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"Es ist wichtig, einander zuzuhören und voneinander lernen zu wollen"

Wie diskutieren Vertreter_innen der Zivilgesellschaft das Thema Migration und Integration? Darüber spachen wir mit Lars Castellucci.

Bild: Lars Castellucci von spdfraktion.de

FES: Im Zentrum der Tagung „Gut zusammen leben“, bei der am 21. März 2019 die Bundestagsfraktion der SPD mit Vertreter_innen der Zivilgesellschaft das Thema Migration und Integration diskutierte, stand die Frage nach dem guten Zusammenleben aller Menschen in unserer Gesellschaft. Welche Erkenntnisse nehmen Sie als migrationspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion aus den Vorträgen und Diskussionen mit?

Lars Catstellucci: Die Resonanz auf die Tagung war für eine solche Auftaktveranstaltung beachtlich. Der Dialog mit über 100 Fachleuten aus Kommunen, von Länder- und Bundesebene hat gezeigt, dass wir allen Grund zur Zuversicht haben, wenn es um die Herausforderungen von Migration und Integration geht. Für ein gutes Zusammenleben aller Menschen vernetzen wir die verschiedenen Ebenen miteinander. Ganz wichtig ist es, einander zuzuhören und voneinander lernen zu wollen.

Außer dem nötigen Sachverstand braucht es eine Vorstellung einer guten Zukunft für alle Menschen in Deutschland. Also eine Vision, wie wir in Deutschland miteinander leben wollen, die uns Orientierung bietet. Wir kamen darin überein, dass ein solches Bild eines guten Zusammenlebens aller Menschen immer wieder neu ausgehandelt werden muss. Erste Bausteine liegen vor, daran werden wir weiter arbeiten.

Außerdem entwickeln wir in den Bereichen Migration und Integration einen klaren Plan, den wir auch den Menschen vermitteln wollen, die den Eindruck haben, uns seien die Dinge etwas außer Kontrolle geraten. Der Plan reicht von den Regionen, die die Menschen verlassen bis hinein in die Stadtteile, in denen sie hier bei uns ankommen. Wir stellen uns den Problemen entlang der ganzen Kette.

Vor allem aber wollen wir die Dinge zum Guten wenden und sind überzeugt, dass das geht, mit Köpfchen und auch mit etwas Herz und Beharrlichkeit. Wichtig ist, von Fakten auszugehen, nicht von Vorurteilen oder Fake News. Vieles läuft quer in den Debatten. Tatsächlich migrieren - entgegen manchem Schreckensszenario - nämlich die wenigsten Menschen. Bildung ist außerdem der entscheidende Faktor, um dem Bevölkerungswachstum zu begegnen.

Pragmatische und realistische Lösungen sind in vielen Bereichen längst vorhanden, der Wille dazu auch. Auch für die kommunale Ebene haben wir Lösungen besprochen. Segregierte Quartiere sollten gezielt durch Förderprogramme entflechtet werden. Statt mit der Gießkanne vorzugehen, müssen Bildung, Demokratisierung, Sozialarbeit und Digitalisierung eng miteinander verzahnt werden.

Migration verändert die Menschen, die wandern, verändert aber auch die Gesellschaft, in die sie einwandern. Das war bei der Veranstaltung immer wieder Thema. Es braucht ein neues Selbstverständnis, ein neues "wir". Wie würden Sie dieses neue "Wir-Gefühl" beschreiben?

"Wir" heißt zuerst einmal "wir alle". Hinter dem neuen Wir steht, dass die Gesellschaft als Ganze immer wieder neu integriert werden muss. Es geht also nicht um die Integration von einzelnen Menschen oder um diese oder jene Gruppe. Es geht um uns und damit um etwas Verbindendes und Übergreifendes, auf das wir uns immer wieder neu verständigen. Wir wollen an einer positiven Vorstellung bauen, wie ein Miteinander in Vielfalt gelebt werden kann.

Als Politikerinnen und Politiker können wir eine solche Vision nicht von oben her verordnen. Sie kommt von unten, "bottom up". Miteinander und Solidarität wachsen in der persönlichen Begegnung, im lebendigen Austausch vor Ort. Ich werbe beispielsweise für eine viel stärkere Betonung von Vielfalt in allen Bereichen, die vom Bund gefördert werden. Entsteht zum Beispiel irgendwo ein Dorfgemeinschaftshaus, soll es so arbeiten, dass es wirklich allen im Ort offensteht und nicht nur der Gruppe, die als erstes da ist. Mein Wunsch ist zudem ein eigenes Bundesprogramm für „Orte der Begegnung“.

Menschen kommen aus ganz unterschiedlichen Gründen nach Deutschland. In den letzten Jahren standen die Menschen, die aus ihrer Heimat flüchten mussten, im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Im Koalitionsvertrag ist die Einrichtung einer Kommission zur Untersuchung von Fluchtursachen vereinbart worden. Wann wird die Kommission kommen? Was erwarten Sie sich von ihr?

Wann die Kommission kommen wird, kann ich leider nicht sagen. Die Unionsparteien tun sich an mehreren Punkten schwer, den Koalitionsvertrag auch wirklich umzusetzen.

Ich erwarte mir von der Kommission, dass sie die Faktenlage klärt, warum Menschen ihre Heimat verlassen und nach Europa streben. Und ich wünsche mir, dass sie so arbeitet, wie die deutschen Bundesverdienstkreuzträger um Angelika Zahrnt es eingebracht haben, nämlich mit einem klaren Schwerpunkt auch auf den deutschen und europäischen Ursachen von Flucht, etwa im Bereich der Handels- und Agrarpolitik.

Ich wünsche mir auch, dass sich die Kommission mit den zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten befasst: Werden weniger Menschen aus Afrika Schutz in Europa suchen, weil das Einkommen dort pro Kopf steigen wird? Obwohl in Afrika bis 2040 rund eine Milliarde mehr Menschen leben werden? Oder wird die globale Erwärmung dazu führen, dass mehr Menschen ihre Heimat verlassen, weil sie dort nicht mehr leben können? Und je nach Szenario: Wie sollen wir damit umgehen?

Die SPD kämpft seit Jahren für ein neues Einwanderungsgesetz. Doch die Beratungen über den Gesetzesentwurf stecken fest. Die Union steht auf der Bremse. Horst Seehofer (CSU) will das Fachkräfteeinwanderungsgesetz mit einer weiteren Verschärfung der Aufenthaltsgesetze verbinden. Was halten Sie in diesem Zusammenhang vom so genannten "Geordnete-Rückkehr-Gesetz"?

Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, die Ausreisehindernisse abzubauen und konsequenter abzuschieben. Das wollen wir auch umsetzen. Allerdings wird das schwierig, weil der Bundesinnenminister einige rechtlich wie politisch bedenkliche Vorschläge in seinen Gesetzentwurf aufgenommen hat. Das ist insbesondere der alte Unions-Vorschlag einer "Duldung light". Noch weniger Rechte von Vertriebenen sind weder menschenrechtlich vertretbar noch praktisch nützlich. Wenn Personen geduldet sind, zum Beispiel wegen einer Ausbildung oder schweren Krankheit, können sie nicht zur Ausreise aus Deutschland gezwungen werden.

Außerdem kritisieren wir, die Abschiebehaft massiv auszuweiten. Eine solche Freiheitsentziehung muss die Ausnahme bleiben. Eine Inhaftierung von mehr als 200.000 ausreisepflichtigen Ausländer_innen lehne ich ab, nicht nur weil sie gegen das Grundgesetz verstoßen würde, sondern weil sie auch praktisch unmöglich wäre. Die Fachkräfteeinwanderung liegen zu lassen und für Rückkehrfragen in Geiselhaft zu nehmen, ist aus unserer Sicht nicht akzeptabel.
 

Lars Castellucci ist Sprecher für Migration und Integration der SPD-Fraktion.


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