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Die gelenkten Wahlen

Unter Ebrahim Raissi wird der Atomdeal vermutlich überleben, doch darüber hinaus werden sich die Beziehungen mit dem Westen schwierig gestalten.

Porträt von Negar Mortazav. Sie hat dunkle, wellige Haare und lächelt.

Bild: Mortazavi

Negar Mortazavi

 

 

Irans ultrakonservativer Justizchef Ebrahim Raissi hat eine der umstrittensten Wahlen des Landes gewonnen. Weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten ging zur Stimmabgabe – die niedrigste Wahlbeteiligung, die die Islamische Republik je verzeichnete.

Alle vier Jahre finden in Iran Präsidentschaftswahlen statt. Sie sind das wichtigste politische Ereignis der Nation. Spannend sind sie insbesondere alle acht Jahre, da dann stets eine neue Regierung ins Amt kommt (aufgrund der Beschränkung der Präsidentschaft auf zwei Amtszeiten). In der Vergangenheit strömten bis zu 85 Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen.

Der Ausschluss vieler Kandidierender, Wahlmüdigkeit, Frustration und Ärger bei den Wählenden sowie die Covid-19-Restriktionen bei Wahlkampfveranstaltungen und in den Wahllokalen führten dieses Mal zu einem Ergebnis, das exakt so vorhergesagt worden war.

Zwar waren auch frühere Wahlen in Iran nicht gänzlich frei oder fair. Dennoch gab es durchaus Wettbewerb, zumindest zwischen den Kandidierenden, die antreten durften. In den vergangenen 25 Jahren seit der Wahl Mohammad Chatamis 1997 bedeutete eine höhere Wahlbeteiligung immer auch mehr Stimmen und einige Erdrutschsiege für die Reformer*innen und Gemäßigten. Nicht zuletzt bei den Präsidentschaftswahlen 2017, als Ebrahim Raissi, der auch damals der Favorit der Hardliner war, deutlich gegen Hassan Rohani verlor.

Die Wahlen dieses Jahres erachten die meisten Reformer*innen jedoch als „gelenkt“. Um Ebrahim Raissis Sieg zu sichern und eine zweite peinliche Niederlage für ihn zu vermeiden, disqualifizierte der Wächterrat alle prominenten reformorientierten und moderaten Rival*innen. Nur zwei unbekannte Gemäßigte durften kandidieren. Zu den Opfern dieses bislang einmaligen Wahlausschlusses gehörten Ex-Präsident Mahmoud Ahmadinedschad, der frühere Parlamentspräsident Ali Laridschani und der aktuelle iranische Vizepräsident Eshagh Jahangiri. Alle drei verfügten über eine starke Basis und hätten Raissi potenziell den Wahlsieg streitig machen können. Doch der Wächterrat schickte jede ernsthafte Konkurrenz aus dem Rennen und machte den Weg frei für einen garantierten Erfolg des favorisierten Hardliners.

Azar Mansouri, die Stellvertretende Vorsitzende der größten iranischen Reformpartei Volkseinheit, berichtete mir, dass der Wächterrat die Mindestbedingungen eines fairen Wettbewerbs eliminiert habe. „Das ist offensichtlich“, sagte sie: „Sie ließen nicht einmal mehr Laridschani zu. Und die beiden verbliebenen gemäßigten Kandidierenden waren machtlos gegenüber der versteckten Regierung (dem tiefen Staat) und ähnlichen Parallelstrukturen. Hätte es irgendein Indiz gegeben, dass auch sie hätten Widerstand leisten können, hätten auch sie ihre Kandidatur zurückziehen müssen.“

Einer dieser wenig prominenten Moderaten, die sich um die Präsidentschaft bewerben durften, ist der frühere Notenbankchef Abdolnasser Hemmati. Der Technokrat in Rohanis Regierungsmannschaft ist wenig charismatisch. Überdies fehlte ihm die politische Unterstützung, um diese entscheidende Wahl zu gewinnen. Die großen Reformparteien verweigerten den offiziell zugelassenen Kandidaten ihre Unterstützung. Nach der Massendisqualifikation durch den Wächterrat verkündeten sie, dass sie sich hinter keinen der verbliebenen Bewerber um die Präsidentschaft stellen würden.

Ebrahim Raissi erhielt kaum mehr Stimmen als 2017. Dieses Mal hatte er jedoch auch keine Konkurrenz. Niemand konnte übersehen, dass die Hardliner es nicht auf einen echten Wettbewerb mit hoher Wahlbeteiligung ankommen lassen wollten. Ihr Ziel war ein garantiertes Ergebnis, das sie mit Hilfe des harten Kerns ihrer Sympathisant*innen erreichen würden.

Mansouri rechnete mir vor, dass Raissi bei dieser Wahl faktisch nur als Zweiter ins Ziel kam: „Bei den letzten Wahlen 2017 erhielt er circa 16 Millionen Stimmen von knapp 28 Prozent der Wahlberechtigten. Rohani gewann mit 24 Millionen Stimmen. Über 50 Prozent der Wählenden wollten ihn im Amt des Präsidenten sehen. Bei der jetzigen Wahl erhielt der Sieger nur 29 Prozent der abgegebenen Stimmen.“

Ebrahim Raissi ist ehrgeizig, und seine Ambitionen gehen, so wird allenthalben vermutet, über die iranische Präsidentschaft hinaus. Er gilt als einer der potenziellen Nachfolger des Obersten Führers der Islamischen Republik, Ayatollah Ali Chamenei, und ist überdies der Favorit der Revolutionsgarde, ihres Geheimdienstes und ihrer Polizei. Auch Chamenei war einst Präsident, bevor er in das Amt des Revolutionsführers aufrückte. Offenbar wollen Ebrahim Raissi und die mächtigen Männer, die ihn unterstützen, dem gleichen Weg folgen: vom Präsidentensitz ins Amt des Obersten Führers der Islamischen Republik.

Viele Iranexpert*innen und Politiker*innen glauben, dass Donald Trumps Politik des „maximalen Drucks“, der Rückzug aus dem Atomabkommen, die verheerenden Wirtschaftssanktionen, militärische Spannungen und der Mord an einem hohen iranischen General und Atomwissenschaftler Iran weiter nach rechts gedrängt haben. Gemäßigte und diplomatische Ansätze befürwortende Stimmen wurden zur Zeit der Trump Administration geschwächt, die Hardliner und Militaristen im Land bekamen Aufwind. Der politische Raum wird zunehmend von der Sicherheit geprägt.

Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen erzielten amerikanische und iranische Diplomat*innen in Wien Fortschritte bei den Gesprächen über eine Rückkehr zum iranischen Nukleardeal (JCPOA), den Präsident Trump 2018 aufgekündigt hatte. Obwohl Raissi aus dem Lager der JCPOA-Gegner*innen in Iran kommt, äußerte er kürzlich Unterstützung für die Verhandlungen. Wenn eine Einigung über das Atomabkommen erzielt werden kann, ist zu erwarten, dass das Land sich nach seinem Amtsantritt im August an seine Verpflichtungen hält. Trotz Raissis Vergangenheit als Hardliner und seinem Rückhalt in den relevanten politischen Strömungen Irans ist von dieser Kontinuität auszugehen, denn der Vertrag existiert ja bereits und hat auch die Zustimmung des Revolutionsführers.

Überdies bleiben noch ein paar Wochen der Amtszeit von Präsident Rohani, bis Raissi Anfang August die Präsidentschaft übernehmen wird. Wenn es dem aktuellen Verhandlungsteam unter der Leitung von Rohani und Außenminister Javad Zarif gelingt, den Deal davor unter Dach und Fach zu bringen, hat er eine gute Chance, zu bestehen.

Zukünftige Gespräche über Themen, die über den JCPOA hinausgehen und Fragen des iranischen Atomprogramms, die Raketen oder die Regionalpolitik betreffen, werden unter einem Hardliner an der Spitze des Staates jedoch schwieriger werden. Raissi unterliegt Sanktionen der Vereinigten Staaten wegen seiner mutmaßlichen Rolle als Mitglied des „Todeskomitees“ bei der Massenhinrichtung von Tausenden politischen Gefangenen 1988. Seine erzkonservativen Ansichten und seine früheren Menschenrechtsverstöße werden die Beziehung seiner Regierung mit dem Westen belasten.

Der in Teheran lebende iranische Journalist Masoud Bastani geht davon aus, dass Raissi einen harten Kurs gegen den Westen fahren wird. „Seine erste Maßnahme war die Ernennung Ali Baheir Kanis als Repräsentant im Außenministerium. Kani fungierte als Saeed Jalilis Stellvertreter bei den gescheiterten Verhandlungen zwischen Iran und dem Westen. Und während Raissi sich bei der Pressekonferenz bemühte, den Saudis grünes Licht zu signalisieren, erklärte er explizit, dass er nicht zu einem Treffen mit dem amerikanischen Präsidenten bereit sei“, berichtete Bastani mir.

Ebrahim Raissis Präsidentschaft wird vermutlich an die Ära Mahmoud Ahmadinedschad erinnern, in der es zwar Atomgespräche gab, diese jedoch ergebnislos blieben, während die Beziehungen zum Westen zunehmend von Konflikten geprägt waren. Dies wird sich negativ auf die von Präsident Joe Biden geforderten Folgeverhandlungen auswirken. Biden strebt eine Rückkehr zum Atomabkommen, mehr Diplomatie und neue Vereinbarungen mit Iran an.

Die iranisch-westlichen Beziehungen werden von Spannungen im Verhältnis zu den USA massiv beeinträchtigt. Teheran und Washington sind seit 30 Jahren gefangen in einem Kreislauf, der permanent von schlechtem Timing erschwert wird. Präsidenten, die sich in Iran für bessere Beziehungen zu Amerika engagierten trafen immer wieder auf Falken im Weißen Haus, und wenn diplomatiefreundliche amerikanische Spitzenpolitiker*innen Teheran die Hand reichen wollten, wurden sie dort von diplomatiefeindlichen Kräften, die gerade die Macht übernommen hatten, zurückgewiesen. Als Reformpräsident Mohammad Chatami dem Westen einen diplomatischen Kurs anbot, kollidierten seine Bemühungen mit George Bushs berüchtigter Rede von der „Achse des Bösen“. Als Barack Obama über Verhandlungen mit Iran sprach, bestimmte Mahmud Ahmadinedschads Antiamerikanismus die iranische Politik.

Nach einer Amtszeit Donald Trumps und Joe Bidens Einzug ins Weiße Haus gab es kurz eine Chance, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Joe Biden und Hassan Rohani hatten jedoch nur wenige Monate von Januar bis Juni Zeit, um rasch zum Atomabkommen zurückzukehren und damit die iranische Wirtschaft anzukurbeln. Die Lage vieler Iraner*innen hätte sich dadurch deutlich verbessern können. Vor diesem Hintergrund und mit der aktiven Beteiligung der Wähler*innen hätte wieder ein Moderater Präsident Irans werden können. In Teheran und Washington wäre das für vier oder sogar acht Jahre eine gleichzeitige Amtsführung von Präsidenten gewesen, die sich für eine Verständigung einsetzen. Sie hätten auch in Fragen jenseits des Atomprogramms Fortschritte erzielen und die nunmehr seit vierzig Jahren bestehenden Spannungen zwischen den Ländern abbauen können. Mit der Wahl Ebrahim Raissis wenige Monate nach dem Amtsantritt Joe Bidens wird der lange Zyklus der schlechten zeitlichen Koordination von Iran und USA jedoch vermutlich eine Fortsetzung finden.

 

 

Negar Mortazavi ist eine iranisch-amerikanische Journalistin und politische Analystin mit Sitz in Washington DC. Sie berichtet seit mehr als einem Jahrzehnt über iranische Angelegenheiten und die Beziehungen zwischen den USA und Iran. Mortazavi ist Kolumnistin für The Independent und Gastgeberin des Iran Podcasts. Sie analysiert die Medienberichterstattung zum Thema Iran und US-Außenpolitik und berichtete für CNN, MSNBC, NPR, BBC, France24, Al Jazeera und andere Medien aus dem Nahen Osten, Asien und Lateinamerika. Friends of Europe, New America und der National Iranian American Council zeichneten sie als „Young Leader“ aus. Forbes ehrte sie als „inspirierende Frau“.

Auf Twitter: @NegarMortazavi

 

 


Über diesen Blog

Unser Blog möchte eine vielschichtige Debatte zu den iranischen Präsidentschaftswahlen am 18. Juni bieten. Hierzu wirft er Schlaglichter auf Aspekte, die für Iraner*innen im Kontext der Wahlen wichtig sind, ebenso wie auf Grundsätzliches, etwa der Frage nach der Bedeutung von Wahlen in einem autokratischen System. Beachtung finden auch die Perspektiven ausgewählter Regionalakteur*innen.

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David Jalilvand ist Analyst und leitet die Berliner Research Consultancy Orient Matters

Achim Vogt verantwortet das FES-Projekt Frieden und Sicherheit in der MENA-Region.

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