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So wird die digitale Revolution zur Gender-Revolution

Viele der wichtigsten Trends in der Digitalwirtschaft werfen besondere Fragen in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit auf. Ein neuer FES-Blogbeitrag zum Women7.

Die digitale Revolution verändert die Arbeitswelt auf zahlreichen Ebenen. Die Auswirkungen schlagen sich jedoch je nach Branche, Land oder Qualifikationsniveau der Beschäftigten unterschiedlich nieder. Traditionelle Arbeitgeber_innen nutzen zum Beispiel Algorithmen zur effizienteren Personalplanung sowie automatisierte Modelle für Outsourcing und die Beschaffung von Dienstleistungen. Digitalisierung ermöglicht Telearbeit, aber es fallen auch Arbeitsplätze weg. Die potenziellen Herausforderungen der Digitalwirtschaft betreffen verschiedene Bereiche, aber viele der wichtigsten Trends werfen besondere Fragen in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit auf.

 

Die Debatte und die Forschung zur Digitalwirtschaft neigen dazu, sich auf Neuerungen und technologische Fortschritte zu konzentrieren. Diese Entwicklungen geschehen aber nicht im luftleeren Raum. Digitalisierung findet innerhalb bestehender gesellschaftlicher Strukturen statt. Ihre Ausprägung richtet sich nach unseren sozialen Beziehungen, einschließlich der Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Nur wenn wir das berücksichtigen, können wir Antworten auf Fragen hinsichtlich der Auswirkungen und der zukünftigen Gestaltung der der Digitalwirtschaft finden.

Die COVID-19-Pandemie hat klar gezeigt, dass auch Europas Arbeitsmärkte und Haushalte nach wie vor ein großes Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern aufweisen und stark nach Geschlecht segmentiert sind. Auch Jahrzehnte des Fortschritts hin zu mehr Geschlechtergerechtigkeit konnten diese Lücken noch nicht schließen. Im Ergebnis haben sich viele Veränderungen in der Organisation von Arbeit und Maßnahmen während der Pandemie unterschiedlich auf Männer und Frauen ausgewirkt. Wenn wir nicht aufpassen, laufen wir Gefahr, dass auch die digitale Revolution die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern weiter verstärkt.

 

Zeitliche und räumliche Flexibilität der Arbeit
 

Digitale Technologien machen es möglich, viele Arbeiten von außerhalb der eigentlichen Arbeitsstätte zu erledigen. Oft wird die Arbeit damit in den privaten Raum verlagert. Telearbeit kann Arbeitnehmenden mehr Autonomie bei der Organisation ihrer Arbeit und ihrer Zeitplanung verschaffen. In eine ähnliche Richtung geht die Entwicklung von Online-Arbeitsmärkten, an deren Spitze wieder die bekannten Plattformen stehen. Auch sie ermöglichen die räumliche und zeitliche Flexibilisierung von Arbeit.

Obwohl früh gewarnt wurde, dass Flexibilisierung durch technologievermittelte Arbeit eher den Arbeitgebenden als den Arbeitnehmenden zugute kommt, galt sie lange als förderlich für die Work-Life-Balance. Telearbeit von zu Hause macht es möglich, Erwerbsarbeit, unbezahlte Sorgearbeit und Hausarbeit zu verbinden, da all diese Tätigkeiten am gleichen Ort und oft sogar gleichzeitig erledigt werden können. Nur: Der Großteil der unbezahlten Haus- und Sorgearbeit wird immer noch von Frauen erledigt. Was bedeutet das für die Geschlechtergerechtigkeit?

 

Risiken und Fallen
 

Arbeit, die zu Hause erledigt wird, ist in der Regel kaum reguliert und wird traditionell unterbewertet. Karrierechancen von Arbeitnehmenden, die sich nicht im direkten Sichtfeld der Arbeitgebenden befinden, können darunter leiden, dass Präsentismus und lange Arbeitstage immer noch das Maß aller Dinge sind. Dieses Risiko dürfte insbesondere Frauen treffen, da sie tendenziell weniger Spielräume haben, sich gegen Telearbeit zu entscheiden, die es ihnen ermöglicht, ihre unbezahlte Sorgearbeit mit der Erwerbsarbeit zu vereinbaren. Es besteht daher die Gefahr, dass auf dem Arbeitsmarkt eine neue Geschlechtersegmentierung entsteht: Männer arbeiten im Büro und Frauen von zu Hause. Des Weiteren besteht Anlass zu Bedenken in Bezug auf Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, einschließlich der Gefahren, nicht „abschalten“ zu können und die Arbeit mit in die Freizeit zu nehmen. Hiervon sind insbesondere Frauen betroffen, deren Gesundheit besonders stark unter Arbeitszeitproblemen leidet.

Die Digitalwirtschaft führt auch zu einer tiefgreifenden Umwälzung von Beschäftigungsmodellen. Outsourcing der verschiedensten Aufgaben und Funktionen soll effizienzsteigernd wirken. Frauen, die von zu Hause arbeiten, könnten dadurch jedoch in die Selbstständigkeit oder Freiberuflichkeit gedrängt werden. Diese Formen der Arbeit sind hoch individualisiert; es mangelt an kollektiven Formen der Unterstützung und Repräsentation. Oft geht dieser Mangel mit niedrigem Einkommen und fehlendem Zugang zu sozialer Sicherung einher. Dadurch besteht das Risiko, dass die Marginalisierung und Prekarisierung von Frauen zusätzlich befördert wird.

Schließlich führt eine algorithmusbasierte Organisation der Arbeit, wie sie auf Plattformen, aber zunehmend auch bei traditionellen Arbeitgebenden geschieht, zur Fragmentierung und Intensivierung von Arbeitsaufgaben. Algorithmen sollten eigentlich „geschlechterblind“ sein, da ein Algorithmus das Geschlecht der betreffenden Arbeitnehmenden nicht erkennt. Jüngere Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass es erhebliche Unterschiede in der Bezahlung von Männern und Frauen gibt, die plattformbasierte Telearbeit leisten. Sie sind das Ergebnis vergeschlechtlichter Unterschiede in den Arbeitsweisen, denn Frauen werden aufgrund von Haushaltsverpflichtungen häufiger bei der Arbeit unterbrochen als Männer.

 

Politische Ziele


Damit sich diese neuen Technologien positiv auf Geschlechtergerechtigkeit auswirken können, braucht es eine ehrgeizige Sozial- und Beschäftigungspolitik und eine engagierte Förderung von Geschlechtergerechtigkeit. Politische Initiativen und Bemühungen müssen über reine Fragen der Arbeitsmarktbeteiligung und Repräsentation von Frauen in der Digitalwirtschaft hinausgehen. Hauptziel sollte sein, dafür zu sorgen, dass die Digitalwirtschaft Beschäftigungsmöglichkeiten schafft, die die Kriterien guter und menschenwürdiger Arbeit erfüllen. Die Rechte von Arbeitnehmenden sind zu wahren, und die Arbeitsbedingungen müssen nachhaltig und gesundheitswahrend sein. Hierzu braucht es dringend verbindliche internationale Standards. Kürzlich formulierte Vorschläge der EU zu Arbeitsbedingungen für Plattform-Beschäftigte gehen in die richtige Richtung. Eine effektive Politik muss aber mehr tun als lediglich die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen in der Digitalwirtschaft verbessern. Sie muss auch strukturelle Ungleichheiten in der vergeschlechtlichten Aufteilung von Haus- und Sorgearbeit bekämpfen. Politische Maßnahmen und die Einbindung der Tarifparteien sind von essenzieller Bedeutung, wenn wir erreichen wollen, dass Geschlechternormen sich wandeln.

Bevor wir also versuchen, Frauen und andere vulnerable Gruppen auf dem Arbeitsmarkt für diese neue Arbeitswelt zu gewinnen, müssen wir dafür sorgen, dass die angebotene Arbeit tatsächlich zu mehr statt weniger Geschlechtergerechtigkeit in Entlohnung und Arbeitsbedingungen führt.

 

 

Agnieszka Piasna ist leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Wirtschaft, Beschäftigung und Sozialpolitik beim Europäischen Gewerkschaftsinstitut (EGI/ETUI). Sie ist Arbeitssoziologin und forscht zu Arbeitsplatzqualität, Arbeitsmarktregulierung und -politik, Digitalisierung und Geschlechtergerechtigkeit. Beim EGI koordiniert sie aktuell die Forschungsaktivitäten im Kontext einer Studie zu internet- und plattformbasierter Arbeit; sie arbeitet an der Entwicklung des European Job Quality Index und forscht zum Thema Arbeitszeitreduzierung.


Dr. Johannes Crückeberg

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Marcus Hammes

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