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Die Formel „Wandel durch Annäherung“ bezeichnet ein prägendes Konzept der Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere in der Ära des Bundeskanzlers Willy Brandt ab 1969. Sie beschreibt eine Politik, die anstelle von Erstarrung und gegenseitigem Druck zwischen dem demokratischen Westen und dem Ostblock in bestimmten Bereichen, wie beispielsweise der Wirtschaft und Bewegungsfreiheit, eine Annäherung in Form von Kommunikation und Verhandlungen vorsah. Durch diese Annäherung sollte langfristig ein Wandel des Status quo vollzogen und die Wiedervereinigung Deutschlands nicht aus den Augen verloren werden. (1) Die Formulierung des Konzeptes und der Formel „Wandel durch Annäherung“ geht auf eine Rede des SPD-Politikers Egon Bahr zurück, die er bereits im Jahr 1963 als Leiter des Presse- und Informationsamtes des Landes Berlin in der Evangelischen Akademie Tutzing hielt.
Die Grundsatzrede von Egon Bahr im Jahr 1963 und die Bedeutung von „Wandel durch Annäherung“ muss vor dem Hintergrund der historischen und politischen Umstände dieser Zeit gesehen werden. Einige Meilensteine, die im Zusammenhang mit Wandel durch Annäherung stehen, sind beispielsweise die doppelte deutsche Staatsgründung, die Berlin-Krisen, der Mauerbau und die „Strategy of Peace“-Rede von US-Präsident Kennedy.
Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war geprägt vom Beginn des Kalten Krieges und der Rivalität zwischen dem Ostblock, bestehend aus der Sowjetunion und ihren verbündeten Staaten, und den Westmächten, angeführt von den USA. In Deutschland, das nach dem 2. Weltkrieg von den Siegermächten (USA, Großbritannien, Frankreich und Sowjetunion) in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden war, mündete dies in der doppelten Staatsgründung 1949. So standen sich die westdeutsche Bundesrepublik (BRD) und die ostdeutsche Deutsche Demokratische Republik (DDR) gegenüber.
Beide Staaten erhoben in den nachfolgenden Jahren im Rahmen ihrer Deutschlandpolitik einen alleinigen Legitimitätsanspruch. In Westdeutschland verfolgte Bundeskanzler Konrad Adenauer eine Politik, die die DDR nicht als eigenständigen Staat anerkannte. Politisches Ziel war im Hintergrund stets die im Grundgesetz als Gebot verankerte Wiedervereinigung. Die Bundesrepublik sollte unter Adenauer wirtschaftlich und politisch so stark werden, dass die Sowjetunion schließlich zur Aufgabe der DDR gedrängt werden könnte und es zur Wiedervereinigung käme. (2) International sollte die DDR isoliert werden, was 1955 in der Hallstein-Doktrin festgeschrieben wurde. Demnach betrachtete die BRD die völkerrechtliche Anerkennung der DDR und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu ihr als unfreundlichen Akt, den sie ihrerseits mit dem Abbruch der Beziehungen zum betreffenden Staat – mit Ausnahme der Sowjetunion – beantworten würde. Dies geschah beispielsweise im Fall Jugoslawiens 1957 und Kubas 1963. (3)
Einen Sonderfall der Deutschlandpolitik stellte das geteilte Berlin dar. Die Sowjetunion hatte zum Ziel, Berlin als gesamte Stadt in die DDR zu integrieren. Nach einer Währungsreform in den westlichen Besatzungszonen sowie in Westberlin reagierte die Sowjetunion 1948 mit einer Abriegelung der westlichen Stadtteile. Diese Berliner Blockade vom 24. Juni 1948 schnitt die Bewohner_innen Westberlins von wichtigen Versorgungsgütern und Lebensmitteln ab und dauerte bis in den Mai 1949. Um die Versorgung Westberlins sicherzustellen, richteten die USA und einige ihrer Verbündeten daraufhin eine Luftbrücke ein und brachten lebenswichtige Produkte mit Flugzeugen in die Stadt. (4)
Zehn Jahre später kam es zur zweiten Berlin-Krise: Die Sowjetunion unter Nikita Chruschtschow forderte im November 1958 die Entmilitarisierung Westberlins und Deutschlands, die völkerrechtliche Anerkennung der DDR, die Akzeptanz der Oder-Neiße-Linie als deutsche Grenze mit Polen sowie den Abschluss eines Friedensvertrags mit Deutschland. Sollten die Forderungen nicht erfüllt werden, drohte die Sowjetunion nach ergebnislosen Verhandlungen damit, einen separaten Friedensvertrag mit der DDR abzuschließen und der DDR die Kontrolle über die Verbindung nach Westberlin zu überlassen. Die US-Regierung unter Präsident John F. Kennedy stellte in Reaktion darauf 1961 klar, dass der freie Verkehr von der BRD nach Westberlin, die Freiheit der Bewohner_innen und die Präsenz der Westmächte in Westberlin als essenzielle Punkte nicht verhandelbar seien.
Kurz darauf erlaubte die Sowjetunion dem DDR-Regime die Einmauerung von Westberlin, um die Fluchtbewegung in den Westen zu stoppen. Am 13. August 1961 begann der Mauerbau, der die von Kennedy genannten Bedingungen nicht direkt verletzte. Durch die Teilung der Stadt durch die Berliner Mauer ergaben sich für die Bewohner_innen Berlins und den Berliner Senat besondere Herausforderungen, beispielsweise aufgrund der gemeinsamen Kanalisation oder mit Blick auf Besuchsrechte. (5) Menschen aus Westberlin war es zunächst praktisch unmöglich, Ostberlin zu besuchen. Darüber hinaus wurden zahlreiche Menschen bei Fluchtversuchen über die Berliner Mauer von der DDR- Grenzpolizei erschossen, während die Westberliner_innen und die Alliierten nur tatenlos zusehen konnten. Ein Beispiel ist der Fall des getöteten Ostberliners Peter Fechter vom 17. August 1962. (6) Mit dem Mauerbau brach somit eine neue Zeit in der deutsch-deutschen Geschichte an, die zu einem Umdenken der Ostpolitik und Deutschlandpolitik beitrug. Die Fronten waren verhärtet und eine Annäherung bis hin zur Wiedervereinigung Deutschlands schien weit entfernt.
Die USA gaben 1962 und 63 einen ersten Impuls zu einer Veränderung im Umgang mit dem Ostblock und der Sowjetunion. Während der Kuba-Krise von 1962 wurde das Risiko einer atomaren Eskalation durch Verhandlungen abgewendet. US-Präsident Kennedy entwickelte auf dieser Grundlage eine neue „Strategy of Peace“, eine Strategie des Friedens, die er im Rahmen einer Rede am 10. Juni 1963 erläuterte. (7) Anstelle des gegenseitigen Wettrüstens sollten Rüstungskontrolle und Verhandlungen treten, um nachhaltigen Frieden zu erreichen. Diese Wende in der Politik der USA inspirierte auch den SPD-Politiker Willy Brandt als Regierenden Bürgermeister Westberlins und seinen Mitarbeiter Egon Bahr.
Im Jahr 1963 war Egon Bahr Sprecher des Berliner Senats unter dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt. Beide hielten am 15. Juli 1963 in der Evangelischen Akademie Tutzing Reden – die von Bahr sollte die Formel „Wandel durch Annäherung“ nachhaltig prägen. Die beiden Politiker erlebten die Teilung Berlins und die Probleme, die die Mauer inmitten der Stadt verursachte, aus nächster Nähe mit. Unter dem Eindruck des Mauerbaus sagte Egon Bahr in seiner Rede Folgendes:
„Wir haben gesagt, daß die Mauer ein Zeichen der Schwäche ist. Man kann auch sagen, sie war ein Zeichen der Angst und des Selbsterhaltungstriebes des kommunistischen Regimes. Die Frage ist, ob es nicht Möglichkeiten gibt, diese durchaus berechtigten Sorgen dem Regime graduell soweit zu nehmen, daß auch die Auflockerung der Grenzen und der Mauer praktikabel wird, weil das Risiko erträglich ist. Das ist eine Politik, die man auf die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung.“ (8)
Dazu führte er zunächst aus, dass die Aufnahme offizieller Beziehungen zur DDR keiner Anerkennung der Trennung und Zweistaatlichkeit gleichkäme, da diese in vielerlei Hinsicht bereits inoffiziell geschehe – beispielsweise dadurch, dass die Polizei Westberlins im Osten der Stadt nicht eingreife, selbst wenn dort an der Mauer Menschen erschossen werden. Stattdessen könnten die offizielle Anerkennung des Status quo und eine Politik der Annäherung die Situation der Menschen sowohl in der BRD als auch in der DDR verbessern und langfristig auf eine Lockerung der Grenzen und sogar eine Wiedervereinigung hinarbeiten. Diesen Wandel durch Annäherung sah Bahr in direkter Anlehnung an Kennedys Konzept der Strategie des Friedens.
Willy Brandt äußerte sich am selben Tag in Tutzing ähnlich. Er sagte unter anderem:
„Es gibt eine Lösung der deutschen Frage nur mit der Sowjetunion, nicht gegen sie. Wir können nicht unser Recht aufgeben, aber wir müssen uns damit vertraut machen, dass zu seiner Verwirklichung ein neues Verhältnis zwischen Ost und West erforderlich ist […]. Dazu braucht man Zeit, aber wir können sagen, dass uns diese Zeit weniger lang und bedrückend erscheinen würde, wenn wir wüssten, dass das Leben unserer Menschen drüben und die Verbindungen zu ihnen erleichtert würden.“ (9)
Die SPD-Politiker Bahr und Brandt schufen mit dem Wandel durch Annäherung ein neues Konzept für die Deutschlandpolitik, das einen Gegensatz zur bisher gültigen Hallstein-Doktrin bildete. Bei der regierenden CDU und auch in Teilen ihrer eigenen Partei wurden ihre Vorschläge jedoch als schwaches Konzept der Aufweichung kritisiert. (10)
In der Bundespolitik zeichnete sich somit zunächst kein Wandel ab. In Berlin nahm der Berliner Senat 1963 jedoch Verhandlungen mit dem Osten auf, um Westberliner_innen Besuche im Osten der Stadt zu ermöglichen. Dies resultierte im Passierscheinabkommen und der zeitlich begrenzten Möglichkeit, über Weihnachten und Neujahr Verwandte in Ostberlin zu besuchen. (11)
Bundespolitisch relevant wurde die Formel „Wandel durch Annäherung“ schließlich sechs Jahre später, als Willy Brandt 1969 Bundeskanzler wurde und mit der FDP unter Außenminister Walter Scheel erstmals eine sozialliberale Koalition bildete. Egon Bahr wurde zunächst zum Staatssekretär im Bundeskanzleramt. Als Kanzler prägte Brandt die Umsetzung einer neuen Ost- und Entspannungspolitik.
Als Bundeskanzler der sozialliberalen Koalition hatte Brandt die Möglichkeit, eine neue Deutschland- und Ostpolitik nach seinen Vorstellungen zu verfolgen und somit eine Zeitenwende einzuläuten.
Willy Brandt trat dazu in direkte Verhandlungen mit den Ländern des Ostblocks und schloss die sogenannten Ostverträge ab, an denen Egon Bahr als Unterhändler direkt beteiligt war:
Die Aushandlung und Unterzeichnung dieser Verträge markieren eine Zeitenwende in der westdeutschen Ostpolitik und stellen einen zentralen Teil der Entspannungspolitik Willy Brandts dar. Besonders große Aufmerksamkeit erfuhr Brandt durch seinen Besuch in Polen zum Abschluss des Warschauer Vertrags.
Bevor Willy Brandt am 07. Dezember 1970 gemeinsam mit dem polnischen Ministerpräsidenten Jozef Cyrankiewicz und den Außenministern beider Länder den Warschauer Vertrag unterschrieb, besuchte er das Mahnmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto von 1943. Nach der Kranzniederlegung fiel er vor dem Mahnmal circa 30 Sekunden lang auf die Knie. Diese Geste ging als Kniefall von Warschau in die Geschichte ein und wurde zum Symbol für die neue Entspannungspolitik der BRD.
Die Polenreise an sich bedeutete bereits einen Meilenstein der Nachkriegsgeschichte: Als erster deutscher Bundeskanzler besuchte Willy Brandt Polen und sorgte mit der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags dafür, dass erstmals offizielle diplomatische Beziehungen zwischen den Ländern aufgenommen wurden. Das Verhältnis zu Polen war zuvor äußerst schwierig: Neben den belastenden Verbrechen des Nationalsozialismus in Polen im Krieg stand immer noch die Frage der Grenzziehung im Raum. Vorgängerregierungen hatten sich geweigert, die Oder-Neiße-Linie als offizielle Grenze anzuerkennen und dadurch den Verlust der ehemals deutschen Ostgebiete hinzunehmen. Mit dem Warschauer Vertrag und der Festlegung der Grenze entlang der Oder und Neiße konnte Willy Brandt einen entscheidenden Beitrag zur Entspannung der deutsch-polnischen Beziehungen leisten. (19)
Sein Kniefall war – wie er später sagte – eine spontane Geste, die eine Bitte um Vergebung Deutschlands für die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs in Polen und an den europäischen Jüd_innen sein sollte (20). Im Vergleich zur Position der Stärke und der Ablehnung des kommunistischen Ostblocks durch die Vorgängerregierungen stellte diese überraschende Geste ein ausdrucksstarkes Symbol dar, das international für Aufsehen sorgte. 1970 wurde Willy Brandt, auch unter dem Eindruck des Kniefalls von Warschau, vom US-amerikanischen Nachrichtenmagazin Time zur Person des Jahres gewählt. (21)
In Deutschland war der Kniefall von Warschau hingegen umstritten und wurde in Umfragen in der BRD von jeder zweiten Person abgelehnt. Die Opposition von CDU und CSU war zudem strikt dagegen, die Oder-Neiße-Linie als Grenze zu akzeptieren. Rechtsextreme Kritiker_innen bezeichneten Willy Brandt, der während der NS-Zeit als Widerstandskämpfer ins Exil gehen musste, in der Folge sogar als Volksverräter.
In Polen wurde der Kniefall von Warschau von der Regierung zwar als Zeichen der Versöhnung erkannt, hatte zunächst jedoch keine direkten Auswirkungen. Die polnische Bevölkerung bekam zum großen Teil nichts vom Kniefall mit, da dieser zensiert und aus den polnischen Zeitungen ferngehalten wurde. Die Unterzeichnung des Warschauer Vertrags legte jedoch den Grundstein für eine Entspannungspolitik der kommenden Jahre. (22)
Die von Egon Bahr und Willy Brandt geprägte Formel des Wandels durch Annäherung schlug sich insbesondere in der Deutschlandpolitik und der Außenpolitik nieder und resultierte in den Ostverträgen sowie dem symbolträchtigen Kniefall von Warschau. Die initiierte Entspannungspolitik gegenüber dem Ostblock und in den deutsch-deutschen Beziehungen markierte eine Zeitenwende, die außen- und innenpolitisch unterschiedlich bewertet wurde.
International schlug Willy Brandt für seine Ostpolitik große Anerkennung entgegen: Im Jahr 1971 erhielt er den Friedensnobelpreis für seine Bemühungen im Rahmen der Ostpolitik. (23)
Innenpolitisch wurde Brandt für seine Entspannungspolitik teils scharf kritisiert. Kritiker_innen sahen eine zu starke Annäherung an die Staaten des Ostblocks und die DDR, in der Menschen an der Berliner Mauer erschossen wurden. Noch einige Jahre zuvor galten Abkommen mit den Staaten des Warschauer Pakts für die Vorgängerregierungen der Bundesrepublik, mit Ausnahme der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion, als untragbar. Besonders in der CDU wurde befürchtet, dass die Ostverträge der deutschen Teilung nicht entgegenwirken, sondern sie festschreiben und die Wiedervereinigung gefährden würden. (24)
Doch auch innerhalb der Regierung Brandt/Scheel waren die Ostverträge umstritten. Innenpolitisch dauerte die Ratifizierung der oben genannten Abkommen daher häufig noch mehrere Jahre. Im Jahre 1972 verlor die Regierung durch den Fraktionswechsel einiger Abgeordneter ihre Mehrheit im Bundestag, woraufhin der Oppositionsführer Dr. Rainer Barzel im April ein Misstrauensvotum gegen Brandt initiierte. Dieses scheiterte nur knapp an zwei Stimmen – die, wie mittlerweile bekannt geworden durch die Stasi der DDR gekauft worden waren (25). Aufgrund der dennoch verlorenen Mehrheit im Bundestag stellte Willy Brandt im September 1972 die Vertrauensfrage, um Neuwahlen zu ermöglichen. Die anschließende Bundestagswahl verzeichnete eine rekordhohe Wahlbeteiligung von 91,1 Prozent und das bis heute beste Wahlergebnis der SPD mit 45,8 Prozent. Die Bevölkerung signalisierte der sozialliberalen Koalition unter Brandt und seiner neuen Ostpolitik dadurch breite Zustimmung. (26)
Aus heutiger Perspektive hat das Konzept des Wandels durch Annäherung trotz Kritik einen wichtigen Beitrag zur Entspannung der Beziehungen zwischen BRD und DDR und zum gesamten Ostblock geleistet. Gleichzeitig konnten sich auch die USA der Sowjetunion in Verhandlungen annähern und beispielsweise Abkommen wie die SALT-Verträge zur Rüstungsbegrenzung erreichen. Bahr und Brandt verbesserten durch die Entspannungspolitik die Situation der Menschen in Westberlin und legten einen wichtigen Grundstein für die deutsche Wiedervereinigung drei Jahrzehnte später. (27)
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