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Die Formel für ein soziales Europa: Komplementäre Sozialpolitik plus sozialkompatible Gestaltung von Währungsunion und Binnenmarkt

von Daniel Seikel



Die Stärkung der sozialen Dimension der europäischen Integration ist nach Jahren des sozialpolitischen Stillstands und der verheerenden Eurokrisenpolitik wieder auf die Agenda der EU gerückt. Das Bekenntnis zur sozialen Dimension der europäischen Integration allein sagt aber nur wenig darüber aus, wie ein sozialeres Europa genau aussehen soll und wie dieses Ziel erreicht werden könnte. Beide Fragen stehen im Mittelpunkt dieses Beitrags. Ausgehend von einer Analyse des Potenzials europäischer Sozialpolitik schlage ich eine Reihe von Maßnahmen vor, die auf eine Stärkung der Säulen des europäischen Sozialmodells zielen: den Wohlfahrtsstaat und die institutionalisierten Arbeitsbeziehungen – die großen, in Institutionen gegossenen historischen Klassenkompromisse des 20. Jahrhunderts.

Das soziale Europa und die nationalen Pfeiler des europäischen Sozialmodells

Das europäische Sozialmodell beruht in erster Linie auf historisch gewachsenen nationalen Institutionen. Deshalb stellt sich die Frage, welche Rolle die europäische Politik bei der Stärkung des europäischen Sozialmodells spielen kann und soll? Ich vertrete in diesem Beitrag den Standpunkt, dass der Weg zu einem sozialeren Europa nicht über den Aufbau supranationaler Sozial- und Tarifvertragssysteme führen kann, die bestehende nationale Institutionen ersetzen. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass dem sozialen Potenzial der europäischen Integration strukturelle Grenzen gesetzt sind, die sich nicht ohne Weiteres auflösen lassen. Es ist kaum vorstellbar, dass ein einheitliches, vollharmonisiertes Sozialmodell auf so unterschiedliche Länder wie Spanien und Finnland, Irland und Österreich oder Rumänien und Frankreich passt, von grundsätzlichen ideologischen Differenzen über die „richtige“ Balance zwischen Staat und Markt, Problemen der demokratischen Legitimation und transnationalen Verteilungskonflikten ganz zu schweigen. Die europäische Integration sollte sich deshalb darauf konzentrieren, die nationalen Pfeiler des europäischen Sozialmodells zu schützen und zu stärken.

Deswegen schlage ich keine klassische redistributive, sondern eine regulative europäische Sozialpolitik vor, die mit Mindeststandards operiert. Das bedeutet allerdings nicht, dass es keine Umverteilung von finanziellen Mitteln zwischen EU-Ländern, z. B. über den EU-Haushalt, geben sollte. Die Grundidee ist, „Sperrklinken“ in den gegenseitigen Unterbietungswettbewerb zwischen EU-Mitgliedstaaten einzuziehen und gleichzeitig für eine aufwärtsgerichtete Konvergenz im Sozialbereich zu sorgen. Die Zukunft des sozialen Europas entscheidet sich aber auch in Feldern jenseits der Domäne der Sozialpolitik: der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) und dem Binnenmarkt. Auf diesen Feldern müssen die fiskalpolitischen, makroökonomischen und rechtlichen Voraussetzungen für ein sozialeres Europa überhaupt erst geschaffen werden.

Wie groß ist das soziale Potenzial europäischer Politik?

Das soziale Potenzial europäischer Politik ist nicht grenzenlos. Um zu verstehen, wo die Grenzen des Machbaren und Sinnvollen liegen, muss zunächst geklärt werden, welche strukturellen Ursachen zugrunde liegen. Vier Faktoren sind hier zu nennen.

Erstens sind die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten in puncto Organisation, Niveau und Leistungsfähigkeiten der Sozialsysteme erheblich. Eine einheitliche europäische Sozialpolitik müsste auf den bulgarischen oder portugiesischen Wohlfahrtsstaat ebenso passen wie für den schwedischen oder den österreichischen – ohne dass dabei die sozialen Standards in Ländern mit gut ausgebauten Wohlfahrtsstaaten abgesenkt würden oder Länder mit weniger leistungsstarken Systemen finanziell völlig überfordert würden. Zweitens bestehen programmatisch-ideologische Differenzen sowohl zwischen nationalen Regierungen als auch zwischen und sogar innerhalb parlamentarischer Gruppen im Europäischen Parlament über die „richtige“ (europäische) Sozialpolitik.

Die aufgrund dieser Heterogenität ohnehin äußerst anspruchsvolle Suche nach politischen Kompromissen wird, drittens, durch die hohen Mehrheitserfordernisse (Einstimmigkeit oder qualifizierte Mehrheit) europäischer Entscheidungsprozesse weiter erschwert. Viertens, angesichts der Heterogenität sowohl was Organisationsformen, Leistungsniveaus und ideologische Präferenzen anbelangt, aber auch aufgrund der Bedeutung von Sozialpolitik für nationale Haushalte sowie ihres Einflusses auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes, wachen die Mitgliedstaaten sorgsam über ihre sozialpolitischen und arbeitsrechtlichen Kompetenzen. Die rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten europäischer Politik im Feld der Sozialpolitik und des kollektiven Arbeitsrechts bleiben deshalb eng begrenzt.

All diese Faktoren beschränken das Potenzial supranationaler Sozialpolitik. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass ein sozialeres Europa unerreichbar ist. Die Rolle, die der europäischen Politik für die Verwirklichung dieses Ziels zugewiesen wird, muss aber den genannten Limitierungen Rechnung tragen.

Die Formel für ein soziales Europa

Die Zukunft des sozialen Europas könnte über den Weg einer zu den nationalen Institutionen komplementären, regulativen europäischen Sozialpolitik führen. Sie müsste die wohlfahrtsstaatliche und arbeitsrechtliche Entwicklung auf der nationalen Ebene schützen und fördern. Dafür ist auch die sozialkompatible Gestaltung der Währungsunion und des Binnenmarktes erforderlich, um die fiskalischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Vorbedingungen für ein sozialeres Europa zu schaffen.

Ohne neue Fiskalregeln kein soziales Europa: Die WWU unterminiert das soziale Europa in mehrfacher Hinsicht. Die Geldpolitik der EZB ist auf Geldwertstabilität statt auf Wachstum und Beschäftigung ausgerichtet. Das Regelwerk der WWU schreibt Haushaltsdisziplin vor, die zulasten von Ausgaben u. a. für Sozial- und Beschäftigungspolitik sowie öffentliche Investitionen gehen kann. Durch den Wegfall der Möglichkeit von Wechselkursanpassungen gerät die Lohnpolitik schnell unter Druck, die Hauptlast wirtschaftlicher Anpassungsprozesse schultern zu müssen. Schließlich wurden während der Eurokrise im Gegenzug für finanzielle Hilfen Kürzungen von Sozialausgaben, Privatisierungen, Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst, Senkungen des Mindestlohns, die Abschaffung von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen sowie die Dezentralisierung von Tarifvertragssystemen verlangt und durchgesetzt.

Das Regelwerk des WWU muss daher umgestaltet werden. Euroländer müssen ausreichend fiskalischen Spielraum erhalten, um Sozialsysteme zu finanzieren, die öffentliche Infrastruktur zu modernisieren sowie eine ökologisch nachhaltige wachstums- und beschäftigungsfördernde Fiskalpolitik zu betreiben. Dies ist insbesondere im Kontext der Corona-Krise dringend geboten: Ohne Reform der Fiskalregeln droht ein erneutes Aufflammen der Eurokrise. Diese Reform müsste drei Schritte beinhalten (siehe hier). Erstens muss die noch aus dem vergangenen Jahrhundert stammende Schuldenobergrenze von 60 Prozent des BIP an die neuen Realitäten angepasst und deutlich erhöht werden. Zweitens sollte die starre Defizitregel einer maximalen Neuverschuldung von drei Prozent des BIP pro Jahr durch eine kluge Ausgabenregel abgelöst werden, die auf Konjunkturverläufe reagiert und den Staat in Krisenzeiten nicht auch noch prozyklisch zum Sparen zwingt. Drittens sollten öffentliche Investitionen im Sinne einer „goldenen Regel“ ebenso von der Ausgabenregel ausgenommen werden wie Ausgaben etwa für Arbeitslosenunterstützung oder die Grundsicherung.

Stärkung sozialer Rechte: Auch beim europäischen Binnenmarktrecht sind Korrekturen notwendig. Seine Kernbestandteile, das Wettbewerbsrecht und die vier Grundfreiheiten für Güter, Dienstleistungen, Kapital und Personen, entwickeln vermittelt über die Wettbewerbskontrolle der Europäischen Kommission und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) eine enorme marktschaffende Wucht, die politisch kaum kontrolliert werden kann.

Um dieses Problem anzugehen, wäre eine echte europäische Verfassung eine Lösung, die nur Materien regelt, die typischerweise in Verfassungen enthalten sind: allgemeine Verfassungsziele, Organe, Kompetenzen, Verfahren sowie bürgerliche, politische und soziale Grundrechte. Alle übrigen Rechtbestimmungen, darunter auch die Grundfreiheiten und das Wettbewerbsrecht, würden ins europäische Sekundärrecht überführt, das politisch leichter zu ändern ist als das europäische Vertragsrecht. Dadurch würde das Primat der Politik über den Binnenmarkt hergestellt, das Verhältnis zwischen wirtschaftlichen Freiheiten und sozialen Rechten ließe sich einfacher als bislang in demokratischen Verfahren ausgestalten. Ein anderer Vorschlag des Europäischen Gewerkschaftsbundes sieht die Einführung eines sozialen Fortschrittsprotokolls vor, das sozialen Rechten gegenüber wirtschaftlichen Freiheiten einen generellen Vorrang einräumt. Als dritte Möglichkeit könnten Bereichsausnahmen formuliert werden, die das kollektive Arbeitsrecht aus dem Anwendungsbereich von Wettbewerbsrecht, Grundfreiheiten und den Bestimmungen der WWU ausnehmen.

Regulative Sozialpolitik für eine aufwärtsgerichtete Konvergenz: Der europäischen Sozialpolitik käme in dem hier vorgelegten Reformkonzept die Aufgabe zu, die sozialpolitische und arbeitsrechtliche Entwicklung in den Mitgliedstaaten der EU zu schützen, zu koordinieren und zu fördern. Das Ziel ist eine aufwärtsgerichtete Konvergenz zwischen den EU-Ländern bei sozialen Standards. Das Instrument, um dieses Ziel zu erreichen, sind soziale Mindeststandards. Sie würden überdies „Sperrklinken“ gegen einen wechselseitigen Unterbietungswettbewerb bei sozialen und arbeitsrechtlichen Standards einziehen.

Angesichts der politökonomischen Heterogenität der Mitgliedstaaten kann es dabei zumindest in aller Regel nicht um einheitliche Standards im Sinne absoluter Zielgrößen gehen, sondern lediglich um relative Vorgaben. Ein Beispiel hierfür wäre ein europäischer Mindestlohn, aber nicht als einheitlicher nominaler Stundenlohn, sondern als relativer Wert von 60 Prozent des nationalen Medianlohnes. Dieser Logik folgend könnten auch relative Mindeststandards für die soziale Grundsicherung sowie für andere Sozialleistungen, bei Arbeitslosigkeit und Rente, eingeführt werden, bei letzteren beiden in Form von Mindestlohnersatzraten und Mindestbezugszeiten sowie Mindeststandards für Anspruchsberechtigungen auf Sozialleistungen. Der Grundidee des Korridormodells folgend könnten Länder entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in Gruppen mit differenzierten Zielwerten eingeteilt werden, die mittelfristig auf höhere Niveaus angepasst würden. Zudem könnte auch die Unternehmensmitbestimmung mithilfe europäischer Mindeststandards besser geschützt werden.

Die finanziellen Lasten, die dabei vor allem für ärmere Mitgliedstaaten durch den Ausbau ihrer Sozialsysteme entstünden, sollten durch Zuschüsse aus dem EU-Haushalt abgefedert werden. Da es unwahrscheinlich ist, alle Mitgliedstaaten für diese Vorhaben zu gewinnen, sollten einzelne Projekte nötigenfalls mit einer kleineren Zahl von Mitgliedstaaten im Modus der verstärkten Zusammenarbeit umgesetzt werden.

Fazit

Die Stärkung der sozialen Dimension der EU ist wieder zurück auf der Agenda der europäischen Politik. Die Europäische Säule sozialer Rechte, die Revision der Entsenderichtlinie sowie die angekündigte Initiative für einen europäischen Mindestlohn werden von manchen als Ausdruck einer Trendumkehr gedeutet. Jedoch ist die Europäische Säule sozialer Rechte lediglich ein rechtlich unverbindliches Dokument, die Revision der Entsenderichtlinie repariert im Wesentlichen den durch die Grundrechtejudikatur des EuGH entstandenen Schaden und die Zukunft des europäischen Mindestlohns ist noch völlig offen.

Der Weg zu einem sozialeren Europa ist noch weit. Die Formel für eine Stärkung der sozialen Dimension der EU lässt sich wie folgt auf den Punkt bringen: soziale Mindeststandards plus sozialkompatible Umgestaltung von Binnenmarkt und Währungsunion. Das Ziel dieses Programms ist die Stärkung des europäischen Sozialmodells, das auf historisch gewachsenen nationalen Institutionen beruht, die es zu schützen und weiterzuentwickeln gilt. Natürlich müssten auch alle hier vorgeschlagenen Maßnahmen die hohen Hürden europäischer Entscheidungsprozesse überspringen. Progressive Europäer_innen werden also noch lange und viel um und für ein soziales Europa streiten müssen.
 


Über den Autor

Dr. Daniel Seikel ist Referent für Europäische Politik am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.


Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die Langfassung des Textes ist als WISO direkt erschienen.

 

 

 


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