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Als die USA Jüdinnen und Juden den Nazis auslieferten

Zum Holocaustgedenktag regt das Schicksal der abgewiesenen Geflüchteten zu unangenehmen Fragen über den heutigen Flüchtlingsschutz an

Das Twitter-Projekt St Louis Manifest (@Stl_Manifest) ist ein Mahnmal für das Trump-Zeitalter. Es verwandelt die Social Media-Plattform, die vermutlich einen größeren politischen Einfluss hat als wir uns eingestehen wollen, in einen Ort des Gedenkens. Mit ihrem Projekt reagierten der Softwareentwickler und Pädagoge Russel Neiss und Rabbi Charlie Schwartz auf den ersten so genannten „Muslim Ban“ von Trump. Zu einer Zeit, in der Staaten überall auf der Welt ihre Grenzen für Geflüchtete schließen, regen ihren Tweets dazu an, über die Lehren nachzudenken, die wir aus der Irrfahrt der St. Louis ziehen können.

Die St. Louis-Affäre: Wie die USA aus Deutschland fliehenden Jüdinnen und Juden die Einreise verweigerten

Das Twitter-Projekt erinnert an die Holocaust-Opfer, die an Bord der St. Louis waren, einem Schiff, das im Sommer 1939, am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, 937 Passagiere aus Nazi-Deutschland nach Kuba brachte. Die meisten waren jüdische Geflüchtete.

743 von ihnen hatten sich um ein Visum für die USA beworben und wollten in Kuba auf ihre Einreisegenehmigung warten – zusammen mit 2.500 anderen jüdischen Geflüchteten, die sich bereits im Land aufhielten. Wegen der strengen Quotenregelungen des US-amerikanischen Einwanderungsgesetzes aus dem Jahr 1924 wurden jährlich nur die Einreisegesuche von 27.370 deutschen und österreichischen Staatsbürger_innen geprüft. Entsprechend standen Hunderttausende geflüchtete Menschen vor den Toren der USA Schlange.

Ihre Situation verschärfte sich dadurch, dass die kubanischen Medien Stimmung gegen jüdische Menschen machten und die größte antisemitische Demonstration in der kubanischen Geschichte mit mehr als 40.000 Teilnehmer_innen dazu aufrief, „die Juden zu bekämpfen bis der letzte vertrieben ist“. Die kubanische Regierung reagierte, indem sie den Passagieren der St. Louis verbot, von Bord zu gehen. Als Verhandlungen mit dem US-Außenministerium scheiterten und klar wurde, dass kein anderes lateinamerikanisches Land die Geflüchteten aufnehmen würde, wiesen die USA das Schiff schließlich ab und zwangen es, nach Europa zurückzukehren. Vielen Passagieren gelang es auf anderen Wegen, vor den Nationalsozialisten zu fliehen. Aber 254 von ihnen starben im Holocaust.

Antisemitische, rassistische und fremdenfeindliche Politik und Einstellungen gingen Hand in Hand und führten zum Tod der 254 Menschen, derer wir heute gedenken

Mit @Stl_Manifest verdeutlichen Neiss und Rabbi Schwartz, welche Folgen die Zurückweisung der Geflüchteten hatten. In ihren Tweets veröffentlichen sie die Namen der Opfer zusammen mit einem Foto aus der Sammlung des US Holocaust Memorial Museum und Informationen darüber, wo sie ermordet wurden. Einige Bilder wurden an Bord der St. Louis aufgenommen, andere zeigen die Passagiere bei Geburtstagsfeiern, mit Freunden oder Familienangehörigen. Bei den Betrachter_innen stellt sich unvermittelt der Eindruck ein, sie hätten diese Bilder schon einmal gesehen. Folgt man dem Twitter-Feed, tauchen viele Bilder mehrfach auf und zeigen, dass jede einzelne abgebildete Person Opfer der NS-Tötungsmaschinerie in Auschwitz, Sobibor, Mauthausen oder Theresienstadt wurde – die Liste hört nicht auf.

Das Quotensystem der USA verhinderte einen angemessenen Umgang mit der Tragödie, für die die St. Louis-Affäre beispielhaft steht. Das Quotensystem war untrennbar verbunden mit rassistischen, antisemitischen und fremdenfeindlichen Einstellungen, die nicht nur in Gesetze Einzug erhielten, sondern auch Kongressabgeordneten zu Wahlsiegen verhalfen und verhinderten, dass Fürsprecher der Geflüchteten wirksame Kampagnen organisieren konnten. Diese Einstellungen waren auch der Grund, weshalb Initiativen wie der Wagner-Rogers-Gesetzesentwurf vom Februar 1939 nie umgesetzt wurden. Der Entwurf sah vor, 20.000 aus Deutschland fliehende Kinder unabhängig von der Quote aufzunehmen.

Mit Beginn des Krieges im September 1939 nahm der Unwillen in den USA, Visa auszustellen, noch zu – und andere Länder schlossen sich dem an. Es wurden finanzielle Hürden eingeführt, die es noch unwahrscheinlicher machten, dass von Enteignungen durch die deutsche Regierung betroffene Jüd_innen die Visavoraussetzungen erfüllten. Entsprechend erhielten im Oktober 1939 nur 93 der 790 deutschen Bewerber_innen, deren Quotennummer in dem Jahr an der Reihe war, ein Visum. Im weiteren Kriegsverlauf verbreiteten sich antisemitische Verschwörungstheorien über eine „Fünfte Kolonne“ in den USA, die teilweise auf den gefälschten „Protokollen der Weisen von Zion“ beruhten und als Begründung für die restriktive Flüchtlingspolitik dienten.[1] Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit standen jedem Versuch im Weg, aus Deutschland fliehende Menschen bei der Einreise in die USA zu unterstützen – das betraf sowohl die Passagiere der St. Louis, als auch die vielen anderen, die ihnen noch folgten.

Ein Blick in den Spiegel: Was haben wir aus der Geschichte gelernt?

Knapp 80 Jahre, nachdem die St. Louis in See stach, ist die Überzeugung verbreitet, dass wir Lehren aus einer Geschichte gezogen hätten, in der die Welt verletzlichen Menschen den Rücken zukehrte. In Artikeln über die St. Louis-Affäre werden oft Umfragen aus dem Jahr 1939 zitiert, aus denen hervorgeht, wie weit verbreitet antisemitische Einstellungen damals waren. Die Konfrontation mit dem offenen Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit der 1940er Jahre ermöglicht es uns heute, eine sichere Distanz zu den damaligen Ereignissen einzunehmen. Immerhin hat die internationale Gemeinschaft in der Nachkriegszeit gezeigt, dass sie für ein #NieWieder einsteht – mit der Erklärung der universellen Menschenrechte im Jahr 1948, der Schaffung des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge und dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge aus dem Jahr 1951. Mit Sicherheit würde die St. Louis heute nicht abgewiesen werden.

Und doch wirkt es allzu vertraut, dass Regierungen heute keine Flüchtlingspolitik machen, die zuallererst an humanitären Gesichtspunkten orientiert ist – und eine solche Politik auch nicht von einer breiten Bevölkerung eingefordert wird. Das Dublin-System der EU setzt absurderweise darauf, eine Festung zur Abwehr von Asylsuchenden zu errichten, statt dafür Sorge zu tragen, dass sie in Sicherheit gebracht werden. Einige Regierungen forcieren Abschiebungen in einem Maß, dass sie zu deren Erleichterung sogar Sicherheit umdefinierten. In Deutschland wird der Rückgang der Zahlen neuer Asylanträge als politischer Erfolg gefeiert und die reale Situation der Geflüchteten vollständig ausgeblendet: Sie können nicht in ihre Heimat zurückkehren, aber die Tore Europas sind ihnen verschlossen. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Der aktuelle Fokus auf „Migrationskontrolle“ wirft Fragen darüber auf, wie weit wir hinsichtlich des Schutzes verletzlicher Menschen wirklich gekommen sind

All das verdeutlicht, dass die Argumente, mit denen die Zahlen Geflüchteter in den 1930er und 1940er Jahren gering gehalten wurden, bis heute nicht ausreichend dekonstruiert wurden – trotz umfangreicher Bemühungen. Stattdessen sind alte Trugschlüsse weltweit wieder salonfähig geworden – im Zuge des nationalistischen und isolationistischen Populismus‘ der vergangenen Jahre, dessen Argumenten viele Politiker_innen übernehmen, weil sie sich davon Wahlerfolge erhoffen.

Das starre Quotensystem der USA war hauptverantwortlich dafür, dass geflüchtete Menschen keine Sicherheit fanden. Nichtsdestotrotz war die Abweisung der St. Louis ein internationales Projekt. Deshalb ist die St. Louis-Affäre zu einem starken Symbol für die US-amerikanische und internationale Ungeschicklichkeit, Apathie und Flucht vor Verantwortung geworden, die bis heute im Umgang mit humanitären Krisen sichtbar wird, die große Migrationsbewegungen auslösen. Am Holocaustgedenktag trifft diese Geschichte einen Nerv, weil uns ihr Kontext bekannt vorkommt. Sie erinnert uns nicht daran, wie weit wir gekommen sind, sondern daran, wie weit wir noch gehen müssen.

[1] Richard Breitman and Alan M. Kraut, American Refugee Policy and European Jewry, 1933-1945 (Bloomington: Indiana University Press, 1987), pp. 112-120.

Autorin

Barbara Uchdorf ist in Miami aufgewachsen und studiert derzeit im Master-Programm Global History in Berlin. Sie forscht zu Fotografien und Erinnerung an das nationalsozialistische Zwangsarbeitssystem.

Kontakt in der FES: Daniela Turß, Öffentlichkeitsarbeit, Abteilung Internationale Entwicklungspolitik


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