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Prof. Dr. Oliver Fehren ist seit 2011 Professor für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit mit dem Schwerpunkt Gemeinwesenarbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Nach dem Studium der Erziehungswissenschaften hat er zunächst als Gemeinwesenarbeiter in verschiedenen Kommunen in NRW gearbeitet, von 2004-2011 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am ISSAB (Institut für Stadtteilentwicklung, Sozialraumorientierte Arbeit und Beratung) der Universität Duisburg-Essen. Sowohl als Praktiker als auch als Wissenschaftler gilt sein besonderes Interesse der Organisation und Aktivierung bürgergetragener Prozesse in marginalisierten Gemeinwesen.
MuP: Herr Prof. Dr. Fehren, zu Beginn: Was sind eigentlich Sozialräume? Fehren: Sozialraum ist zunächst einmal eine wehrlose Chiffre für die z.T. sehr ernsthaft betriebene z.T. aber auch nur deklamatorische Hinwendung zu den Lebenswelten der Menschen. Sozialraum wird dabei verstanden als nahräumlicher Kontext, der für professionelles und bürgerschaftliches Handeln wichtige Ressourcen beinhalten kann: Die Menschen mit ihren Interessen, Ideen und Nöten; die heißen Themen vor Ort, die ein starkes Motiv für zivilgesellschaftliches Handeln sein können; die lokalen Netzwerke und Kommunikationszusammenhänge, und nicht zuletzt die Qualität und Quantität der lokalen Institutionen.
Ein wesentlicher Strang der Diskussion um Sozialräume widmet sich solchen lokalen Nahräumen, die als abgehängt, marginalisiert, benachteiligt bezeichnet werden. In Bezug auf benachteiligte Quartiere (früher „Soziale Brennpunkte“ genannt) geht es darum, die mit der zunehmenden gesellschaftlichen Ungleichheit einhergehende, sich verschärfende sozialräumliche Polarisierung zu bearbeiten und die materiellen und immateriellen Lebensbedingungen in den benachteiligten Quartieren unter hoher Beteiligung der Menschen vor Ort zu verbessern.
MuP: Ist es dann sinnvoll Sozialräume territorial genau festzulegen? Fehren: Betonen möchte ich, dass Sozialräume als operativer Ansatzpunkt von Engagementförderung immer etwas Künstliches, Kompromisshaftes sind. Das wird durch Synonyme wie Nachbarschaft, Kiez, Quartier, Stadtteil eher vernebelt als erhellt. Aus der Perspektive des einzelnen Subjekts spricht zunächst wenig für die Annahme, dass seine sozialen Bezüge wesentlich im lokalen Nahraum liegen. Vielmehr überzeugt hier das Bild sogenannter „verinselter Sozialräume“: Ich wohne in einem bestimmten Stadtteil, gehe in einem anderen zur Schule oder zur Arbeit, verbringe meine Freizeit in einem wieder anderen Stadtteil und bin mehrere Stunden am Tag im virtuellen Sozialraum der sozialen Netzwerke online unterwegs. Ist der Nachbarschaftsbezug aus der Perspektive des Einzelnen also eher nur latent, bleiben dennoch gute Gründe für die Ausrichtung an lokalen Nahräumen. Denn nur in und für einen territorial klar abgrenzbaren Sozialraum können dort sichtbar werdende Entwicklungen, Ressourcen und Problemlagen systematisch und fortlaufend erkannt und behandelt werden. Zudem ist der Sozialraum im Sinne einer Zone kompatibel mit den Zuständigkeits- und Steuerungsbezirken von Jugendamt und JobCenter, den Wahlkreisen der Lokalpolitik, den Planungsräumen der Stadtentwickler und Wirtschaftsförderer, den Kita- und Schulbezirken, den Einzugsbereichen der Kirchen und Moscheen und den statistischen Bezirken und damit für diese für die Quartiersentwicklung so wichtigen Institutionen anschlussfähig und bearbeitbar. Sozialraum ist also eine sehr sensibel auszubalancierende Kompromissformel und muss in seinen Abgrenzungen sowohl aus der Perspektive der Lebenswelt als auch aus institutioneller Sicht sinnvoll und nachvollziehbar geschnitten sein.
MuP: Welche Bedeutung haben Sozialräume für Non-Profit-Organisationen und bürgerschaftliches Engagement? Fehren: Die wesentliche Bedeutung liegt meines Erachtens in der relativen Unmittelbarkeit in der man in lokalen Nahräumen Themen, Gelegenheiten und Akteure für Engagement mitbekommen und passgenau zusammenbringen kann. Sozialräumliche Engagementförderung meint, genau jene brennenden Themen der Menschen zu erfahren, die zivilgesellschaftliche Handlungsbereitschaft erzeugen können. Diese Themen erfährt man nur z.T. durch Einladung zu Aktivitäten und Beteiligungsangeboten, oft muss man sich die Themen auch von der Straße und aus den Hinterhöfen holen, also aktiv auf die Menschen zugehen. Engagementförderung im Sozialraum beginnt damit, in unzähligen geplanten und zufälligen Gesprächen herauszufinden, was die Interessen der Bevölkerung sind, und welche Themen und Nöte ihnen so stark auf den Nägeln brennen, dass sie sich vorstellen könnten, sich dafür gemeinsam mit anderen zu engagieren.
Ein Sozialraum umfasst immer nicht nur Menschen, sondern auch Institutionen. Bei aller bürgergesellschaftlichen Euphorie bin ich der Überzeugung, dass den lokalen Institutionen eine mindestens ebenso hohe Bedeutung für die Lebensqualität in Quartieren zukommt, wie den Bewohner_innen. Die lokalen Schulen und Kindertageseinrichtungen, die Kirchengemeinden und Moscheevereine, die örtliche Polizei und die Stadtteilbibliothek, die Einzelhändler und Wohnungsbaugesellschaften können erheblich zur sozialräumlichen Entwicklung beitragen. Hinsichtlich einer professionellen Engagementförderung im Sozialraum muss daher eine doppelte Aktivierungsrichtung eingeschlagen werden: Nicht nur den Bürger aktivieren, ebenso auch die Institutionen aktivieren. Auch dazu bietet die sozialräumliche Orientierung beste Voraussetzungen, weil die institutionellen Andockstellen (und auch die Blockaden) für die Engagementthemen hier noch relativ offensichtlich sind.
MuP: Wie kann Bürger_innenbeteiligung/-engagement gerade auch in sozial benachteiligten Stadtteilen, in denen sich bisher wenig Menschen engagieren, ermöglicht werden? Was braucht es dafür? Fehren: In von Armut geprägten Milieus haben Menschen häufig keinen Anlass, sich bürgerschaftlich zu engagieren: Im Vordergrund stehen häufig existenziellere Fragen: „Wie komme ich über die nächsten Tage? Wie gelange ich ohne Auto mit zwei Kindern und einem Kinderwagen zum Jobcenter, zum Kindergarten und zum Wohnungseigentümer, um mich über die feuchte Wand im Kinderzimmer zu beschweren?“ Für die Ermöglichung von bürgergetragenen Aktivitäten in benachteiligten Sozialräumen ist es daher von besonderer Bedeutung, dass Engagement für die Engagierten einen spürbaren Gebrauchswert hat. Das bedeutet: Die prioritären Themen vor Ort herausfinden und bearbeitbar machen. Diese reichen z.B. vom Ärger über die überhöhten Nebenkostenabrechnungen des Vermieters, dem gemeinsamen Leiden unter Kriminalität oder Vermüllung, der Stigmatisierung des Viertels, Erfahrungen der Schikanierung durch Behörden bis hin zum Interesse an günstigen Gartenflächen, dem Wunsch nach Geselligkeit oder einer Verbesserung der Versorgung mit Kinderarztpraxen oder Kitaplätzen.
Die Befähigung zu gemeinsamen zivilgesellschaftlichen Handeln entlang sich überlappender Einzelinteressen ist dabei von besonderer Bedeutung, weil durchsetzungsschwache Bevölkerungsgruppen nur über den Zuwachs von kollektiver Macht eine signifikante Rolle in der zivilgesellschaftlichen Arena spielen können. Entgegen gängiger Praxen der Engagementförderung geht es somit ausdrücklich nicht um die Aktivierung des Einzelnen oder um ein individuelles Empowerment. Vielmehr liegt der Kern der sozialräumlichen Bürgergesellschaft weniger in Selbsthilfe, sondern in Selbstorganisation!
Lokale Engagementförderung braucht eine dauerfinanzierte, personengestützte Infrastruktur, die die von mir eben beschriebenen Formen der Aktivierung von Menschen und Institutionen stetig fördert und dabei insbesondere die Interessen benachteiligter Bevölkerungsgruppen in den Vordergrund rückt. Eine große Verführung für die Politik ist es, Programme für Engagementförderung je nach aktueller Lage für bestimmte Zielgruppen aufzulegen– für die Hospiz-Arbeit, für die Arbeit mit Geflüchteten, etc. Was man aber braucht, sind regelhaft geförderte Strukturen der Engagementförderung im Sozialraum, die unabhängig von Zielgruppenkonjunkturen immer wieder einen guten Boden, einen Humus dafür schafften, dass zivilgesellschaftliche Aktivitäten im Quartier gedeihen können.
MuP: Welche Stolpersteine gibt es, wenn Engagement in Sozialräumen gedacht wird? Fehren: Bürgerschaftliches Engagement ist enorm vielfältig und heterogen, es reicht vom klassischen Engagement im Verein bis zur Einmischung in Prozesse der Stadtentwicklung, vom Ehrenamt als Schöff_in bis zur freiwilligen Mitarbeit in der Flüchtlingshilfe. D.h. Engagement umfasst sowohl die klassische Freiwilligenarbeit im Bereich Hilfe, Pflege, Jugendarbeit aber auch auf Mitsprache abzielende Bewegungen und Kampagnen z.B. zu Fragen des Umweltschutzes oder der Bürgerrechte. Auch wenn sicherlich der quantitativ größere Teil des Bürgerschaftlichen Engagements im Bereich einer eher konsensorientierten Freiwilligentätigkeit verortet werden kann, so darf man die Bedeutung eines eher konfliktorientierten Engagements in Form von alternativen Projekten und Initiativen nicht unterschätzen. Und hier scheint mir ein große Gefahr in Programmatiken zu liegen, die auf lokale Nahräume abstellen. Gemeinwesenbezogene und bürgeraktivierende Strategien stehen latent immer in der Gefahr zu erfolgen anstelle einer gesellschaftlichen Verantwortung für die Minderung von Leid. Mit der Ideologie einer nahräumlich organisierten harmonischen Bürgergesellschaft wird suggeriert, dass die Bürger_innen selbst (am besten noch konfliktfrei) die Probleme lösen könnten, für die sich ein zurückziehender Sozialstaat zunehmend weniger verantwortlich fühlt. Aber erst wenn sich Menschen nicht mehr um ihre eigene Existenz sorgen müssen, werden Ressourcen frei für ein darüber hinausgehendes Engagement.
Bei den derzeitigen gesellschaftlichen Deformationen nur nach den vermeintlichen Keimzellen der Gesellschaft – der Familie und den Nachbarschaften – zu rufen, erscheint mir als hoffnungsloser Ausweg. Daher bedarf es einer Ausrichtung von sozialräumlicher Engagementförderung, die gegen eine übertriebene Stadtteilfixierung imprägniert ist, die vorm Hineintappen in die Aktivierungsfalle schützt: Bewohner_innen sind nicht für die Strukturdefizite eines Quartiers verantwortlich! Die Verantwortung für Lösungen der lokal besonders sichtbar werdenden Probleme darf nicht den jeweiligen Quartieren und ihren Bewohner_innen zugewiesen werden. Engagementförderung kann und soll im lokalen Nahraum anfangen, aber dann (je nach Thema) die überlokale Ebene (Kommune, Bundesland) einbeziehen. Im Lokalen beginnen, aber nicht im Lokalen steckenbleiben!
MuP: Was empfehlen Sie Non-Profit-Organisationen, die lokal arbeiten und Engagement vor Ort fördern wollen? Fehren: Die ins Auge gefassten Sozialräume sollten nicht zu klein und zu homogen geschnitten werden, da zu klein gewählte Gebiete zu zwei Nachteilen führen können:
Relevant für die Auswahl der Engagementthemen und –formen sollte sein, wo die Emotionen der Leute sind, was sie beschäftigt. Das bedeutet für Engagementförderung die eigene „Agenda“ erstmal zurückzustellen und mit großer Neugier und Wachheit die Eigeninteressen der lokalen Akteure zu erkunden (was die Orientierung am Gemeinwohl keineswegs ausschließt). Diese Eigeninteressen sind natürlich oft sperrig, unbequem und unvorhersehbar, aber in Ihnen liegt die wesentliche Energiequelle für die Bereitschaft als Bürger_in zu handeln.
Wir bedanken uns für das Interview! Hinweis: Die Äußerungen unserer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder.
Bonn, 2018