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Fehlstart. Um Partner zu werden, müssen sich Europa und Asien besser verstehen

Die Debatte um den russischen Krieg in der Ukraine hat die Spaltung zwischen dem Westen und vielen Ländern des globalen Südens offengelegt. Marc Saxer berichtet, wie 10 asiatische Vordenker_innen die geopolitischen Konflikte in Europa und im Indo-Pazifik interpretieren.

Der russische Krieg in der Ukraine rüttelt an den Grundfesten der europäischen Sicherheitsordnung. Die kontroverse Debatte über die richtige Antwort auf diesen Völkerrechtsbruch hat die Kluft zwischen dem Westen und vielen Ländern des globalen Südens offengelegt. Denn nach dem Ende des unipolaren Moments hat der Wettlauf um die besten Positionen in der neuen Weltordnung begonnen. Und wie diese aussehen wird, wird weniger von einem Krieg in Europa als vom geopolitischen Wettbewerb im und um den Indo-Pazifik, dem neuen Kraftzentrum der Welt, entschieden. 

Mehr als genug Stoff also für eine ehrliche, aber konstruktiv geführte Diskussion einer Delegation von Expertinnen und Experten aus 10 asiatischen Ländern und ihren Gegenübern in Brüssel und Berlin. In der Summe wurde deutlich, dass Asien und Europa viele gemeinsame Interessen haben, die das Fundament einer engeren Zusammenarbeit bilden können. Allerdings wurde auch mit Ernüchterung festgestellt, dass die „Strategischen Partnerschaften“ der letzten beiden Jahrzehnte eher Kopfgeburten waren, die ihren ersten echten Belastungstest nicht bestanden haben. Um die neuen Partnerschaften im Indo-Pazifik mit Leben zu erfüllen, müssen beide Seiten zunächst ihre Hausaufgaben machen. Und dazu gehört, die unterschiedlichen Risikoeinschätzungen, geoökonomischen Verwundbarkeiten und geostrategischen Traditionen der potentiellen Partner viel besser zu verstehen. Der folgende Bericht versucht einige Schlaglichter auf die Bereiche zu setzen, an denen noch gearbeitet werden muss.

Oberflächlich gibt es viel Übereinstimmung. Alle Seiten wollen die regelbasierte internationale Ordnung aufrechterhalten und verurteilen Verstöße gegen das Völkerrecht und die universellen Prinzipien der VN Charta. Niemand möchte einen neuen Kalten Krieg. Alle lehnen das Entstehen von Binarität, Bipolarität und Blöcken ab. Rufe nach wirtschaftlicher Entkopplung werden mit Sorge gesehen. Niemand will sich für eine Seite entscheiden müssen. Der politische Wille, zur Verteidigung der regelbasierten internationalen Ordnung enger zusammenzuarbeiten, ist eindeutig vorhanden. Dem Anschein nach also Übereinstimmung zwischen Europa und Asien auf allen strategischen Ebenen.

Unter der Oberfläche werden jedoch Risse sichtbar. Zur großen Enttäuschung der europäischen Länder enthielten sich einige asiatische Mitgliedsstaaten bei der Abstimmung über die Resolutionen A/ES-11/L.4 (Aussetzung der Mitgliedsrechte der Russischen Föderation im Menschenrechtsrat vom 7. April 2022) und A/EA-11/ L.5 (Territoriale Integrität der Ukraine: Verteidigung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen vom 12. Oktober 2022), während andere sogar dagegen stimmten. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wiesen darauf hin, dass dieses Abstimmungsverhalten keineswegs Unwissenheit oder gar eine Unterstützung für die von Russland begangene Verletzung der VN-Charta widerspiegle, wie es in Europa oft wahrgenommen werde. Es zeige vielmehr unterschiedliche Risiken auf, denen diese Mitgliedsstaaten aufgrund ihrer geographischen Lage ausgesetzt seien, sowie unterschiedliche historische, politische und wirtschaftliche Beziehungen oder abweichende nationale Interessen. Das europäische Unverständnis – bis hin zur Unkenntnis - für diese Positionen wurde als Grund dafür aufgeführt, warum die „Strategischen Partnerschaften“ der Nuller Jahre ihren ersten Stresstest nicht bestanden. Oder, um es positiver auszudrücken: Damit strategische Partnerschaften in Zukunft besser funktionieren, muss die Kluft zwischen unterschiedlichen geostrategischen Traditionen, Risikoeinschätzungen, und nationalen Interessen überwunden werden.

Europa und Asien ziehen unterschiedliche Lehren aus dem Ukrainekrieg. Die russische Invasion sowie die Annexion von Teilen des Staatsgebiets des souveränen Staates Ukraine wurde einhellig als Völkerrechtsbruch verurteilt. Allerdings wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die Mehrzahl der asiatischen, aber auch der westlichen Länder im Rahmen der „Ein-China-Politik” Taiwan als Teil der Volksrepublik China betrachten. Analogien zwischen der Ukraine und Taiwan verböten sich demnach. Allerdings gingen auch innerhalb der Delegation die Meinungen darüber auseinander, wie eine angemessene Reaktion aussähe, falls China versuchen sollte, die „Wiedervereinigung” mit Taiwan mit Gewalt erzwingen zu wollen. Befürworter_innen einer robusten Haltung trafen hier auf die weit verbreitete Sorge, in einen heißen Konflikt in der unmittelbaren Nachbarschaft hineingezogen zu werden.  

Dies deutet auf weitere Diskrepanzen in der Wahrnehmung von Bedrohungen in Europa und Asien hin. Die europäische Sorge über den Aufstieg eines nach innen autoritären und nach außen aggressiven China wurde von einigen asiatischen Delegationsmitgliedern relativiert. Immer wieder wurde darauf verwiesen, dass China unverzichtbar für die wirtschaftliche Entwicklung sei, während die Vereinigten Staaten als Sicherheitsgarant unersetzlich seien. Es werden also weder die USA noch China per se als Bedrohung gesehen, sondern vielmehr der immer härter werdende strategische Wettbewerb zwischen beiden. Dieser Unwille, sich für eine Seite zu entscheiden, ist auch in Europa weit verbreitet. Hierin liegt eine Chance für eine stärkere Annährung.

Während man sich in Europa und Asien weitgehend darüber einig ist, dass man Blöcke und Bipolarität ablehnt, gibt es Diskrepanzen beim Thema Binarität („binaries“). Viele Europäerinnen und Europäer, nicht zuletzt in Deutschland, interpretieren den aufflammenden Wettbewerb zwischen Großmächten als systemische Rivalität zwischen Demokratien und Autokratien. Daher fordern einige eine engere Zusammenarbeit mit „Wertepartnern” und eine „robustere” Haltung gegenüber Autokraten. Diese Dichotomie zwischen Demokratien und Autokratienstößtin Asien auf breite Ablehnung. Für die potenziellen „Wertepartner” spielt die Förderung der Demokratie nur eine Nebenrolle im Vergleich zu dringenderen geopolitischen und geo-ökonomischen Sorgen. Die Bildung einer „Allianz der Demokratien“, um den Einfluss einer „Achse der Autokratien” einzuhegen, birgt zudem das Risiko, potenzielle Partner zu verprellen, die zur Bekämpfung globaler Herausforderungen vom Klimawandel über Pandemien bis hin zur Verteidigung der regelbasierten multilateralen Ordnung benötigt werden. Selbst in den USA glauben daher viele Kritiker, dass der Versuch, eine Allianz der Demokratien zu bilden, geopolitisch mehr Schaden als Nutzen gebracht habe. Deutschland sollte deshalb nicht überrascht sein, wenn seine asiatischen Partnerländer der wertebasierten Außenpolitik die kalte Schulter zeigen. Was sich die große Mehrheit der Delegationsmitglieder wünscht ist dagegen ein europäisches Engagement, das die Spannungen in der Region nicht verschärft, sondern abbaut, indem Gemeinsamkeiten und Bereiche für eine engere Zusammenarbeit betont werden.

Das wichtigste gemeinsame Interesse Asiens und Europas ist die Sicherung der regelbasierten multilateralen Ordnung. Es besteht jedoch Uneinigkeit darüber, was eine solche regelbasierte multilaterale Ordnung eigentlich bedeutet. Europäerinnen und Europäer unterstreichen eher die Notwendigkeit, die „liberale Weltordnung“ mit einem Kern aus Demokratie und Menschenrechten aufrecht zu erhalten. Das bedeutet unter anderem, das Mandat des Menschenrechtsrates zu verteidigen, die Internationale Strafgerichtsbarkeit auszuweiten und der Schutzverantwortung (R2P) gerecht zu werden, also der Verpflichtung zum Schutz vor besonders schweren Menschenrechtsverletzungen, die beim VN-Weltgipfel 2005 eingegangen wurde. Das in Asien vorherrschende Verständnis der regelbasierten Ordnung ist das Westfälische System, welches die Grundsätze der Souveränität, der Nicht-Einmischung, der territorialen Integrität und der friedlichen Konfliktlösung betont. Die liberalen und westfälischen Prinzipien überschneiden sich natürlich, und sind in der VN-Charta und anderen Schlüsseldokumenten des Völkerrechts - wie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der Genfer Konventionen - verankert. Wie die jahrzehntelange Kontroversen über „humanitäre Interventionen“ zeigen, können sie allerdings auch im Widerspruch zueinander stehen. Und wie die Reaktionen auf den Krieg in der Ukraine zeigen, sind manche asiatische Mitgliedsstaaten zwar durchaus gewillt, die politischen und wirtschaftlichen Kosten für die Verteidigung der Westfälischen Grundsätze der VN-Charta zu tragen. Die Bereitschaft, sich für die liberalen Werte der Demokratie und der Menschenrechte einzusetzen, ist dagegen schwach ausgeprägt, insbesondere wenn dafür Einschränkungen der eigenen Souveränität in Kauf genommen werden müssten. Ganz im Gegenteil sind viele überzeugt, dass es gerade der westfälische Grundsatz der Nicht-Einmischung ist, der ASEAN zur wichtigsten Plattform für Konfliktlösung und Zusammenarbeit in Asien macht.   

Europa braucht ein differenzierteres Verständnis für die unterschiedlichen Strategien, die größere und kleinere Mächte in Asien verfolgen. Einige legen ihre Priorität auf die eigene Entwicklung, und haben daher ihr Wohl und Wehe an die Wirtschaftslokomotive China gekoppelt. Andere sorgen sich um ihre Sicherheit, und schließen Bündnisse als Gegengewicht zu einem als bedrohlich empfundenen China. Die Mehrheit strebt dagegen nach einem Gleichgewicht zwischen ihren Beziehungen zu China und den USA, um geopolitische Risiken zu kontrollieren und zugleich von beiden Seiten zu profitieren. Die wirtschaftliche, kulturelle und politische Kooperation mit Europa wird von allen Seiten willkommen geheißen. Wie das sicherheitspolitische Engagement Europas in der Region beurteilt wird, hängt dagegen von der strategischen Aufstellung der Länder ab. Einige Länder rufen nach eine größeren Engagement Europas, weil sie sich davon erhoffen, die Europäer als Verbündete für die Ausbalancierung Chinas zu gewinnen. Vor allem in Deutschland tendieren einige dazu, einseitig auf diese Rufe nach einem stärkeren Sicherheitsengagement aus manchen Ländern zu fokussieren, überhören dabei aber, dass die Rezeption deutscher Vorstöße in den Indo-Pazifik bei anderen potentiellen Partnern deutlich kühler ausfällt. Denn nicht wenige asiatische Staaten reagieren allergisch auf alles, was bestehende Spannungen eskalieren lassen könnte. Von deutscher Seite wurde mehrfach unterstrichen, dass man mit den Fregattenbesuchen und Luftmanöverteilnahmen vor allem ein Symbol für die Geltung des (See-) Völkerrechts setzen wollte. So manchen in der Delegation beschlich dabei allerdings das Gefühl, die Deutschen wüssten selber nicht so genau, was sie mit diesen symbolischen Einsätzen eigentlich signalisieren wollten. Denn allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz wird das sicherheitspolitische Engagement Europas meist als Signal wahrgenommen, sich einer china-kritischen Allianz anschließen zu wollen.

Die unterschiedlichen Strategien asiatischer Mächte sind tief in geopolitischen Traditionen, geoökonomischen Verwundbarkeiten und nationalen Interessen verwurzelt. Es ist deshalb keine leichte Aufgabe, die Kluft zwischen Asien und Europa so weit zu überbrücken, dass daraus Partnerschaften entstehen können. Eine Zusammenarbeit zwischen Europa und Asien ist jedoch dringend notwendig, um zu vermeiden, dass der geopolitische Wettbewerb außer Kontrolle gerät und die Voraussetzungen für wirtschaftliche Entwicklung und politische Kooperation bei der Bekämpfung globaler Herausforderungen zerstört. Erleichtert wird die strategische Konvergenz durch die Angewiesenheit beider Regionen auf offene Märkte und funktionierende Lieferketten, sowie den politischen Willen, die regelbasierte multilaterale Ordnung zu sichern. Damit diese strategische Zusammenarbeit Früchte tragen kann, ist es jedoch notwendig, sich zunächst mit den oben dargelegten Diskrepanzen zu befassen.

 

Marc Saxer ist der Leiter des FES-Büros für Regionale Zusammenarbeit in Asien. Zuvor leitete er das Asien und Pazifik Referat der Stiftung sowie die FES-Büros in Indien und Thailand.

Der Artikel erschien im Original am 10.01.2023 in englischer Sprache auf asia.fes.de.


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