Es gibt viel zu verlernen!

Interview mit dem Unlearn Business Lab

 

 

Das Unlearn Business Lab ist eine Initiative, die sich mit den brennenden Fragestellungen unserer Zeit beschäftigt, um zu zeigen, dass Wirtschaft auch anders geht: regenerativ, fair und kollektiv. Unlearn steht für verlernen, neu erlernen und gemeinsam neue radikale Lösungsansätze entwickeln.

Wir haben mit Irmela Sinkewitsch und Nancy Koch gesprochen, die Teil des Unlearn Vergütung Labs sind und ein Gehaltsmodell mitentwickelt haben, das umverteilt – ein auf Privilegien basiertes Vergütungsmodell.

MuP: Was ist das Unlearn Vergütungs-Lab? 

Irmela Sinkewitsch: Das Unlearn Vergütungs-Lab ist Teil des Unlearn Business Lab, in dem Organisationen, Freelancer und Individuen zusammenarbeiten, um radikal neue Formen des Wirtschaftens zu entwickeln und zu überdenken. Das beinhaltet auch einen alternativen Ansatz der Verbindung, also der Verbindung mit uns selbst, mit unserer Gesellschaft und anderen Unternehmen, da wir den Systemwandel nicht allein bewältigen können. Deshalb steht hinter dem Unlearn Business Lab ein kollaborativer Gedanke.

Nancy Koch: Und warum Unlearn Business? Wir haben erkannt, dass es viel zu verlernen gibt. Auch wenn wir alle irgendwie in Unternehmen tätig sind, sei es als Gründer*innen, Sozialunternehmer*innen oder Menschen, die eine Veränderung anstreben, stoßen wir oft an Grenzen, sei es in den Systemen oder in uns selbst.

Irmela Sinkewitsch: Das Unlearn Vergütungs-Lab hat sich dann geformt, weil uns klar war, dass es neue Wege für Vergütung und den Umgang mit Geld braucht, um einen wirklich radikalen neuen Weg des Wirtschaftens zu beschreiten. Daher haben wir beschlossen, gemeinsam eine neue Idee zu entwickeln und zu prüfen, ob sie funktioniert. Dafür haben wir alternative als auch klassische Vergütungsmodelle genauer untersucht und festgestellt, dass diese Modelle strukturelle und systemische Probleme nicht oder für uns noch nicht tiefgreifend genug angehen. Deshalb haben wir uns für den Weg der privilegienbasierten Vergütung entschieden.

MuP: Auf welche neuen Gehaltsmodelle sind Sie gestoßen? Wie sind Sie zu der Entscheidung gekommen, ein privilegienbasiertes Vergütungssystem zu entwickeln?

Nancy Koch: Wir sind mit einer relativ umfangreichen Recherche gestartet. Wir haben uns gefragt: Was gibt es eigentlich da draußen? Einen großen Bereich haben wir als Bedarfsgehälter identifiziert. Dabei geht es darum herauszufinden, was man unbedingt braucht, was ein Minimum wäre. Der Schwachpunkt bei diesem Modell ist für uns, dass viele Leute ihren Bedarf gar nicht richtig kennen. Man muss eigentlich eine umfangreiche Finanzbildung durchlaufen, um zu wissen, ob man immer zu wenig verlangt, als man eigentlich braucht. Bin ich vielleicht in einem Bereich tätig, in dem ich für das Gute arbeite und denke, dass ich mir deswegen nicht so viel nehmen darf? Oder ist es vielleicht genau das Gegenteil? Komme ich aus einer privilegierten Situation und habe mir einen sehr hohen Standard angewöhnt, weswegen der Bedarf höher ist? Also die Idee ist gut, aber es braucht hier einen sehr kritischen Blick. Was bedeutet Bedarf überhaupt? Kennst du deinen Bedarf? Woher kommt der Bedarf? Wie ist er historisch gewachsen? Weißt du auch, was du in Zukunft brauchst, z.B. wenn du eine Familie gründen möchtest oder jemanden pflegen musst, was deine Kapazitäten beeinflusst?

Es gibt auch Modelle, die das Bedarfsgehalt-Verhältnis mit Infos ergänzen, wie zum Beispiel bei der Organisation „Mein Grundeinkommen“. Dazu gibt es eine gute Gehaltsstudie von „Neue Narrative“, die einen Meridian beinhaltet, was andere verdienen, damit man sich einordnen kann. Und eben auch Beispiele dafür, was man normalerweise braucht. Damit ist die erste Vergütungsgruppe die der Bedarfsgehälter. Die andere Gruppe arbeitet viel mit faktorbasierten Gehältern. Dabei wird ein bestimmtes Grundgehalt festgelegt, das je nach bestimmten Faktoren erhöht wird, wie z.B. Berufserfahrung, Studium, Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen, Bildungsgrad oder politisches Engagement.

Ein Punkt, der selten beachtet wird, ist, dass die heutigen Gehaltssysteme, insbesondere Tarifsysteme und Eingruppierungssysteme, oft die individuelle Situation der Menschen nicht berücksichtigen. Ein exemplarisches Beispiel ist Thomas aus München, der aus einem wohlhabenden Elternhaus stammt, ein Wohnhaus mit sechs Wohnungen besitzt und über ein passives Einkommen von 10.000 Euro im Monat verfügt – der erhält das Gehalt X. Wenn ich dann zum Beispiel in Chemnitz geboren bin, bekomme ich Gehalt Y, aber es berücksichtigt überhaupt nicht meine Situation: Dass ich nichts erben werde, dass ich kein Eigentum habe und dass ich mir alles selbst aufbauen muss. Dies wird noch viel schlimmer oder wirkmächtiger, wenn wir nicht nur Klassenunterschiede betrachten, sondern auch verschiedene Diskriminierungsmerkmale wie Religion, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Herkunft oder Fluchterfahrung berücksichtigen.

Wir haben festgestellt, dass die aktuellen Systeme zwei Schwachstellen haben. Erstens wird immer nach Leistung belohnt, in der Regel nach Stunden. Das ist problematisch, denn es gibt die sogenannte Löffeltheorie, die besagt, dass jeder Mensch eine gewisse Energiemenge zur Verfügung hat, symbolisiert durch Löffel. Menschen ohne chronische Krankheiten oder Pflegeverantwortung haben eine ganz andere Verfügbarkeit dieser "Löffel". Wenn ich jedoch pflege oder chronisch krank bin, sind meine "Löffel" möglicherweise bereits am Vormittag um 10 Uhr aufgebraucht, und ich benötige eine ganz andere Regenerationszeit. Diese Verknüpfung von Leistung und Zeit mit Gehalt ist daher problematisch. Zweitens manifestieren sich die Unterschiede in Klasse, Race, Geschlecht usw. oft durch die Gehaltssysteme. Ich kann beispielsweise schlechter verhandeln als Thomas aus München und jemand, der die deutsche Sprache nicht fließend spricht, kann das noch schlechter. Das wollten wir auflösen. Wir wollten diese Klassen- und Schichtenmanifestationen auflösen und haben gesagt, wir müssen die Privilegien mit an den Tisch bringen, weil jede*r von anderen Ausgangspunkten startet.

Irmela Sinkewitsch: Ergänzend zu den alternativen New-Pay-Modellen, die bereits existieren, wie zum Beispiel das Bedarfsgehalt, wird oft auch das Wunschgehalt verwendet, ein ähnliches Modell, das jedoch ähnliche Herausforderungen mit sich bringt. Es erfordert umfangreiche Bildungsarbeit, damit Menschen wirklich nach ihren tatsächlichen Bedürfnissen fragen können. Es ist ein ausgiebiger Prozess, und die Gefahr ist groß, dass Gender-Pay-Gaps oder andere Pay-Gaps trotzdem weiterbestehen und reproduziert werden. Wenn wir wirklich eine nachhaltige und soziale Wirtschaft aufbauen wollen, müssen wir uns viel stärker dessen bewusstwerden, welche Glaubenssätze in uns stecken und welche Dinge wir reproduzieren, ohne es uns bewusst zu machen.

Nancy Koch: Etwas, das wir festgestellt haben, ist, dass viele Menschen oft nicht richtig in die Zukunft schauen können. Mein Bedarf heute mag Summe X sein, aber ist auch berücksichtigt, dass Frauen beispielsweise viel eher in Altersarmut fallen könnten, weil sie vielleicht ihren aktuellen Bedarf auch nicht richtig kennen? Das sind Dinge, die Menschen oft sehr schwerfallen, was überhaupt nicht kritisch gemeint ist. Angesichts all der Krisen, mit denen sich Menschen derzeit auseinandersetzen müssen, ist das vielleicht auch eine ziemlich große Aufgabe, sich damit noch zusätzlich auseinanderzusetzen.

MuP: Auf was sollte geachtet werden, wenn NPOs sich entscheiden, ein neues Vergütungssystem einzuführen? Welche Schritte braucht es da und was sind Stolpersteine, Hindernisse oder Erfolgsfaktoren?

Irmela Sinkewitsch: Wenn eine Organisation beschließt, ein neues Vergütungssystem einzuführen oder neu zu denken, ist es wichtig, die Mitarbeiter*innen mitzunehmen und sie zur Mitgestaltung einzuladen. Partizipation ist einer der Schlüsselfaktoren dafür, dass das System auch anerkannt wird. Es bringt nichts, top down ein alternatives Vergütungsmodell zu forcieren, wenn es nicht den Bedürfnissen der Mitarbeitenden entspricht. Das ist für mich das wichtigste Element bei der Einführung eines neuen Vergütungssystems.

Nancy Koch: Zeit ist ebenfalls entscheidend, denn oft unterschätzen wir, wie viel Zeit es braucht, um psychologische Sicherheit herzustellen und Vertrauen aufzubauen. Es sind keine einfachen Prozesse, die nebenbei erledigt werden können und sie erfordern Zeit, Raum und Kraft. Und je nachdem, wie die Organisation aufgestellt ist, ist das Thema Vertrauen einfach sehr elementar. Herrscht wirklich psychologische Sicherheit? Kann ich wirklich das sagen, was ich denke? Habe ich vielleicht auch jemanden, mit dem ich nochmal drüber sprechen kann? Je nachdem, wie tief die Organisation in diesem Prozess geht, umso tiefer sind auch die Themen. Und die sind manchmal so tief verwurzelt, z.B. in der Existenzangst, in einem Selbstwertgefühl, welche über Vergütung oder Geld definiert sind. Das ist nicht ohne. Ich würde immer sagen, dass sich die Auseinandersetzung lohnt, aber die Zeit- und Aufwandskomponente sollte nicht unterschätzt werden.

Irmela Sinkewitsch: Wenn es darum geht, ein alternatives Vergütungsmodell einzuführen, das transparent ist, kann es für einige wie ein krasser Einschnitt oder Einblick in die Privatsphäre wirken. Es ist z.b. mit dem eigenen Selbstwertgefühl verbunden, und für manche kann es sich sehr persönlich anfühlen, wenn sie feststellen, dass ihre Vergütung im Vergleich zu anderen geringer ist. Die Einführung von Transparenz kann daher zu Konflikten führen, insbesondere wenn das ursprüngliche Vergütungsmodell als unfair empfunden wurde.

Nancy Koch: Es sollte immer eine Wertediskussion vorangehen. Welche Werte sind uns als Organisation wichtig und welche Werte sollen im Vergütungssystem widergespiegelt werden? Abhängig davon fällt dann auch die Entscheidung für das Vergütungssystem aus. Ein Einheitsgehalt könnte beispielsweise ein möglicher Weg sein, oder für manche ist ein transparentes Gehalt der erste Schritt, weil viele immer noch in dem Modus gefangen sind: über Geld spricht man nicht. Lasst uns dem Thema Geld die Macht nehmen und es aus der dunklen Ecke holen!

MuP: Gerade im NPO-Bereich gibt es oft prekäre finanzielle Voraussetzungen. Können hier nicht-monetäre Vergütungen ein Anreiz sein und wie können Organisationen, die nicht langfristig planen können, mit dem Thema Vergütung umgehen?

Irmela Sinkewitsch: Ich denke es ist wichtig, die Mitarbeitenden nach ihren Bedürfnissen zu fragen. Für manche funktionieren Alternativen, wie zum Beispiel angemessene Freizeitausgleiche, flexible Arbeitszeiten, Urlaubsregelungen, Kooperationen mit anderen Organisationen für Zusatzleistungen oder Weiterbildungsangebote, wenn sie monetär nicht ausreichend vergütet werden können. Es kann auch ein Zuschuss zum Mittagessen gezahlt oder andere Kultur- oder Freizeitangebote angeboten werden.

Nancy Koch: In einer klassisch organisierten NPO, in denen Chef*innen die Ansagen machen und das höchste Gehalt verdienen, gehört die Auseinandersetzung mit Vergütung aber aus meiner Sicht dazu, wenn etwas verändert werden soll. Das Unlearn Business Lab steht für eine menschenzentrierte und menschenorientierte Organisation und Wirtschaft. Das bedeutet, dass wir in dieser Situation in den direkten Austausch gehen würden: Wo ist ein Bedarf? Wo ist eine Ungerechtigkeit, die wir ausgleichen wollen? Der Mechanismus der Verteilung der Mittel an sich ist dann das Endprodukt. Was davor kommt, sind Diskussionen, das im Gespräch bleiben, der eigenen Bedürfnisse gewahr werden, der eigenen Unterschiede gewahr werden, sich klar werden, was unsere Ziele sind.

Wir müssen davon wegkommen, dass Einzelne entscheiden, wie das Geld verteilt wird. Dazu müssen wir uns anschauen, wer alles mitentscheiden soll, welche Themen wir mitdenken wollen. Das funktioniert in einem kleinen, knappen Rahmen und das funktioniert in einem großen.

MuP: Wie können Organisationen Vergütungen fair und transparent diskutieren und in den Austausch kommen? Was ist dabei hilfreich?

Irmela Sinkewitsch: Das kommt auf die Ausgangssituation der Organisation an. Wenn bisher komplette Intransparenz geherrscht hat und dadurch Ungerechtigkeiten und Differenzen entstanden sind, kann eine plötzliche Offenlegung der Vergütungen problematisch sein. Insbesondere wenn im Vorfeld das Einverständnis der Mitarbeitenden nicht eingeholt wurde. Wenn die Ungleichheiten minimal sind, es eine Begründung für diese Verdienstunterschiede gibt, also eine klare Verteilungsgerechtigkeit mit einer klaren Struktur, wenn die Mitarbeitenden nach ihrem Einverständnis gefragt wurden und es die Bereitschaft gibt, diesen Prozess gemeinsam zu gehen, dann ist das eine ganz andere Herangehensweise und Diskussion. Für den Anfang ist es sicher auch hilfreich, eine Prozessbegleitung hinzuzuziehen, um Doppelrollen im Team zu vermeiden.

Nancy Koch: Und das Vertrauensverhältnis muss stimmen. Wenn das nicht da ist, muss es zunächst aufgebaut und in den Austausch gegangen werden. Dabei verlieren sich dann die Vorstellungen von einer Arbeitsperson und einer Freizeitperson, wir lernen uns kennen.

MuP: Welche Impulse oder Tipps geben Sie Non-Profit-Organisationen, die sich auf den Weg machen wollen, um Vergütung neu zu denken?

Nancy Koch: Was wir sehr viel sehen bei Non-Profit-Organisationen, ist tatsächlich die Ausbeutung der eigenen Mitarbeiter*innen zugunsten des Sinns. Viele arbeiten sehr viel, bekommen relativ wenig Vergütung aber sie tun ja etwas Gutes. Dieser Mechanismus sollte sehr kritisch und transparent reflektiert werden. Wir könnten als Start in einen Austausch gehen und uns darüber austauschen, was gute, gesunde Arbeit für uns eigentlich bedeutet. Das bedeutet dann auch, zu sagen: „Zehn Stunden sind genug“. Bei einem fünf Stunden-Arbeitsvertrag geht dann eben auch nur das, was in fünf Stunden geleistet werden kann.

Irmela Sinkewitsch: Wichtig finde ich auch die Frage, wer es sich überhaupt leisten kann, in einer NPO zu arbeiten. Das kann bei der Vergütung dann auch mitgedacht werden. Möchten wir wirklich nach Qualifikation vergüten oder geht das auch anders? Wenn auch Menschen eingeladen werden, die nicht die bisherigen Qualifikationen mitbringen, beispielsweise weil sie aufgrund von Marginalisierungserfahrungen ganz andere Strategien entwickelt haben, sind gerade aufgrund dieser Erfahrungsschätze eine richtig gute Ergänzung im Team. Grundlegend ist aber auch hier, ein Vertrauensverhältnis im Team aufzubauen und eine Kultur zu etablieren, die auf Gemeinschaft basiert und solidarisch ist.

Nancy Koch: Wenn wir die Gesellschaft verändern wollen, müssen wir beim Geld anfangen. Wenn wir uns dem nicht stellen, wird es nicht besser. Ich würde also allen NPOs, die etwas verändern wollen, gerne mitgeben: Traut euch und wenn es kleine Schritte sind, dann ist es voll okay. Aber es nicht zu tun, ist eigentlich keine Option.

Wir bedanken uns für das Interview!       
Hinweis: Die Äußerungen unserer Gesprächspartner*innen geben deren eigene Auffassungen wieder.

Dieses Interview wurde verschriftlicht und redaktionell überarbeitet. Bonn, 2024

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