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Europa und Asien sind nicht zwei getrennte Schauplätze

Raja Mohan beantwortet vier Fragen über die weiteren Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die Region Asien-Pazifik.

Obwohl westliche Bündnisse angesichts der russischen Invasion in der Ukraine standhaft blieben, stellt diese zweifellos drei Säulen der liberalen Weltordnung in Frage: die Achtung der territorialen Integrität der Staaten, die friedliche Lösung von Konflikten und das Recht auf kollektive Selbstverteidigung. Asiatische Länder beobachten den Konflikt sehr aufmerksam, denn die Argumentationslinie Moskaus zur Begründung der Invasion in der Ukraine entspricht auch dem Verhalten Beijings, das immer stärker nach territorialer Kontrolle in der Region strebt.  

Wir haben mit hochrangigen Mitgliedern der FES Asia Strategic Foresight Group über die weiteren Auswirkungen der aktuellen Situation in der Ukraine auf die zukünftige Weltordnung gesprochen und insbesondere darüber, wie sie sich in der Region Asien-Pazifik bemerkbar machen und konkretisieren könnten.

Unser erster Gesprächspartner ist Prof. C. Raja Mohan, leitender Wissenschaftler am Asia Society Policy Institute in Delhi und Gast-Forschungsprofessor am Institute of South Asian Studies der National University of Singapore.

 

Wie wirkt sich der Krieg in der Ukraine auf die Weltordnung aus, und wie manifestiert sich das in der Region Asien-Pazifik?


Der Krieg in der Ukraine hat der großen Machtharmonie, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion fast drei Jahrzehnte lang herrschte, endgültig ein Ende gesetzt. Das Ende des Kalten Krieges zwischen dem Westen und Sowjet-Russland läutete eine neue geopolitische Phase ein, in der die Nationen von gewinnbringenden Beziehungen mit allen Großmächten profitieren konnten. Die zwischenstaatlichen Spannungen zwischen China, Europa, Indien, Japan, Russland und den USA hatten sich jedoch bereits in den letzten Jahren verstärkt, und der Krieg in der Ukraine hat die Spaltung zwischen den Großmächten noch verschärft.

Vor der Invasion Moskaus in der Ukraine verkündeten Russland und China gemeinsam eine  Partnerschaft „ohne Grenzen“, in der es „keine verbotenen“ Kooperationsbereiche gebe. Wenn Moskau und Beijing erwartet hatten, dass die Invasion den Westen spalten würde, so haben sie sich schmerzlich geirrt, denn der Westen rückte schnell zusammen und unterstützte die Ukraine. Sicherlich gibt es bedeutende Unterschiede zwischen den Reaktionen der einzelnen Staaten auf die nicht provozierte Aggression gegen die Ukraine, aber grundsätzlich haben sich die westlichen Staaten auf breiter Linie zusammengeschlossen und versorgen die ukrainischen Verteidiger vor dem Hintergrund der Invasion mit einer beispiellosen Menge an Waffen und Ausrüstung. Die strategische Einheit zwischen Europa und den Vereinigten Staaten und das gemeinsame Ziel eines transatlantischen Bündnisses sind real und werden wahrscheinlich in der vorhersehbaren Zukunft fortbestehen.

Die meisten Länder des indopazifischen Raums dachten, dass dieser in Europa stattfindende Krieg sie nicht weiter betreffen würde. Aber die weitreichenden globalen Folgen des Krieges in der Ukraine mit Konsequenzen für die Bereiche Energie und Wirtschaft haben gezeigt, wie wichtig es ist, die durch die russische Invasion in der Ukraine hervorgerufenen Probleme anzugehen. Ein Großteil der indopazifischen Länder will sich keiner der beiden Seiten anschließen, weder dem chinesisch-russischen Bündnis noch dem Westen. Aber die Ideale der Neutralität, der Blockfreiheit (non-alignment) und der multiplen Ausrichtung der Außenpolitik (multi-alignment), werden immer schwerer aufrechtzuerhalten, je länger der Krieg andauert.

 

Welche Elemente der liberalen Weltordnung wären für die Region wichtig? Was würden die Staaten der Region gerne beibehalten und was würden sie lieber ändern?  


Den Krieg in der Ukraine als Zusammenbruch der „liberalen Ordnung“ zu bezeichnen ist problematisch. Die russische Aggression gegenüber der Ukraine stellt die Grundprinzipien einer jeden Weltordnung in Frage. Die drei Säulen, auf denen jede Ordnung ruht – sei sie nun liberal oder nicht – sind die Achtung der territorialen Integrität der Staaten, die friedliche Lösung von Konflikten und das Recht auf kollektive Selbstverteidigung. Moskau spricht Kiew seine Rechte an all diesen drei Fronten ab, indem es sich auf ein historisches Recht beruft, die Ukraine dem russischen Staat einzuverleiben, Gewalt anwendet, um dieses Ziel zu erreichen, und das Recht Europas auf kollektive Selbstverteidigung in Frage stellt.

Um nichts anderes handelt es sich auch bei Beijings Ansatz, bei territorialen Disputen im westpazifischen Raum, etwa im Ost- und Südchinesischen Meer sowie im Himalaya, Stärke zu demonstrieren. Genau wie Russland in der Ukraine verletzt China die Grundprinzipien der internationalen Ordnung im indopazifischen Raum, indem es historische Rechte für sich beansprucht und seine Handlungen durch eine Opferrolle in der Vergangenheit rechtfertigt. Beijing wendet gewaltsame Mittel an, um seine territorialen Ansprüche gegenüber seinen Nachbarn „einzulösen”, und widersetzt sich allen Bemühungen asiatischer Staaten, ihre Fähigkeit zur Selbstverteidigung in Partnerschaft mit dem Westen zu stärken.  

 

Es scheint wahrscheinlich, dass sich Europa in den kommenden Jahren stärker auf seine nächsten Nachbarn konzentrieren wird. Welches sind in diesem Zusammenhang die Schwerpunktbereiche, in denen Asien und Europa weiter zusammenarbeiten können, um ihre Partnerschaft aufrecht zu erhalten?


In einer Welt nach dem Ukraine-Krieg zeichnen sich drei große Bereiche für eine Zusammenarbeit zwischen Asien und Europa ab. Am Ende des Kalten Krieges setzte man auf Multilateralismus und kollektive Sicherheit. Wir müssen nun zuerst einmal anerkennen, dass diese Strategie gescheitert ist. Aufgrund der Expansionsbestrebungen und des aggressiven Unilateralismus von Seiten Russlands und Chinas hat der Krieg in der Ukraine einen Wandel von der „kollektiven Sicherheit“ zur „kollektiven Verteidigung“ und vom Sicherheitsmultilateralismus zu plurilateralen und minilateralen Initiativen erzwungen.  

Zweitens müssen wir erkennen, dass Europa und Asien nicht zwei getrennte Schauplätze, sondern eigentlich eng miteinander verbunden sind. Das sich vertiefende Bündnis zwischen Moskau und Beijing und die gegenseitige Unterstützung dieser beiden Länder bei wichtigen strategischen Angelegenheiten unterstreichen die Bedeutung einer Sicherheitszusammenarbeit zwischen den beiden Kontinenten.

Obwohl sich sowohl Europa als auch Asien darauf konzentrieren werden, ihre jeweils eigene Region zu sichern, können sie viel tun, um jeweils zur Verteidigung des anderen beizutragen. Zunächst können sowohl Europa als auch Asien ihr Bekenntnis zum Grundsatz der territorialen Integrität der Staaten in beiden Regionen bekräftigen. Genauso wie viele asiatische Staaten keine eindeutige Haltung zur russischen Invasion der Ukraine beziehen, hat auch Europa sich bislang dagegen gesträubt, Chinas aggressive Handlungen in Asien zu kritisieren. Das muss sich ändern.  

Und drittens müssen wir auf dem Grundsatz der territorialen Souveränität aufbauen, den die Ukraine in den Vordergrund gerückt hat. Traditionell neigen Asien und der Westen dazu, zu diesem und anderen verwandten Themen unterschiedlicher Meinung zu sein. Das bittere Erbe des europäischen Imperialismus in Asien wurde durch westliche Behauptungen untermauert, dass die territoriale Souveränität im 21. Jahrhundert passé sei. Heute gäbe es für Asien und Europa eine echte gemeinsame Basis für die Überwindung des post-kolonialen Misstrauens, indem sie die zentrale Bedeutung der territorialen Souveränität und die Absage an gewaltsame Grenzänderungen betonen. Die Ablehnung imperialistischer Vorhaben Russlands und Chinas wird die alte Versuchung beseitigen, globale Themen durch Ost-West oder Nord-Süd-Prismen zu betrachten, und eine neue politische Grundlage für die strategische Zusammenarbeit zwischen Europa und Asien schaffen.

 

Dieser Beitrag erschien im Original am 07.06.2022 in englischer Sprache auf asia.fes.de.


Ansprechpartnerin

Annette Schlicht
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