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Fokus Migration und COVID-19: Reaktionen auf die Notsituation und Aussichten für langfristige Veränderungen.
Bild: Overcrowded migration facilities at the Weslaco Station Border U.S. Patrol facilities in Texas, as observed by the Office of the Inspector General of the U.S. Department of Health and Human Services von ©Department of Homeland Security Office of the Inspector General
Fast jedes Land der Erde hat Maßnahmen eingeführt, die die Ausbreitung von COVID-19 eindämmen sollen. Als viele Nationen begannen, die Freizügigkeit und die Versammlungsfreiheit einzuschränken, schien es paradoxerweise die Frage der Inhaftierung von Migrant_innen zu sein, für die die COVID-19-Pandemie Möglichkeiten für positive Reformen geschaffen hatte.
Bereits vor der COVID-19-Pandemie war nachgewiesen worden, dass die Inhaftierung von Migrant_innen weitgehend ineffektiv und teuer ist. Verfechter_innen ihrer Rechte warfen Fragen der Menschenrechte auf und stellten den Zweck der Inhaftierung von Migrant_innen in Frage. Länder, die Ende 2018 den Globalen Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration annahmen, verpflichteten sich u.a. auf das Ziel „Freiheitsentziehung bei Migrant_innen nur als letztes Mittel und Bemühung um Alternativen“. Diese Verpflichtung ist nicht marginal; sie ist zudem ambitioniert, da die Inhaftierung von Migrant_innen in vielen Ländern sogar dann weiterhin gängige Praxis war, als die Pandemie weltweit um sich griff.
Der Ausbruch von COVID-19 brachte das alltägliche Funktionieren vieler Regierungen durcheinander. Gleichzeitig erwiesen sich öffentliche Anstalten und Einrichtungen, in denen Menschen eng zusammenleben, schnell als Settings mit hohem Risiko für die Verbreitung der Krankheit. Dazu gehörten Straf- und Haftanstalten. Häufig sind diese Einrichtungen überbelegt, mit schlechten Hygienestandards und weniger Zugang zu Ressourcen, wie Desinfektionsmittel oder persönlicher Schutzausrüstung. Der Einzug von COVID-19 in die Haftanstalten vieler Länder hatte sofort Auswirkungen mit überproportional hohen Infektionsraten und hohen Todesraten. Letztere waren teilweise dem mangelnden Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen geschuldet, wurden jedoch durch die hohe Rate an Komorbiditätsfaktoren unter den Inhaftierten verschärft.
Inhaftierte waren einerseits der Krankheit ausgesetzt und andererseits von der Außenwelt abgeschnitten, da Besuchsrechte und ihr Zugang zu anwaltlichen Dienstleistungen eingeschränkt wurden, und Unruhen bzw. Angst waren zunehmend zu beobachten.
Bei der Inhaftierung von Migrant_innen, dem Schwerpunkt dieses Artikels, gab es zusätzlich starke Wechselwirkungen mit den Effekten von COVID-19 außerhalb von Haftanstalten: Lockdowns und Schließungen von Volkswirtschaften haben zu verstärkter Überwachung durch die Polizei geführt, kombiniert mit größerem Druck, trotz zusätzlicher Risiken irgendwie den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. In manchen Ländern hat diese Dynamik zu einer Zunahme der Inhaftierungen geführt, ob absichtlich oder den Umständen geschuldet. Die weitere Ausbreitung von COVID-19 wird zudem auch durch Abschiebungen von Inhaftierten verstärkt; Länder wie die USA oder Südafrika haben Migrant_innen deportiert, die sich während der Inhaftierung mit dem Virus ansteckten, was häufig die Zahl der Fälle in ihren Ursprungsländern signifikant erhöht hat.
Die oben beschriebenen Dynamiken haben Diskussionen über Alternativen zur Inhaftierung von Migrant_innen verändert: die für COVID-19 charakteristischen Herausforderungen haben Fragen der Praktikabilität bzw. Wirtschaftlichkeit, aber auch der Ethik, ausgeweitet, sodass es heute auch um die Rechtfertigung der Inhaftierung geht. Die Frage „Rechtfertigt eine Verletzung der Einwanderungspolitik die Exposition gegenüber einer tödlichen Krankheit?“ drückt Inhaftierung klar als Frage der Moral und des Rechts aus. Die meisten internationalen Organisationen, die sich im Kontext von COVID-19 für die sofortige Freilassung inhaftierter Migrant_innen einsetzen, tun dies aus rechtlichen, humanitären und/oder Vernunftsgründen. Irreguläre Migrant_innen sollen nicht unnötig dem Virus ausgesetzt sein oder einem Umfeld mit chronischer Gewalt, Mangel an Ressourcen und unzulänglichen Wohnverhältnissen.
Unter den Argumenten für die Freilassung inhaftierter Migrant_innen gibt es auch einige praktische Erwägungen: sie würde Probleme der Überbelegung lösen; sie würde nicht nur die Inhaftierten schützen, sondern auch das Personal der Haftanstalten; und sie würde stärkere Kooperation zwischen Regierungen und der Zivilgesellschaft ermöglichen, um die Freigelassenen zu unterstützen, was häufig innerhalb der Haftanstalten schwierig ist.
Rechtlich gesehen, hob ein in Spanien vorgebrachtes Argument hervor, dass die dortigen COVID-19-bedingten Reisebeschränkungen Abschiebungen verhindern, und dass fortgesetzte Inhaftierung Artikel 15 Abs. 4 der Europäischen Rückführungsrichtlinie („Stellt sich heraus, dass ... keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht ..., so ist die Haft nicht länger gerechtfertigt und die betreffende Person unverzüglich freizulassen.“) und eine ähnliche Bestimmung im nationalen spanischen Rechtverletzen würde. Ein weiteres rechtliches Argument, das sich spezifischer auf das Thema Gesundheit in Haftanstalten bezieht, ist in Regel 24 der Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung der Gefangenen (der sogenannten Mandela-Regeln) zu finden: „Die gesundheitliche Versorgung von Gefangenen ist Aufgabe des Staates. Gefangene sollen den gleichen Standard der Gesundheitsversorgung erhalten, der in der Gesellschaft verfügbar ist, und sollen kostenfrei und ohne Diskriminierung aufgrund ihrer Rechtsstellung Zugang zu den notwendigen Gesundheitsdiensten haben.“
Die wirtschaftlichen Auswirkungen von COVID-19 haben zudem die Grenzen zwischen wertgeschätzten migrantischen Arbeitskräften mit geregeltem Aufenthaltsstatus und irregulären Migrant_innen verwischt. Manche Regierungen sind nicht in der Lage, manche nicht willens, Verwaltungsdienstleistungen für Visa, Erlaubnisse und Statusfeststellung zu erbringen. Migrant_innen haben in manchen Ländern keinen Anspruch auf Hilfe aus Hilfspaketen. Vor diesem Hintergrund sind die Auswirkungen von COVID-19 auf Beschäftigung ein starkes Argument für die Einführung von Härtefallregelungen. Solche Regelungen helfen zudem, Vertrauen zwischen den Migrant_innen und dem staatlichen Apparat aufzubauen. Denn dies ist häufig nicht vorhanden, insbesondere in Ländern, die Migrant_innen systematisch inhaftieren.
Schließlich haben die Regierungen auch den Zusammenhang zwischen der Inhaftierung von Migrant_innen und der verborgenen Bevölkerung irregulärer Migrant_innen erkannt. In Zeiten, in denen es kritisch ist, frühzeitig Personen zu kontaktieren und Fälle zu identifizieren, um eine Population zu schützen, werden Politiken kontraproduktiv, die irgendeine Gruppe zwingen, sich vor öffentlichen Gesundheitsinitiativen zur Verhinderung der Krankheitsausbreitung zu verstecken. Migrant_innen, seien sie mit Aufenthaltstatus oder irregulär, aufzufordern, sich medizinisch behandeln zu lassen und ihnen gleichzeitig zu garantieren, dass sie nicht den Strafverfolgungsbehörden gemeldet werden, wie u.a. in Irland und Südkorea, ist eine gute fachliche Praxis, die nachgeahmt werden sollte.
Das Global Detention Project (Globales Projekt zu Inhaftierung) bietet weitreichende Erkenntnisse zu den Reaktionen von Migrationspolitiken auf COVID-19, insbesondere bezüglich der Inhaftierung von Migrant_innen. Trotz der oben dargelegten Argumente ergibt sich ein Bild aus der Praxis, das keine radikale Änderung der Ansätze zur Inhaftierung von Migrant_innen darstellt. Die meisten Länder verfolgen einen passiven Ansatz: es gab keine wirklichen politischen Initiativen, die Herausforderungen anzupacken, mit denen inhaftierte Migrant_innen konfrontiert sind. Dazu gehören Länder, in denen die Inhaftierung von Migrant_innen reduziert wurde, aber diese Veränderung war häufig auf eine wegen der Pandemie herabgesetzte staatliche Kapazität, auch der Strafverfolgungs- und Einwanderungsbehörden, zurückzuführen. Eine relativ große Zahl Länder, einschließlich dieser ansonsten passiven Regierungen, haben jedoch Aufenthaltserlaubnisse kurz vor ihrem Ablauf automatisch verlängert oder haben administrative Sanktionen gegen Personen, die nach Ablauf ihres Visums im Land bleiben, ausgesetzt.
Obgleich viele Länder sich gegen Maßnahmen entschieden haben, die der Überbelegung entgegenwirken sollen, hat kaum ein Land ausreichende Maßnahmen zum Schutz der Inhaftierten umgesetzt und dabei Zugang zu Ressourcen oder Gesundheitsdienstleistungen ermöglicht. Die Maßnahmen der meisten Länder waren im Allgemeinen unzureichend, improvisiert und hatten geringe Priorität.
Im Gegensatz dazu reagierten proaktive Länder wohlüberlegt und pragmatisch, indem sie die Haftdauer begrenzten und Migrant_innen aufgrund von Ausnahmegenehmigungen oder Politik- bzw. Rechtsänderungen aus der Haft entließen. Zu diesen Ländern gehören u.a. Belgien, Indonesien, der Iran, Italien, Japan, die Niederlande, Peru, Portugal, Spanien und das Großbritannien.
Spanien ist das bemerkenswerteste Beispiel solcher Initiativen: praktisch alle inhaftierten Migrant_innen sind freigelassen worden, und die entsprechenden Haftanstalten im ganzen Land stehen jetzt leer. Dieser Prozess war das Ergebnis von Konsultationen zwischen Stakeholdern, inklusive Nichtregierungsorganisationen und der Zivilgesellschaft, die sicherstellten, dass freigelassene Migrant_innen Teil ganzheitlicher Interventionen waren. Allerdings konnten eine Reihe Migrant_innen nach ihrer Freilassung keine angemessene Unterkunft oder andere Dienstleistungen in Anspruch nehmen.
Die aktuelle Pandemie ist eine Notsituation, die wahrscheinlich langfristige Auswirkungen haben wird. Allerdings, in den Worten von Richard Haass, Präsident des Council on Foreign Relations: „nicht jede Pandemie ist ein Wendepunkt“, und er fügt hinzu: „die Welt, die aus der COVID-19-Krise hervorgehen wird, wird erkennbar sein.“ Mit Blick auf die Inhaftierung von Migrant_innen geben die sich abzeichnenden Diskussionen und der aktuelle Stand der Reaktionen auf COVID-19 Anlass zu vorsichtigem Optimismus hinsichtlich des Engagements der Inhaftierung von Migrant_innen ein schnelles Ende zu bereiten. Die Inhaftierung von Migrant_innen wird wahrscheinlich nach bekanntem Muster weiter bestehen, mit einigen relativ unbedeutenden Variationen und möglicherweise mit kleinen Durchbrüchen. Letztere werden ideale Gelegenheiten für erneutes und stärkeres Engagement sein. In diesem Sinne könnten die Lektionen aus den Erfahrungen von Ländern, die Initiativen unternommen haben, während der Pandemie Migrant_innen aus der Haft zu entlassen, ein machtvoller Kompass für die kommenden Jahre sein.
Gegenwärtig basiert fast das gesamte staatliche Handeln, das die Inhaftierung von Migrant_innen reduziert oder aussetzt, auf Argumenten im Zusammenhang mit COVID-19. Deshalb ist die Pandemie gleichzeitig Segen und Fluch für die Lobbyarbeit zu diesem Thema. Die außergewöhnlichen Umstände haben aufgezeigt, was möglich ist, und dass Lockerungen in der Kriminalisierung der irregulären Migration aus der Perspektive der strengen Grenzkontrolle nicht notwendigerweise schädlich sind. Gleichzeitig impliziert bereits die Betonung, es handele sich um eine Reaktion auf eine Notsituation, dass diese Schritte temporär sind. Angesichts einer tief verwurzelten Kultur der strengen Einwanderungskontrolle, in der die Inhaftierung „als Abschreckungsmaßnahme konstruiert ist“, können Steigerungen der Migrationsflüsse oder politische Verschiebungen hin zu Einstellungen gegenüber Migrant_innen den Fortschritt zudem schnell umkehren.
In Anbetracht dieser Unsicherheit bezüglich der langfristigen Auswirkungen müssen Aktivist_innen und andere, die sich für Migrant_innen einsetzen, ihre Bemühungen fortsetzen, und zwar sowohl in den Ländern, die inhaftierte Migrant_innen proaktiv aus der Haft entlassen haben als auch in denen, die sich bei diesem Thema passiv oder ablehnend verhielten. Aus der oben dargelegten Argumentation, dass die Reaktion auf COVID-19 möglicherweise eine Gelegenheit für Veränderungen ist, ergeben sich mehrere Schlüsselempfehlungen:
Autor:
Stéphane Jaquemet ist seit Februar 2018 Direktor für Grundsatzfragen bei der Internationalen Katholischen Migrationskommission und in dieser Funktion Leiter des Koordinationsbüros der Zivilgesellschaft für das Global Forum on Migration and Development und einer der drei Mitveranstalter des Aktionskomitees der Zivilgesellschaft. Zuvor war er 25 Jahre lang für den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) tätig, wo er verschiedene leitende Positionen bekleidete, unter anderem als Leiter der Abteilung für Schutzkapazitäten in Genf, als Vertreter im Libanon, in Nepal, Burkina Faso und Kolumbien sowie als Regionalbeauftragter für Südeuropa mit Sitz in Rom. Vor dem UNHCR war er Rechtsberater beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz und Schutzdelegierter in Gaza, Libanon und Uganda.
Dieser Artikel ist Teil einer Serie der Global Coalition on Migration und der Friedrich-Ebert-Stiftung über internationale Migration während der COVID-19-Pandemie. Sie analysiert die Auswirkungen der Pandemie auf den Schutz internationaler Migrant_innen; Schwerpunkte sind dabei verschiedene Instrumente der Menschenrechte, internationales Recht, der Globale Pakt sowie internationale Übereinkommen, die die Rechte von Migrant_innen schützen. Die Artikel behandeln verschiedene Themen, u.a. Geschlecht, Arbeit, Regularisierung, Rasse, Fremdenfeindlichkeit, Sicherheit, Grenzen, Zugang zu Dienstleistungen sowie Inhaftierung.
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