Könnten Sie zunächst einmal Ihren Forschungsansatz beschreiben?
Rajib: Unsere Studie konzentriert sich darauf, die Ressourcen zu verstehen, über die die Gewerkschaften in Nepal verfügen, um die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu stärken und die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmerseite zu steigern. Die meisten früheren Untersuchungen befassten sich eher mit den Schwächen oder Lücken in der Gewerkschaftsbewegung und lieferten auch manchmal Empfehlungen, aber oft auf sehr allgemeiner Ebene. Mit dieser Studie leisten wir Pionierarbeit in Nepal, und der Weg, den wir eingeschlagen haben, ermöglicht uns ein genaues Verständnis der Macht der verschiedenen Gewerkschaften, ihrer Mitglieder und der Bewegung als Ganzes. Dieses Verständnis bildet dann eine solidere Grundlage für eine Neubelebung der Gewerkschaften.
Der Forschungsansatz wurde ausgehend von der Überlegung entwickelt, dass die Beschäftigten ihre Interessen erfolgreich verteidigen können, indem sie kollektiv ihre Machressourcen mobilisieren - um es mit den Worten von Stefan Schmalz und seinem Team, Vorreiter*innen bei der Entwicklung des Machtressourcenansatzes, auszudrücken. Unser Ziel war es, die Fähigkeit von Lohnempfänger*innen zu untersuchen, ihre Interessen im bestehenden politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontext in Nepal durchzusetzen. Dabei orientierten wir uns an dem von der FES veröffentlichten Bewertungsrahmen für Machtressourcen.
Sie sind der Forschungsleiter dieser Studie. Wo steht Ihrer Meinung nach die nepalesische Gewerkschaftsbewegung aktuell?
Rajib: Nepal hat starke nationale Gewerkschaften und Gewerkschaftsverbände. Nepalesische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Gewerkschaften können durchaus die Arbeit niederlegen und haben das in der Vergangenheit auch in Sektoren wie dem Gastgewerbe (sowohl in der Hotel- als auch der Gaststättenbranche), dem Verkehrssektor und bestimmten Einzelhandelsbranchen getan. Gleichzeitig sind nationale Verbände wichtig, um Einfluss auf die Politikgestaltung zu nehmen (institutionelle Macht) und Zugang zur politischen Macht zu gewinnen. Genauer gesagt, bemühen sich nepalesische Gewerkschaften, ihre politischen Zugehörigkeiten und Affinitäten wirksam einzusetzen, um ihre Ziele zu erreichen. Dieser Ansatz der Machtausübung, dessen Wurzeln in der historischen Rolle der Gewerkschaften als verlängerter Arm der lange Zeit verbotenen politischen Parteien liegt, schafft eine starke Grundlage für die Gewerkschaften, die sie nutzen können. Dies erleichtert die Mobilisierung, da ideologische Affinitäten und Parteizugehörigkeiten zuverlässig für eine Mitgliederbasis sorgen und die Bildung von Koalitionen mit anderen Schwesterorganisationen der nahestehenden Partei ermöglichen. Die Gewerkschaften waren auch zumindest auf dem Papier sehr erfolgreich darin, ihre institutionelle Macht zu vergrößern, indem sie die Regierung dazu brachten, eine Reihe von Übereinkommen über Arbeiter*innenrechte sowie progressive Arbeitsgesetze zu verabschieden.
Wie jedoch zahlreiche Befragte anmerkten, sind viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufgrund der großen Zahl unorganisierter informeller Arbeitskräfte und der geringen geographischen Konzentration der Gewerkschaften in Nepal von der Bewegung ausgeschlossen. Sowohl die Führung der Gewerkschaften als auch ihre Organisationsarbeit spiegeln nicht die Zusammensetzung der Arbeiter*innenschaft in Bezug auf Geschlecht, Jugend und Minderheiten wieder, weshalb mehr Diversität in Führung und Mitgliedschaft nötig sind.
Die Einrichtung der parteiübergreifenden Plattform des Joint Trade Union Coordination Center (JTUCC, Gemeinsames Gewerkschaftskoordinationszentrum) hat die Macht der Gewerkschaften gesteigert, Forderungen nicht nur an die Arbeitgeber, sondern auch an die Regierung zu stellen, egal welche einer Gewerkschaft nahestehende Partei gerade an der Macht ist. Diese koalitionsbildenden Maßnahmen müssen allerdings über die Gewerkschaften hinaus ausgeweitet werden. Die Gewerkschaften könnten, wie von einigen Befragten vorgeschlagen wurde, enger mit den Bewegungen für soziale Gerechtigkeit in Nepal zusammenarbeiten. Diese konzentrieren sich jeweils auf bestimmte geographische Regionen oder Ethnien oder auf Genderfragen und sind mit großer Wahrscheinlichkeit auch offen für Themen, die die Arbeiter*innenschaft betreffen, um damit ihre gesellschaftliche Macht zu steigern.
Wie kann die nepalesische Gewerkschaftsbewegung neu belebt werden? Was sind ihre Stärken und Schwächen?
Rajib: Der Aspekt, der mir dazu als erstes in den Sinn kommt, sind die starken Verbindungen zwischen Gewerkschaften und Parteien. Sie sind eine Quelle der Stärke, bedeuten aber auch Einschränkungen für die Gewerkschaftsbewegung. Die Erfolge der Gewerkschaften bei der Erlangung institutioneller Macht sind auf ihre Beziehungen zu den Parteien zurückzuführen. Andererseits führen bereits gegebene Parteiverbindungen zu einer Art Selbstselektion, die wiederum dazu führt, dass die Masse der Mitgliedschaft eher an der Politik interessiert ist als daran, sich in der Gewerkschaft zu engagieren. Das hält viele, die ein vorwiegend berufliches Interesse an der Gewerkschaft haben, von einer aktiven Mitwirkung ab. Die Wahrnehmung von Öffentlichkeit und Nichtmitgliedern, dass die Politik manchmal ein schmutziges Geschäft ist, ist eine Schwäche, wenn es darum geht, breite gesellschaftliche Unterstützung für die Gewerkschaften zu gewinnen. Eine wichtige Maßnahme für die Gewerkschaften zur Korrektur dieser Fehleinschätzung bestünde darin, mehr Energie und Ressourcen in die Bildung von Koalitionen und in ihr öffentliches Image zu investieren. Die Gewerkschaften könnten außerdem enger mit den nepalesischen Medien und Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeiten.
Weiterhin ist eine Umstrukturierung der Gewerkschaften erforderlich. Formelle Sektoren sind vielleicht durch die aktuellen Strukturen am besten organisiert, die von der Unternehmensebene über die Sektorebene bis hinauf zum nationalen Verband reichen. Informelle Arbeitskräfte könnten jedoch besser unterstützt werden, wenn sich die Gewerkschaften geographisch organisieren und sich dabei an den föderalen Verwaltungseinheiten wie Bezirk, Kommune und Provinz orientieren.
Zusätzlich zu Organisation und Interessenvertretung könnte es für die Gewerkschaften auch notwendig werden, den Kapazitätsaufbau als weitere zentrale Dienstleistung für ihre Mitglieder anzubieten. Ein Thema, das im Rahmen der Studie besonders in Gesprächen mit jüngeren und nicht-traditionellen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern angesprochen wurde, ist ihr Bedarf nach umfassenderer Unterstützung von Seiten der Gewerkschaften bei der Entwicklung beruflicher Fähigkeiten und Kapazitäten. In der modernen nepalesischen Wirtschaft, besonders der wachsenden digitalen Wirtschaft, müssen die Gewerkschaften erkennen, dass die Weiterqualifizierung von Arbeitskräften eine wesentliche Machtstrategie ist.
Warum ist diese Studie nach dem Machtressourcenansatz wichtig für die Gewerkschaften?
Rajib: Die Gewerkschaften in Nepal stehen seit langem mit der Demokratiebewegung in Verbindung. Aber die jüngste Literatur zum Thema basiert eher auf Befragungen von Arbeitgeber*innen, Arbeitgeberorganisationen, Gewerkschaftsführer*innen, Regierungsvertreter*nnen und mittleren Führungskräften – kurz gesagt, es werden alle Akteure befragt außer den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern selbst. Wir verstehen zwar, dass es eine Herausforderung ist, großangelegte Studien über die Stimmung in der Arbeiter*innenschaft durchzuführen, aber gleichzeitig erscheint uns das als dringend notwendige Aufgabe: sowohl eine Aufgabe von Forscherinnen und Forschern aus dem Umfeld der Gewerkschaften, die ihre Beziehungen ihrer Position in den Gewerkschaften verdanken, und die anderer Wissenschaftler*innen oder Analytiker*innen. Da diese Aufgabe bisher nicht wahrgenommen wurde, herrscht weiterhin die Sichtweise auch unter führenden Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern vor, dass der Betriebsfrieden ein wichtiges Ziel für Gewerkschaften sei und notwendig für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Unsere Studie konzentrierte sich mehr auf Informationen vor Ort darüber, wie die Gewerkschaften bislang funktionieren, wie ihre Beziehungen zu den Parteien aussehen, sowie auf Trends bei der Entscheidungsfindung. Der Schwerpunkt lag dabei stets auf der Sichtweise der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in bisherigen Untersuchungen kaum Berücksichtigung fand. Im Rahmen dieses Ansatzes führten wir zusätzliche Gespräche mit Beschäftigten, Gewerkschaftsführer*innen und Analytiker*innen der Arbeiterbewegung, um die aktuelle Situation besser zu verstehen. Es wird für Gewerkschaften und ihre Anhänger*innenschaft sehr hilfreich sein, intensivere Diskussionen darüber zu führen, wie sie die Bewegung künftig stärken können.