, nie ein wirklich starkes Netz der sozialen Sicherheit gehabt, was das Lösen solcher gesellschaftlichen Probleme ausgesprochen schwierig macht.

 

Zu welchem Schluss sind Sie nach Ihrer Recherche gekommen, was den richtigen Ansatz für die Lösung dieser Probleme anbelangt?

Wir haben ein dreistufiges Modell zur Unterstützung dieser Frauen entwickelt. Der erste Schritt heißt TakBox. Hierbei handelt es sich um nachhaltige und maßgeschneiderte humanitäre Unterstützung.. Diese Maßnahme ist sehr kostspielig, zeitaufwendig und verlangt uns schon einiges an Bemühungen ab. Doch nur so kann sich eine Frau wenigstens ein bisschen wohl und sicher fühlen.

 

Im zweiten Schritt führt TakData regelmäßig Umfragen durch, um die Bedürfnisse der Frauen zu verstehen. In der Regel bitten wir diejenigen, die bereits von uns unterstützt werden, unsere Erhebungsbögen auszufüllen und befragen die Frauen auch an ihren Wohnorten in Einzelinterviews. Es ist für uns sehr wichtig, die Dynamik zu sehen und zu verstehen, was gerade vor sich geht. Unser Ziel hierbei ist die Erstellung von Längsschnittstudien. Wir wollen sie mindestens fünf Jahre lang durchführen, da wir wissen, dass es schon vor dem Krieg an Statistiken und Daten mangelte, was sich jetzt nur noch verschlimmert hat.

 

Den dritten Schritt, TakTion, mit dessen Entwicklung wir bereits begonnen haben und den wir 2024 vollständig umsetzen wollen, hat sogenannte „nachhaltige Unterstützungsprogramme“ zum Ziel. Das Programm reicht von psychologischer Betreuung (alle von uns unterstützten Frauen befinden sich in einer eher schwierigen Lage) über Medienkompetenz bis hin zu Förderprogrammen zur beruflichen Weiterbildung. 

 

Mütter haben zwar mit besonders schwierigen Bedingungen zu kämpfen, aber eine sehr wichtige Sache darf dennoch nicht vergessen werden: Der Schlüssel zu ihrer Selbstbestimmung und Machtgleichstellung sind ihre Kinder. Und ich denke, dass dieses Wissen sowohl in Zeiten der Nothilfe als auch zum Wiederaufbau sehr wichtig ist. Kinder sind eine riesige Motivation, selbst für Frauen, die keine Zukunft sehen, die vielleicht gar nichts machen wollen, aber morgens aufwachen müssen, um sich um ihr Kind oder ihre Kinder zu kümmern.

 

Das ist unser Plan und das ist eigentlich auch mein Traum. Ich möchte sehen, wie die Gestaltungs- und Entscheidungsmacht dieser Frauen in ihrem Umfeld gestärkt wird. Das überschneidet sich auch sehr schön mit den 2017 begonnenen Reformen zur Dezentralisierung der Ukraine.

 

Könnten Sie diese Überschneidung näher beschreiben? Was hat Ihr Programm mit diesen Reformen zu tun?

Ich will, dass Frauen in ihrem Umfeld – auch politisch – gestärkt werden, dass sie Schulen leiten, Unternehmen führen und auch höhere Positionen in der Verwaltung mit großen Befugnissen leiten. Forschungsergebnisse zeigen, dass Frauen eherin Bildung, soziales Wohl und ein besseres Leben in ihrem sozialen Umfeld investieren.


Die jetzt einsetzende Stärkung der Frauen in ihrem Umfeld wird in der Zukunft deutlich sichtbar und positiv sein, wenn wir wirklich neue politische Führungskräfte brauchen und wenn uns leider nach dem Ende des Krieges die Männer fehlen werden. Was den Wiederaufbau betrifft, bin ich fest davon überzeugt, dass Frauen in der Ukraine die Macht haben werden, einfach weil sie in der Mehrheit sein werden und viele Männer körperlich und seelisch schwer gezeichnet aus dem Krieg zurückkehren werden. Deshalb halte ich es für sehr wichtig, dass wir in unseren Bildungsprogrammen diese Komponente zur Übernahme politischer Verantwortung vor Ort vorsehen. Denn die ukrainischen Frauen können aufgrund ihrer Widerstandsfähigkeit und ihrer Bereitschaft zu harter Arbeit vieles erreichen. Sie stellen bereits unter Beweis, dass sie sowohl an der Front als auch in der Zivilgesellschaft gleichermaßen kämpfen, um anderen zu helfen. Dennoch gibt es diese Auffassung bzw. dieses in der Gesellschaft verbreitete Klischee und Gefühl so nach dem Motto: „Ich bin eine Frau, ich sollte meinen Platz räumen, um Borschtsch zu kochen oder so was“. Ja, natürlich kann man Borschtsch kochen, aber das heißt ja nicht, dass man unfähig ist, eine Gemeinschaft aufzubauen, um sich mit anderen Frauen zusammenzuschließen.

 

Wir möchten unsere Hilfsempfängerinnen tatkräftig unterstützen, stärken und zu Handlungsfähigkeit verhelfen, damit sie eigenverantwortlich und selbstsicher werden. Ich glaube dabei fest an unser dreistufiges Modell, das sich als effektiv und nachhaltig erwiesen hat. Es ist auch nicht besonders schwer, und es kostet außerdem nicht so wahnsinnig viel Geld. Auf jeden Fall ist es definitiv billiger als ständig nur Kisten mit Hilfslieferungen an Leute zu schicken. Unser Ziel ist nicht nur, Frauen die TakBox zu geben, sondern ihnen dabei zu helfen, nie mehr darum bitten zu müssen.

 

Würden Sie großen internationalen Geldgebern, wie der Bundesregierung oder politischen Entscheidungsträger_innen in Deutschland, empfehlen, diesen Ansatz ebenfalls stärker zu verfolgen? Oder haben Sie andere Vorschläge bzw. Forderungen an die deutschen Entscheidungsträger_innen?

 

Aus meiner Sicht ist das Beste, was getan werden kann, die Stärkung der Institutionen. Hierbei sollte der Schwerpunkt auf der Zivilgesellschaft und auf den Frauenrechtsorganisationen und -anderen Initiativen liegen, die gefährdeten Gruppen helfen. Die Zivilgesellschaft in der Ukraine hat eine erstaunliche Kraft und Stärke bewiesen, indem sie die Probleme vor Ortangeht, für die Menschen eintritt, die dringend benötigte Hilfe erbringt. Doch trotz ihres immensen Einsatzes stehen vor allem Frauen und die von ihnen geleiteten Organisationen vor unterschiedlichen Herausforderungen, angefangen bei psychischen Problemen wie Burnout bis hin zum Mangel an Kapazitäten und Ressourcen, um weiterarbeiten zu können. Sie brauchen also dringend Unterstützung.

 

Zweitens brauchen wir Investitionen in die Forschung. Die notwendige Erforschung sozialer Probleme stand in der Ukraine leider nie im Mittelpunkt. Jetzt sehen wir, wie groß der Bedarf hierfür ist, da wir meist nicht genau wissen, was passiert und wie es sich auf die Zukunft auswirken wird. Die Unterstützung ukrainischer Nichtregierungsorganisationen bei der Erfassung ihrer Hilfsempfänger*innen, dem Verständnis von ihren Bedürfnissen und der konkreten Bestimmung der benötigten Hilfe ist sowohl für die Aufrechterhaltung dieser Hilfe als auch für die Interessenvertretung, die Kommunikation und die Förderung eines Wandels von entscheidender Bedeutung. Ich bin der festen Überzeugung, dass nur eine starke und gut gewappnete Zivilgesellschaft, die über Wissen, Erfahrung und starke Verbündete verfügt, die Ukraine zu Wohlstand und Stärke führen wird.

 

Aus dem Englischen von Jana Zweyrohn.

Weitereführende Links:

Website von TakStab

TakStab Facebook
TakStab Präsentation


Report: Ukrainische Mütter während des großflächigen Krieges: Risikofaktoren und wechselnde Dynamik

 

Kseniia Bukshyna ist eine ukrainische Journalistin, Expertin für Gender-Kommunikation, Sprecherin für Frauenrechte und Gründerin der lokalen ukrainischen NGO TAK. Shtab.


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