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Der Begriff Zeitenwende ist seit der Rede von Bundeskanzler Scholz Ende Februar 2022 ein fester Bestandteil des gesellschaftlichen Diskurses. Beschreibt er zum einen den Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine als einschneidendes Ereignis für Europa, umfasst er zum anderen auch einen Wandel der deutschen Verteidigungspolitik, Sicherheitspolitik und Energiepolitik. Was ist also eine Zeitenwende und wie kann sie im Kontext des Ukrainekriegs und der politischen sowie gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland eingeordnet werden?
Eine Zeitenwende bezeichnet per Definition das Ende eines Zeitalters und den Anfang einer neuen Zeit. (1) Es handelt sich bei einer Zeitenwende somit um ein Ereignis oder einen Prozess, der in der Folge große Veränderungen oder etwas Neues mit sich bringt. Häufig spricht man im Zusammenhang mit solch einschneidenden Ereignissen auch von einer Zäsur – so auch Bundeskanzler Scholz und der Bundesvorsitzende der SPD, Lars Klingbeil, in ihren jeweiligen Reden zur Zeitenwende. (2)(3)
Eine Zäsur gilt im geschichtswissenschaftlichen Kontext in der Regel als Ende einer Epoche und Einschnitt in die historische Entwicklung. Welche Ereignisse als Zäsur gedeutet werden und eine Zeitenwende bedeuten, wird von Historiker_innen unterschiedlich bewertet. (4) Als Beispiele der jüngeren Geschichte gelten je nach Standpunkt unter anderem die russische Oktoberrevolution von 1917, das Ende des Ersten Weltkriegs 1918, der Zweite Weltkrieg oder der Prozess der friedlichen Revolution in der DDR, welcher bezeichnenderweise auch als „Wende“ Einzug in den kollektiven Sprachgebrauch gehalten hat.
Doch nicht nur Kriege und Revolutionen gelten als Zeitenwende. Auch in anderen Zusammenhängen wird der Begriff genutzt, beispielsweise in Bezug auf die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert und die Verbreitung des Internets in den vergangenen Jahrzehnten. Ferner ist mit Blick auf die Digitalisierung der Begriff der digitalen Zeitenwende geläufig. (5)
Ein Ereignis oder eine Entwicklung kann somit anhand der folgenden Kriterien als Zeitenwende verstanden werden:
Man spricht folglich von einer Zeitenwende, wenn eine große Veränderung sich stark vom zuvor Gewesenen absetzt, sich auf viele Menschen auswirkt, politische Reaktionen auslöst und auch nach mehreren Jahren und Jahrzehnten aus einer historischen Perspektive noch deutlich als Zeitenwende zu erkennen ist. Nicht immer, wenn eine Zeitenwende propagiert wird, muss somit auch tatsächlich eine solche vorliegen – stattdessen kann dies auch als Instrument dienen, eine Veränderung vorzutäuschen, einzufordern oder in Gang zu setzen.
Wie von Bundeskanzler Scholz angestoßen (mehr dazu im folgenden Kapitel) und von zahlreichen Medien seitdem aufgegriffen, erfüllt auch der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine die Kriterien einer Zeitenwende.
Der Status quo beider Länder und des europäischen Kontinents hat sich auf bedeutende Weise geändert: Die Ukraine und Russland befinden sich im Krieg miteinander. Zwar wurde in Teilen der Ukraine bereits seit 2014 ein bewaffneter Konflikt mitsamt einer maßgeblichen russischen Beteiligung ausgetragen, der aufgrund des substanziellen Eingreifens Russlands auch als Krieg bezeichnet wird. (6) Dieser beschränkte sich jedoch überwiegend auf den Osten des Landes und die von Separatist_innen ausgerufenen, international nicht anerkannten pro-russischen Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Außerdem war dieser in seiner Intensität nicht mit dem aktuellen Krieg vergleichbar. Am 24.02.2023 griffen russische Streitkräfte die Ukraine von Osten, Norden und Süden in einer groß angelegten Invasion an (7) und attackierten in den darauffolgenden Wochen und Monaten Ziele auf dem gesamten ukrainischen Staatsgebiet. (8)
Dass ein Land in Europa sein Nachbarland angreift, ist eine bedeutende Veränderung der europäischen Nachkriegsordnung (9) sowie eine Missachtung der Schlussakte von Helsinki und ihrer Friedensordnung. Dieses Abkommen war das Ergebnis der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1973. 35 Staaten beider Seiten der im Nachkriegseuropa vorherrschenden Blöcke – inklusive der Sowjetunion – verpflichteten sich mit der Unterzeichnung der Schlussakte unter anderem zu folgenden Prinzipien in ihren Beziehungen zueinander (10):
Die KSZE sollte so Vertrauen zwischen den Ländern schaffen und als eine Friedensordnung für Sicherheit in Europa sorgen. Nach dem Ende des Kalten Krieges ordnete sich Europa wiederum neu: Die Wiedervereinigung Deutschlands 1990 sowie der Zerfall der Sowjetunion 1991 hatten die Auflösung alter und die Bildung neuer Staaten zur Folge. Die Aufteilung Europas in einen Ost- und einen Westblock zerfiel. An die Stelle von hohen Rüstungsausgaben zur Sicherung von Frieden sollten enge wirtschaftliche Beziehungen zwischen den Ländern Europas treten – mit dem Ziel, den friedlichen Status quo aufrechtzuerhalten. Insbesondere mit Russland wurden die Handelsbeziehungen intensiviert: Neben dem Export begehrter Güter importierten viele westeuropäische Staaten große Mengen Energie aus Russland. Solche gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeiten sollten Vertrauen schaffen. (11)
Neben der Neuordnung der staatlichen Verhältnisse in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg bezeichnet der Begriff Nachkriegsordnung daher auch das Bestreben, nachhaltigen Frieden zu schaffen und sich von Krieg als Instrument der Durchsetzung eigener Interessen abzuwenden. (12) Dass dies nicht überall gelang, zeigen die vorwiegend in Südosteuropa seit den 1990ern ausgetragenen Kriege und bewaffneten Konflikte. (13) Dennoch stellt der Krieg gegen die Ukraine im Vergleich einen besonderen Einschnitt dar: Der Angriffskrieg dieser Dimensionen inmitten Europas und in direkter Nachbarschaft zur EU beendet die zuvor bestehende Nachkriegsordnung und das Vertrauen darauf, Konflikte durch Handel und Kooperation friedlich lösen beziehungsweise verhindern zu können. (14)
Welch großen Einfluss der russische Angriffskrieg auf die Sicherheitspolitik in Europa genommen hat, zeigen auch die Beispiele Schwedens und Finnlands: Die beiden nordischen Länder verfolgten jahrzehntelang eine Politik der militärischen Bündnisfreiheit. Angesichts des Krieges in der Ukraine haben sie diese innerhalb kürzester Zeit revidiert und einen NATO Beitritt forciert. (15) Eine historische Entscheidung, die für sich genommen bereits eine Zeitenwende darstellt. (16)
Mit dem Krieg in der Ukraine gehen auch starke Auswirkungen auf das Leben zahlreicher Menschen einher, womit ein weiteres Kriterium einer Zeitenwende erfüllt ist. Das ukrainische Militär sowie die Zivilbevölkerung leiden unter Bombardierungen und Angriffen durch Russland. Nach Zahlen der Vereinten Nationen (UN) wurden seit Kriegsbeginn im Jahr 2022 bis zum 13.08.2023 5.076 ukrainische Zivilist_innen getötet, 21.308 Zivilist_innen wurden verletzt. (17) Die Vereinten Nationen gehen jedoch davon aus, dass die Zahlen in Wirklichkeit noch höher ausfallen, da in Gebieten intensiver Kampfhandlungen kaum verlässliche Informationen nach außen dringen und viele Fälle noch nicht bestätigt werden konnten. Nach Daten der UN sind innerhalb der Ukraine zudem 5,4 Millionen Menschen auf der Flucht (Stand August 2023). (18) Hinzu kommen 8,2 Millionen Ukrainer_innen die ins restliche Europa geflüchtet sind. Davon sind mehr als eine Million Menschen nach Deutschland eingereist (Stand 06.08.2023). (19) Sowohl in der Ukraine als auch in ganz Europa wirkt sich der Krieg somit auf die Menschen und Gesellschaften aus. In den aufnehmenden Ländern müssen für die Geflüchteten Unterkünfte und Schulplätze gefunden und ihre Versorgung sichergestellt werden. (20)
Somit ergeben sich für die Länder Europas und der EU durch den Krieg zum einen innenpolitische, aber auch außen- und sicherheitspolitische Herausforderungen. Die Sicherheitsordnung in Europa und die Beziehungen zu Russland müssen neu ausgerichtet werden. Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg haben die Staaten der EU gemeinsam zahlreiche Maßnahmen ergriffen.
Dazu zählen zum einen umfassende Sanktionen gegen Russland und teilweise auch gegen Belarus, das unter anderem das Eindringen russischer Streitkräfte in die Ukraine von seinem Staatsgebiet aus erlaubte:
Das Ölembargo und die Einfuhrbeschränkungen auf russische Güter haben zum anderen große Folgen für die jeweilige nationale und EU-weite Energiepolitik. Aus diesem Grund beschloss die EU-Kommission das sogenannte REPowerEU-Programm, das im Großen und Ganzen drei Ziele verfolgt:
Die Abhängigkeit von russischer Energie soll schnell verringert werden, um sich nicht politisch erpressbar zu machen und den Krieg in der Ukraine nicht indirekt zu finanzieren. (21)
Am 27. Februar 2022 – und damit drei Tage nach dem Einmarsch russischer Streitkräfte in die Ukraine – gab Bundeskanzler Olaf Scholz im Deutschen Bundestag im Rahmen einer Sondersitzung zum Krieg gegen die Ukraine eine Regierungserklärung ab. Der erste Satz dieser Rede lautete: „Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents.“ So bezeichnete Scholz die Invasion als Zeitenwende für ganz Europa und erläuterte kurz darauf, dass dies bedeute, dass die Welt danach nicht mehr dieselbe sei wie die Welt davor. (22)
Angesichts dessen formulierte Kanzler Scholz im Folgenden fünf Handlungsaufträge für Europa und Deutschland:
Mit seiner Rede richtete sich der Bundeskanzler an verschiedene Rezipient_innen: Er signalisierte Präsident Putin und Russland, dass Deutschland den Krieg gegen die Ukraine nicht tatenlos hinnimmt, sondern das Land unterstützt und Russland sanktioniert. Der Ukraine sicherte Scholz mit seiner Rede die Unterstützung Deutschlands durch Waffenlieferungen und Sanktionen gegen Russland zu. Die restlichen Staaten der EU forderte er zu Zusammenhalt und Geschlossenheit anstelle von Egoismus auf: „Für Deutschland und für alle anderen Mitgliedsländer der EU heißt das, nicht bloß zu fragen, was man für das eigene Land in Brüssel herausholen kann, sondern zu fragen: Was ist die beste Entscheidung für die Union?“ (23)
Nicht zuletzt richtete sich Scholz‘ Rede zur Zeitenwende an die Bürger_innen Deutschlands, denn vor allem der vierte Handlungsauftrag betrifft diese: Das Sondervermögen für die Bundeswehr, die Gewährleistung der Energiesicherheit sowie die Abkehr von russischen Energieimporten bedeuten eine Kehrtwende in der deutschen Sicherheitspolitik und gehen mit hohen Kosten einher. Welche Folgen sich daraus für Deutschland ergeben, wird im nächsten Kapitel eingehend behandelt.
Der Begriff der Zeitenwende zur Beschreibung der Bedeutung des Krieges gegen die Ukraine und seiner Folgen ist von vielen Medien aufgegriffen und gesamtgesellschaftlich zu einem geflügelten Wort für die derzeitigen gesellschaftlichen sowie energie- und sicherheitspolitischen Entwicklungen geworden. So kürte die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) den Ausdruck Zeitenwende sogar zum „Wort des Jahres 2022“ und begründete dies mit der notwendigen Neuausrichtung deutscher Politik im Jahr 2022.
Zum einen ist mit Blick auf Deutschland eine sicherheitspolitische Zeitenwende zu erkennen: Das von Kanzler Scholz in seiner Rede angekündigte Sondervermögen Bundeswehr wurde im März 2022 per Gesetzesentwurf beschlossen. Es sieht vor, dass die deutschen Streitkräfte mit 100 Milliarden Euro unterstützt werden, um die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr sicher- beziehungsweise wiederherzustellen. Um die sicherheitspolitische Zweckbindung des Geldes sicherzustellen, wurde das Grundgesetz geändert und das Sondervermögen dort verankert. Darüber hinaus soll der allgemeine Verteidigungsetat auf mehr als 50 Milliarden Euro steigen, um gemeinsam mit dem Sondervermögen das beschlossene NATO-Ziel für Verteidigungsausgaben in Höhe von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu erreichen. (24) Nachdem die Bundeswehr jahrzehntelang über sehr begrenzte Mittel verfügte, stellen das Sondervermögen und die Erhöhung des Verteidigungsetats eine bedeutende Kehrtwende dar. (25)
Ebenfalls bemerkenswert ist, dass Deutschland angesichts der Zeitenwende erstmals eine Nationale Sicherheitsstrategie entwickelt hat. Am 14. Juni 2023 beschloss und veröffentlichte die Bundesregierung diese neue Strategie. Die Nationale Sicherheitsstrategie dient der Bundesregierung ressortübergreifend als inhaltliche Orientierung und strategische Ausrichtung der Sicherheitspolitik, Außenpolitik und Verteidigungspolitik. So befasst sich die Sicherheitsstrategie nicht nur mit der verteidigungspolitischen Ausrichtung der Bundeswehr, sondern beispielsweise auch mit dem Schutz vor Cyberattacken und der Zusammenarbeit im Bereich Entwicklung. (26) Als die drei zentralen Dimensionen der deutschen Sicherheitspolitik wurden Wehrhaftigkeit, Resilienz und Nachhaltigkeit festgelegt. (27)
Neben einer Veränderung der Sicherheitspolitik kündigte Scholz in seiner Rede auch eine energiepolitische Zeitenwende für Deutschland an: Die große Abhängigkeit von Russland bei den Energieimporten sollte aufgehoben und die Energieversorgung durch andere Quellen sichergestellt werden. Besonders betroffen waren die Energieträger Gas, Steinkohle und Öl: Zu Kriegsbeginn bezog Deutschland 55 % seiner Gasimporte, 50 % seiner Steinkohleimporte und 35 % der Ölimporte aus Russland – bis zum Jahr 2023 konnten diese allesamt auf 0 % heruntergefahren werden. (28)
Dies gelang unter anderem durch folgende Maßnahmen (29):
Diese politische Zeitenwende blieb auch für die Bevölkerung in Deutschland nicht ohne Folgen. Im Juni 2022 rief Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck die Alarmstufe des Notfallplans Gas aus. (31) Zwischenzeitlich verbreitete sich die Sorge, dass Deutschland im Falle eines kalten Winters die Gasreserven ausgehen könnten. (32) Die Bundesregierung appellierte daher sowohl an Industrieunternehmen als auch Privatleute, ihren Energieverbrauch zu reduzieren und Energie einzusparen. (33)
Aufgrund des Kriegs und der angespannten Versorgungslage stiegen auch die Energiepreise stark an.
Im Februar 2023 kostete importierte Energie 129,5 % mehr als im Februar 2022, in Deutschland erzeugte Energie war 68 % teurer und die Preise für Haushaltsenergie und Kraftstoffe stiegen im Vergleich zum Februar 2021 um 22,5 %. (34)
Darüber hinaus hat sich die in Folge der Corona-Pandemie ohnehin gestiegene Inflation durch den russischen Angriffskrieg weiter verstärkt: Steigende Energie- und Nahrungsmittelpreise bedingten auch Preissteigerungen in anderen Branchen, sodass die Inflationsrate im Jahr 2022 Rekordwerte erreichte. (35) Im Oktober 2022 stieg sie mit 10,4 % auf ihren Höchstwert und betrug im Jahresdurchschnitt 7,9 %. Im Vergleich zu 2021 stiegen die Preise für Energieprodukte im Schnitt um 34,7 % und für Nahrungsmittel um 13,4 %. (36) Dies stellte viele Haushalte vor große Herausforderungen: Bei vielen Verbraucher_innen verdoppelten oder vervielfachten sich zum Beispiel die Abschlagszahlungen für Energie. (37) Die Folgen halten nach wie vor an: Vielen Menschen drohen Zahlungsausfälle und ein Abrutschen in die Armut. Neben Privatpersonen bedrohen die Preissteigerungen auch die Wirtschaft und stellen viele Unternehmen vor existenzielle Probleme. (38)
Um die Bevölkerung und die Wirtschaft zu unterstützen und die Folgen der Inflation sowie gestiegener Energiepreise abzumildern, hat die Bundesregierung Maßnahmen ergriffen und Entlastungspakete (39) auf den Weg gebracht, unter anderem folgende:
Die von Kanzler Scholz ausgerufene und in zahlreichen Politikbereichen in Gang gesetzte Zeitenwende wirkt sich auf vielfältige Weise auf die gesamte Gesellschaft aus. Die Inflation und Sicherstellung der Energieversorgung stellen eine soziale Frage dar, die bis in die Mittelschicht hineinwirkt und die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnet. Die Folgen des Ukrainekriegs und der Umgestaltung der Energie- und Sicherheitspolitik werden voraussichtlich noch lange spürbar und ihre Überwindung eine Herausforderung für die Politik der kommenden Jahre sein.
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