Friedrichs Bildungsblog
Mehr Inklusion wagen: Zur Rolle von Politischer Bildung für die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention
Vor diesem Hintergrund kommen der Politischen Bildung und insbesondere der Menschenrechtsbildung eine wichtige Rolle zu, da in ihr die Auseinandersetzung mit Inklusion und Behindertenrecht nicht nur den Abbau von Barrieren beinhaltet, sondern auch Wissen um Inklusion und Empowerment der Betroffenen berücksichtigt werden. Für eine nachhaltige Implementierung inklusiver Strukturen ist es daher notwendig, diese Themen verstärkt in die Schulcurricula zu integrieren.
Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung von Behinderung und Inklusion
Inklusion lautet einer der führenden Begriffe in den bildungspolitischen Debatten der vergangenen Jahre. Neben der Digitalisierung der Schule zählt die Inklusion von Schüler-/innen mit Behinderung zu den Top-Themen der aktuellen bildungspolitischen Diskussionen. Doch trotz eindeutiger Vorgaben in der Behindertenrechtskonvention (BRK) der Vereinten Nationen (UN) ist Deutschland von umfassender schulischer Inklusion noch weit entfernt (Powell et al. 2016). Dies zeigt sich in den großen bundesländerspezifischen Unterschieden hinsichtlich der Beschulung von Schüler-/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf an allgemeinen Schulen, mit Anteilen für die Sekundarstufe I von 6,7 % in Hessen und Nordrhein-Westfalen bis zu 44,3 % in Schleswig-Holstein (Schipolowski et al. 2019). Es verwundert daher nicht, dass das Deutsche Institut für Menschenrechte (2019) in seinem Bericht zur Zwischenbilanz zu zehn Jahren Behindertenrechtskonvention (BRK) einen „Pakt für Inklusion“ zwischen Bund und Ländern fordert, ähnlich dem in diesem Jahr verabschiedeten Digitalpakt.
Gerade in einem Land wie Deutschland, das eine lange Tradition fest institutionalisierter Förderschulstrukturen hat, sind die Vorbehalte gegenüber einer umfassenden Umwälzung des Schulsystems hin zu mehr Inklusion nur schwer abzubauen. So wird zumeist argumentiert, dass den „betroffenen“ Kindern am meisten geholfen wäre, wenn in eigens dafür geschaffenen Förderschulen ihren je individuellen Bedürfnissen gezielt entsprochen werden könne, um sie bestmöglich zu fördern und an die Gesellschaft anzupassen (Powell 2009). Diesem Ansatz liegt jedoch ein Verständnis von Behinderung zugrunde, das die Ursache für die Exklusion in einem körperlichen Defizit der behinderten Person sieht. Von Behindertenverbänden und vielen Wissenschaftler-/innen wird der Begriff aus diesem Grund abgelehnt. Alternativ setzt sich mittlerweile ein soziales und auf Rechte fokussierendes Modell durch, das die von der Gesellschaft konstruierten Barrieren in den Mittelpunkt stellt und deren gesamtgesellschaftlichen Abbau postuliert (Oliver und Barnes 1998). Zwar wird die Behinderung je nach Form immer noch an bestimmte körperliche Beeinträchtigungen geknüpft, die daraus entstehenden Barrieren jedoch auf das gesellschaftliche (Nicht-)Handeln zurückgeführt (Bielefeldt 2009). Inklusion kann sich nach diesem Verständnis auf den Abbau aller Barrieren beziehen, die die gesellschaftliche Teilhabe marginalisierter Gruppen behindern (Achour 2017).
Behindertenrechte und Inklusion als globaler Auftrag
Vor diesem Hintergrund kommt der BRK, die 2006 durch die UN verabschiedet und 2009 von Deutschland ratifiziert wurde, eine besondere Rolle zu. Als erstes Übereinkommen, das als Menschenrechtsvertrag rechtlich bindend ist, stellt sie die Rechte behinderter Menschen in den Vordergrund behindertenpolitischer Überlegungen (Degener und Begg 2017). Weniger sollen Strukturen geschaffen und aufrechterhalten werden, in denen Menschen mit Behinderung in separaten Räumen lernen, arbeiten und leben. Vielmehr zielt die Konvention darauf ab, die Rechte von Menschen mit Behinderung auf eine vollständige gesellschaftliche Teilhabe sicherzustellen, mit allen hierzu notwendigen Maßnahmen.
Dass die BRK und ihre Forderungen im Bildungssystem wie auch in der Politischen Bildung zunehmend berücksichtigt werden, liegt daher nicht zuletzt an der UN, die als Schirmorganisation die Implementierung der Konvention überwacht und im Zuge verschiedener Initiativen in enger Kooperation mit der Zivilgesellschaft Aufmerksamkeit für Inklusion schafft. Dabei spielen insbesondere globale Netzwerke aus Abteilungen der UN und verschiedenen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren eine wachsende Rolle, um die Forderungen der BRK weiter zu verbreiten und bestehende förderliche Bündnisse zu stärken (Schuster et al. 2019).
Inklusion als Thema der Politischen Bildung
Inklusion stellt eines der zentralen Bestandteile der BRK dar. In der öffentlichen Wahrnehmung am weitesten verbreitet ist die Inklusion von Schüler-/innen in das allgemeine Schulsystem. Das Übereinkommen verpflichtet seine Mitgliedsstaaten nach Artikel 24 dazu, „ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen“ zu gewährleisten (Schattenübersetzung der BRK; Netzwerk Artikel 3 2018). Die aktuellen Forderungen nach Inklusion – sowohl von Menschen mit Behinderung als auch von anderen marginalisierten Gruppen – hat daher weitreichende Implikationen für die Bildungssysteme der Mitgliedsstaaten. Dies gilt insbesondere auch in Bezug auf Politische Bildung. Das verhältnismäßig neue Konzept der Menschenrechtsbildung hat durch die UN-Erklärung über Menschenrechtsbildung und -training zusätzlichen Auftrieb erhalten und hält zunehmend Einzug in die Schulcurricula. Das Konzept umfasst dabei so verschiedene Dimensionen wie die Bereitstellung von Wissen um die verschiedenen Menschenrechte und ihre Grundlagen, das Empowerment, um die eigenen Rechte ebenso wie die der anderen wahrzunehmen und zu achten, aber auch die Beachtung der Rechte aller Lernenden und Lehrenden in den verschiedenen Lernumgebungen (Reitz und Rudolf 2014). Dies lässt sich auch auf das Themenfeld Inklusion übertragen: So muss Inklusion über die bloße Partizipation exkludierter Gruppen hinausgehen und stattdessen als Thema der Politischen Bildung ebenso die Vermittlung von Wissen über Behindertenrechte und ihre Instrumente, als auch die aktive Unterstützung bei der Durchsetzung dieser beinhalten. Eine solche ganzheitliche Betrachtung ist notwendig, damit die BRK als das Hauptinstrument zur Beseitigung von Barrieren gesellschaftlicher Teilhabe nachhaltig wirken kann.
Mehr Inklusion in die schulische Politische Bildung
Damit diese Mechanismen jedoch greifen können, ist es zwingend notwendig, den Anteil behindertenrechtlicher und inklusionsbezogener Inhalte in den Curricula zu erhöhen. Diese Forderung betrifft allerdings nicht nur die Menschen- bzw. Behindertenrechtsbildung, sondern die Politische Bildung als Ganzes. Um langfristig inklusive Bildung flächendeckend umsetzen zu können, benötigen Politische Bildung und Menschenrechtsbildung mehr Raum in Bildungsprogrammen und Curricula. Dafür müssen diese zwingend in den Schulgesetzen der Länder verankert werden, wie Sandra Reitz und Beate Rudolf fordern (Reitz und Rudolf 2014). Nur so können die drei Dimensionen der Menschenrechtsbildung gleichermaßen besetzt und Deutschland als Mitgliedsstaat auch seinem Auftrag gegenüber der BRK hinsichtlich der Themen Inklusion und Behindertenrechte gerecht werden.
So kann es gelingen, nicht nur die Erfüllung der strukturellen bildungspolitischen Vorgaben der BRK hinsichtlich einer inklusiven Beschulung in den Mitgliedsstaaten voranzubringen, sondern darüber hinaus Möglichkeiten zu schaffen, durch (schulische) Politische Bildung auch Artikel 8 der BRK gerecht zu werden. Dieser fordert „sofortige, wirksame und geeignete Maßnahmen“, um „ in der gesamten Gesellschaft (…) das Bewusstsein für Menschen mit Behinderung zu schärfen, (…) Vorurteile und schädliche Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderung (…) zu bekämpfen (…) [und] das Bewusstsein für die Fähigkeiten und den Beitrag von Menschen mit Behinderung zu fördern“ (UN-BRK 2008). Auch die UN und andere internationale wie nationale zivilgesellschaftliche Akteure werden weiterhin gefordert sein, die Bedeutung von Menschenrechtsbildung im Hinblick auf Behindertenrechte zu verdeutlichen, damit dieses Thema zukünftig in Schulgesetzen verankert wird.
Fazit
Obwohl die inklusive Beschulung aller Schüler-/innen seit Verabschiedung der BRK völkerrechtlich festgeschrieben und damit auch für Deutschland als Mitgliedsstaat bindend ist, verändert sich das Bildungssystem in dieser Hinsicht nach wie vor eher zögerlich. Um Inklusion nachhaltig und langfristig zu implementieren, genügt es daher nicht, nur die strukturellen Vorgaben eines inklusiven Bildungssystems zu diskutieren. Vielmehr ist es unabdingbar, die Themen Inklusion und Behindertenrecht noch stärker in Schulcurricula zu integrieren. Dazu zählt insbesondere die systematische Berücksichtigung in der Politischen Bildung, um Wissen über Behindertenrechte zu vermitteln sowie exkludierte Gruppen zu ermächtigen, ihre Rechte durchzusetzen.
Zu den Autor_innen
Johannes Schuster ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Bildungsforschung und soziale System der Freien Universität Berlin.
Nina Kolleck (Prof. Dr.) leitet den Arbeitsbereich für Bildungsforschung und soziale Systeme an der Freien Universität Berlin.
Literaturverzeichnis
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