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Diskriminierung, Ausbeutung und zunehmende Ungleichheit

Fokus Migration und COVID-19: Die Auswirkungen von COVID-19 auf Migrantinnen.

UNO-Generalsekretär António Guterres zufolge ist der Ausbruch von COVID-19 für Migrant_innen nicht nur eine globale Gesundheitskrise, sondern auch eine Schutz- und eine sozioökonomische Krise. Mit Blick auf Migrantinnen kann sogar von einer weiteren Krise gesprochen werden: einer Krise der Ungleichheit. Während einerseits Gesundheitssysteme und Volkswirtschaften in den Bereichen Pflege und Hauswirtschaft auf die Arbeit von Migrantinnen angewiesen sind, haben andererseits die Pandemie und die politischen Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung Ungleichheiten dramatisch verschärft, vor allem für Migrantinnen.

Die durch die Pandemie und die Reaktion auf die Pandemie entstandene zusätzliche Schicht „ausgegrenzter Migrant_innen“, der besonders Frauen angehören, sowie die Reaktion darauf hat die Kluft zwischen Menschen mit Staatsbürgerschaft oder dauerhafter Aufenthaltserlaubnis und Menschen ohne diesen Status vergrößert. Dies wirkt sich auch auf andere sich überlappende Ungleichheiten aus, u.a. aufgrund von Rasse, sexueller Orientierung und/oder Behinderung. Der Schwerpunkt dieses Artikels liegt auf Migrantinnen mit unsicherem Aufenthaltsstatus.

Migrantinnen in einer Krise der Ungleichheit

Die COVID-19-Pandemie hat unterschiedliche negative Auswirkungen auf Migrantinnen. Gender-Ungleichheiten und Diskriminierung gegen Migrantinnen und Migranten werden verschärft, wobei spezifische regionale Dimensionen zu berücksichtigen sind.

Lockdowns, Grenzschließungen und intensivere Überwachung durch die Polizei halten Migrantinnen wie in einer Falle gefangen mit Tätern sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, die häufig COVID-19 als Mittel der Kontrolle und Zwang nutzen und dabei sie und ihre Kinder isolieren. Diskriminierung gegen Migrant_innen bei der Bereitstellung von Dienstleistungen und die Tatsache, dass Frauen wegen Lockdowns nicht in der Lage sind, sie in Anspruch zu nehmen, wenn sie denn zur Verfügung stehen, bedeutet, dass sie sich keine Hilfe holen, Gewalt nicht melden oder Zugang zu Schutzräumen, zur Justiz und zu anderen grundlegenden Dienstleistungen nicht erlangen können. COVID-19 hat die Krise der sexuellen und geschlechtsspezifischen Gewalt gegen Migrantinnen zugespitzt. Die Krankheit erinnert brutal daran, dass es für sie um Leben und Tod gehen kann, wenn sie in einer von Gewalt geprägten Beziehung gefangen sind. Zudem wird deutlich, wie wichtig Netzwerke und unterstützende Dienstleistungen sind.

Es sind nicht nur Lockdowns und Ausgangssperren, die Migrantinnen daran hindern, wichtige Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. In vielen Ländern sind Migrant_innen von öffentlichen Dienstleistungen und Unterstützungsleistungen für den Mainstream (wo es sie gibt) explizit ausgeschlossen. Dazu gehört häufig der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen. Einem Bericht über Migrant_innen in verschiedenen Regionen zufolge sind nur 42% der Migrant_innen der Ansicht, dass sie im Falle von COVID-19-Symptomen Gesundheitsdienstleistungen in Anspruch nehmen könnten. Dieser Ausschluss von Migrant_innen betrifft die Frauen in besonderer Weise, beispielsweise indem ihnen der Zugang zu Dienstleistungen in den Bereichen sexueller und reproduktiver Gesundheit sowie Müttergesundheit blockiert wird. Die Verschärfung dieser spezifischen Ungleichheit ist nicht nur eine Frage der Menschenrechte, sondern auch eine der öffentlichen Gesundheit.

Die Verschärfung von Ungleichheiten und die sozioökonomische Krise überschneiden sich

Die Überrepräsentation von Migrantinnen im informellen Sektor mit niedrigqualifizierten, schlecht bezahlten und prekären Arbeitsplätzen bedeutet, dass sie Hauptleidtragende der Arbeitslosigkeit sind und wegen gesteigerter Betreuungspflichten und verstärkter Diskriminierung seltener eine neue Beschäftigung antreten. Wenn sie entlassen worden sind, besteht das Risiko, dass ihre Arbeitserlaubnis nicht verlängert wird, was ein Abschieberisiko bedeutet. Ebenso besteht ein erhöhtes Risiko, dass Arbeitgeber_innen, denen bewusst ist, wie prekär die Situation der Migrantinnen ist, sie missbrauchen und ausbeuten. Gleichzeitig arbeiten viele Migrantinnen und geflüchtete Frauen als „systemrelevante Arbeitskräfte“ (auch in der Landwirtschaft) mit erhöhten Gesundheitsrisiken wegen mangelnder Schutzausrüstung und ihren fehlenden Möglichkeiten, sozialen Schutz und andere Menschen- und Arbeitsrechte in Anspruch zu nehmen.

Der daraus folgende Anstieg der Wohnungslosigkeit sowie ein Mangel an Grundnahrungsmitteln und Hygieneartikeln (einschließlich einfacher „Würde-Pakete“ mit Unterwäsche, Waschzeug, Menstruationsartikeln, etc.) sind ebenfalls zu großen Problemen geworden. Ernährungsunsicherheit und das Risiko der Unterernährung sind Schlüsselprobleme für Migrantinnen und ihre Kinder, da sie von den meisten Programmen dazu ausgeschlossen sind. Obwohl Nichtregierungsorganisationen und informelle Netzwerke (einschließlich Frauen- und Migrant_innenorganisationen) Tafeln für die Essensausgabe und andere Programme betreiben, sind das lediglich oberflächliche Versuche, ein bedeutsames und eigentlich systemisches Problem zu lösen.

Migrantinnen, die ihren Arbeitsplatz und ihre Existenzgrundlage verlieren, stecken nicht nur selbst in einer schwierigen Lage. Vielmehr verlieren dadurch auch viele Familien in den Ursprungsländern, die von Überweisungen von den Migrantinnen abhängig sind, ihren wirtschaftlichen „Rettungsanker“. Viele Frauen sind in ihr Ursprungsland zurückgekehrt, ob auf eigenen Wunsch oder durch Zwang, und haben dabei ihre soziale Absicherung und ihren Verdienst verloren. Dies sorgt für einen „Dominoeffekt“, der nicht nur viele Familien betrifft, sondern sogar das Bruttoinlandsprodukt ganzer Länder. Die Tatsache, dass Volkswirtschaften auf die Arbeit von weiblichen migrantischen Arbeitskräften angewiesen sind, die Ausbeutung riskieren und wenig Möglichkeiten haben, Rechte und Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen – eine Situation, die die globale Pandemie schlaglichtartig verdeutlicht hat – bietet die Chance, zirkuläre Migration und die Rolle migrantischer Arbeitskräfte zu überdenken, die keine Möglichkeit haben, ihre Rechte in Anspruch zu nehmen.

Die Schulschließungen in fast allen Ländern der Welt haben die Ungleichheiten, mit denen junge Migrantinnen konfrontiert sind, ebenfalls verschärft. Ihr häufig prekärer Zugang zu Bildung, ihre Verpflichtung zur Hausarbeit, wenn sie nicht zur Schule gehen, sowie begrenzte Ressourcen haben sie überproportional vom Fernunterricht ausgeschlossen. Junge Migrantinnen kehren seltener wieder zur Schule zurück, wenn der Unterricht dort wieder beginnt.

Die Pandemie als Faktor, der anti-migrantische Politiken und fremdenfeindliche Einstellungen stärkt

Die Eskalation der Ungleichheiten, die Migrantinnen und Migranten aufgrund von COVID-19 erfahren, betrifft auch eine sozio-politische Wende hin zu anti-migrantischen Politiken sowie rassistische und fremdenfeindliche Einstellungen. Mehrere Länder nutzen die Pandemie als Vorwand für Grenzschließungen und striktere Grenzpolitiken, darunter die Inhaftierung und Abschiebung von Frauen und Kindern ohne angemessene Gesundheitsmaßnahmen, z.B. Testung. Zudem wird das Recht, Asyl zu beantragen, in vielen Staaten eingeschränkt, wobei u.a. die USA und das Vereinigte Königreich gesundheitliche Bedenken anführen, um dies zu begründen. Geflüchtete und Migrant_innen treiben auf Booten umher und dürfen nicht anlanden, während andere ohne Berücksichtigung des Rechts auf Nicht-Zurückweisung beispielsweise aus Malaysia zur Rückkehr gezwungen werden.

Parallel zu den anti-migrantischen Politiken sind diejenigen, die ohne Testung oder Quarantäne abgeschoben werden, mit Diskriminierung und Stigmatisierung konfrontiert. Diese treten oft gemeinsam mit durch Gender geprägte Einstellungen auf und stigmatisieren Frauen, die zurückgekehrt sind bzw. zur Rückkehr gezwungen wurden, in ihren eigenen Gemeinschaften als COVID-19-Trägerinnen. Gleichzeitig wird der Raum für bürgerschaftliches Engagement seitens Migrantinnen, in dem sie sich organisieren und ihre Rechte einfordern können, in besorgniserregender Weise eingeschränkt.

Neben Migrantinnen sind auch LGBTQI*-Migrant_innen mit weiterer Ungleichheit und Diskriminierung konfrontiert. Bei Maßnahmen, denen oft ein einfaches, binäres Geschlechtermodell zugrunde liegt, kommt diese Gruppe häufig überhaupt nicht vor. Dies setzt nicht-binäre Migrant_innen während Lockdowns, Inhaftierungen und Abschiebungen zusätzlichen Risiken aus, was bei der „geschlechtsbezogenen Quarantäne“ in Lateinamerika sichtbar wurde. Dort wurden Einschränkungen der Mobilität umgesetzt, bei denen an einem bestimmten Tag nur Menschen eines bestimmten Geschlechts das Haus verlassen durften. Angesichts staatlichen Zwangs bedeutete dies für nicht-binäre Menschen sofort verstärkte Risiken und Gefährdung.

Das Szenario für die Zeit nach der Pandemie: Was wird die „neue Normalität“ für Migrantinnen bedeuten?

Die brasilianische feministische Aktivistin Sonia Correa argumentiert, dass die Reaktion auf COVID-19 – ähnlich wie die Reaktionen auf Syphilis und die HIV/AIDS-Krise – zu Schuldzuweisungen, Stigmatisierung und Gewalt gegen „Andere“ geführt hat, die als Überträger_innen der Krankheit dargestellt werden und meist als „Fremde“ gelten. Daher werden Migrantinnen als Mitglieder von Gruppen verleumdet, die kontrolliert werden müssten. Wenn diese Diskurse und Narrative eingesetzt werden, um eine Infektion anzupacken, werden sie dadurch stärker gefährdet.

Die o.g. Krise der Ungleichheit ist – so könnte man argumentieren – das Ergebnis dieser sich überlagernden Narrative. Rassistische und fremdenfeindliche Narrative stellen Migrant_innen zunehmend als „Bedrohung“ der öffentlichen Gesundheit dar, beispielsweise in Malaysia und Singapur. Daher werden Maßnahmen zur Sicherung und Militarisierung von Grenzen, die vormals als problematisch galten, bereitwillig unterstützt – vorgeblich, um die „öffentliche Gesundheit“ zu schützen – wobei dem Leben mancher Menschen mehr Wert zugemessen wird als dem Leben anderer. Dieses Narrativ beruht auch auf einem rassistisch und sexistisch begründeten Diskurs, der dazu beiträgt, den Status Quo der Geschlechterordnung weiter zu festigen. Solche strukturellen Matrizes, deren Wurzel in der geschlechtlichen Arbeitsteilung und in geschlechtsbasierten Machtungleichheiten liegt, eröffnen die Möglichkeit, Migrantinnen wie eine austauschbare Bevölkerung zu behandeln.

Allerdings stellt eine Narrativ des Lebens den durch Tod bzw. „Nekropolitik“ geprägten Diskurs über die Pandemie und die öffentliche Gesundheit in Frage, denn Migrantinnen stehen im Alltag zahlreiche große und kleine Kämpfe durch und wenden dabei innovative Überlebensstrategien an. Viele von ihnen beruhen auf Solidarität und auf Kämpfen, die gemeinsam mit anderen segregierten Gruppen ausgetragen werden. Manche dieser Geschichten sind mittlerweile hochskaliert zu globalen Kampagnen wie „RegularizaciónYa!“ („Regularization Now!“) und „Status for all!“ oder die Forderung nach einem #FeministBailout (#feministischer Rettungsschirm).

Empfehlungen

Wenn man der Krise der Ungleichheit begegnen will, mit der Migrantinnen während der COVID-19-Pandemie und ihren Auswirkungen konfrontiert sind, ist es wichtig zu gewährleisten, dass sie an Bemühungen zum Umgang mit den drei weiteren in der Einleitung genannten Krisen beteiligt sind und auch anerkannt werden. Im Folgenden werden einige Möglichkeiten aufgelistet, dies zu erreichen:

  • Sicherstellen, dass die Reaktionen auf COVID-19 den Geschlechter- und Aufenthaltsstatus als einander überlappend berücksichtigen. Es handelt sich hierbei um kontextspezifische Themen, die einzigartige Gefährdungen hervorbringen. Diskriminierende Praktiken und Ungleichheiten dürfen weder reproduziert noch festgeschrieben werden.
  • Reaktionsmechanismen auf sexuelle und geschlechterbasierte Gewalt anpassen und dabei alternative Kanäle aufgreifen, um anzuerkennen, dass Bewegungseinschränkungen aufgrund von Lockdowns und Ausgangssperren manche Frauen Situationen aussetzen, in denen sie von ihrem Partner, Arbeitgeber oder Schmuggler Gewalt und Missbrauch erfahren. Das Vorhandensein von Schutzräumen und anderen Formen der Unterstützung für Frauen sicherstellen, die Gewalt erfahren haben, und zwar unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus und unter Bedingungen, die eine Ansteckung ausreichend verhindern.
  • Sicherstellen, dass politische Botschaften zur Prävention die Verbreitung der Krankheit nicht mit gefährdeten Bevölkerungsgruppen, besonders Migrant_innen, in Zusammenhang bringen, und dass sie die wichtige Rolle der Pflege- und Betreuungsarbeit von Frauen anerkennen.
  • Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass Frauen und Mädchen Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen haben, einschließlich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus, ohne Angst vor Abschiebung, Inhaftierung oder anderer Belästigung haben zu müssen.
  • Politiken zur Ernährungssicherheit und zu einem Mindest-Sicherheitsnetz durch Integration einer Gender-Perspektive stärken, einschließlich Politiken bezüglich eines Mindestlohns und eines Mindeststandards für den sozialen Schutz, unabhängig von Nationalität oder Aufenthaltsstatus.
  • Dem aktiven Engagement und der Partizipation von Migrantinnen Priorität einräumen, in Anerkennung ihrer einzigartigen Fähigkeit, in ihren Gemeinschaften die Gestaltung und Umsetzung von Präventionsmaßnahmen positiv zu beeinflussen.
  • Migrantinnen in die Entscheidungsfindung für Vorsorge und Reaktion auf Krankheitsausbrüche einbinden und ihre Vertretung in globalen, regionalen, nationalen und lokalen COVID-19-Politikräumen gewährleisten.
  • Sicherstellen, dass relevante Ziele und Verpflichtungen des Globalen Pakts für eine sichere, geordnete und reguläre Migration bezüglich Migrantinnen während und nach der Pandemie ordnungsgemäß umgesetzt werden, und dass die Umsetzung auf Menschenrechten basiert und auf Geschlechterthemen adäquat reagiert.

 

Die Autorinnen:

Carolina Gottardo ist eine Migrantin, die seit mehr als 20 Jahren in verschiedenen Regionen der Welt an Menschenrechtsthemen arbeitet. Ihre Schwerpunkte sind Migration, Asyl und Geschlecht. Carolina ist derzeit Leiterin des Jesuit Refugee Service Australia. Sie verfügt über umfangreiche Erfahrung in der Themenanwaltschaft bei Regierungen und dem UNO-System und hat in verschiedenen Vorstandsgremien in London, Bangkok, Brüssel, Bogota und Sydney gearbeitet.

Paola Cyment ist eine unabhängige Beraterin mit Expertise in Migration, Geschlecht, Menschenrechten und Entwicklung und hat 15 Jahre Erfahrung in der internationalen Zusammenarbeit und dem Projektmanagement. Sie hat bei nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen gearbeitet; ihre Tätigkeiten umfassten dabei Forschung, Themenanwaltschaft, institutionelle Entwicklung und Projektmanagement.
 

Dieser Artikel ist Teil einer Serie der Global Coalition on Migration und der Friedrich-Ebert-Stiftung über internationale Migration während der COVID-19-Pandemie. Sie analysiert die Auswirkungen der Pandemie auf den Schutz internationaler Migrant_innen; Schwerpunkte sind dabei verschiedene Instrumente der Menschenrechte, internationales Recht, der Globale Pakt sowie internationale Übereinkommen, die die Rechte von Migrant_innen schützen. Die Artikel behandeln verschiedene Themen, u.a. Geschlecht, Arbeit, Regularisierung, Rasse, Fremdenfeindlichkeit, Sicherheit, Grenzen, Zugang zu Dienstleistungen sowie Inhaftierung.

 


Ansprechpartnerinnen

Susan Javad

030 26935-8313
Susan.Javad(at)fes.de

Vanicha Weirauch

030 26935-8333
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