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Gemeinnützigkeitsrecht und engagierte Zivilgesellschaft

Ein Interview mit Prof. Dr. Sebastian Unger

Prof. Dr. Sebastian Unger lehrt Öffentliches Recht und Steuerrecht an der Ruhr-Universität Bochum. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Demokratietheorie und -dogmatik und im Recht der Zivilgesellschaft. Er ist Autor eines kürzlich im Auftrag der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. erstatteten Rechtsgutachtens zur politischen Betätigung gemeinnütziger Körperschaften. Kontakt unter sebastian.unger@rub.de und https://oeffentlichesrecht.rub.de

MuP: Herr Professor Unger, das sogenannte Attac-Urteil und seine Folgen haben den Non-Profit-Sektor nachhaltig verunsichert. Was genau ist der Auslöser dieser Verunsicherung und warum wurden dadurch Diskussionen um die Reform des Gemeinnützigkeitsrechts ausgelöst?

Unger: Im Attac-Verfahren ging es um die Gemeinnützigkeit des Trägervereins von Attac in Deutschland. Die hessische Finanzverwaltung hatte ihm die Gemeinnützigkeit entzogen, die dagegen gerichtete Klage blieb letztlich ohne Erfolg. Hintergrund ist das Gemeinnützigkeitsrecht. Es enthält in § 52 der Abgabenordnung einen Katalog anerkannter Zwecke. Nur wer einen oder mehrere dieser Zwecke verfolgt, kann als gemeinnützig anerkannt werden. Im Fall von Attac konnten die Finanzverwaltung und der Bundesfinanzhof nicht erkennen, dass Attac einen der gesetzlichen Zwecke verfolgt. Sie sahen den Hauptzweck in der thematisch breit angelegten Einflussnahme auf die politische Willensbildung, die als solche keinem anerkannten Zweck zugeordnet werden könne. Das Urteil hat die Zivilgesellschaft tatsächlich nachhaltig verunsichert und zu einer anhaltenden Diskussion über die Zulässigkeit und die Grenzen der politischen Betätigung gemeinnütziger Organisationen geführt. In dieser Diskussion ist zwar allgemein anerkannt, dass gemeinnützige Organisationen politische Mittel einsetzen dürfen, sofern sie nur thematisch auf einen gesetzlichen Katalogzweck bezogen sind. Die genauen Grenzen sind aber unklar. Insbesondere finden sich in den Handreichungen der Finanzverwaltung und der Rechtsprechung der Finanzgerichte relativierende Formulierungen, in denen ganz allgemein erhebliche Vorbehalte zum Ausdruck kommen. Die Gelegenheit, hier für rechtliche Klarheit zu sorgen, hat der Gesetzgeber im laufenden Gesetzgebungsverfahren zum Jahressteuergesetz 2020 leider versäumt.   

MuP: Welche Bedeutung hat der Gemeinnützigkeitsstatus und welche Konsequenzen ergeben sich für Non-Profit-Organisationen aus juristischer wie aber auch aus gesellschaftlicher Perspektive?

Unger: Der Gemeinnützigkeitsstatus ist zunächst ein steuerlicher Status. Gemeinnützige Organisationen sind weitgehend von der Körperschaft- und der Gewerbesteuer befreit, sie müssen also zum Beispiel Einkünfte aus Vermögensverwaltung nicht versteuern. Auch das Umsatzsteuerrecht und weitere Steuergesetze sehen steuerliche Vergünstigungen vor. Fast noch wichtiger ist, dass Dritte Spenden und Mitgliedsbeiträge an gemeinnützige Organisationen steuermindernd geltend machen können. Das erschließt den gemeinnützigen Organisationen eine zentrale Finanzquelle. Darüber hinaus ist die Gemeinnützigkeit auch außerhalb des Steuerrechts Anknüpfungspunkt für viele Vorteile. So setzen finanzielle Zuwendungen und die Überlassung von Einrichtungen durch die öffentliche Hand, aber auch durch Private regelmäßig Gemeinnützigkeit voraus. Unabhängig von diesen rechtlichen Vorteilen ist der Gemeinnützigkeitsstatus zu einem gesellschaftlich anerkannten „Gütesiegel“ geworden. Das erklärt, warum trotz gewisser Einschränkungen, die mit dem Gemeinnützigkeitsstatus eben auch verbunden sind, über 90 % aller zivilgesellschaftlichen Organisationen in Deutschland als gemeinnützig anerkannt sind.

MuP: International und national wird über die Bedeutung und Begrenzung von Handlungsräumen der Zivilgesellschaft mit dem Begriff „shrinking spaces“ diskutiert. Was bedeuten die aktuellen Entwicklungen für zivilgesellschaftliche Handlungsräume?

Unger: Hier muss man unterscheiden. In über 80 % aller Staaten werden die Bewegungsräume der Zivilgesellschaft mehr oder weniger offen eingeschränkt. Das erleben wir selbst in der Europäischen Union. Erst im Juni dieses Jahres ist Ungarn vom Europäischen Gerichtshof wegen eines Gesetzes verurteilt worden, das auslandsfinanzierte Organisationen dazu verpflichtete, umfassend Auskunft über erhaltene Zuwendungen zu geben. Deutschland ist demgegenüber nach dem CIVICUS-Monitor nach wie vor ein „offener“ Staat: Vereinigungen können ohne ernsthafte Hürden gebildet werden, die Versammlungs-, die Meinungs- und die Informationsfreiheit sind gewährleistet und es findet ein Dialog zwischen dem Staat und der Zivilgesellschaft statt. Gleichwohl sind die Auswirkungen der Diskussion über die politische Betätigung gemeinnütziger Organisationen nicht zu unterschätzen: Zwar ist die Gemeinnützigkeit zunächst nur eine Voraussetzung für Steuervergünstigungen. Sie ist aber angesichts ihrer Signalwirkung faktisch das zentrale Organisationsstatut für die Zivilgesellschaft. Wer nicht gemeinnützig ist, hat ganz unabhängig vom Steuerrecht erhebliche operative Nachteile. Die Vorbehalte gegenüber einer politischen Betätigung gemeinnütziger Organisationen haben daher einen Kanalisierungseffekt, der letztlich zu einer relativ unpolitischen Zivilgesellschaft führt.

MuP: Sie haben ein Gutachten erstellt, in dem Sie Urteile des Bundesfinanzhofs in Bezug auf politische Betätigung von gemeinnützigen Organisationen untersuchen. Zu welchen Ergebnissen kommen Sie?

Unger: Dem geltenden Gemeinnützigkeitsrecht und seiner Anwendung liegt die Überzeugung zugrunde, politische Betätigung könne aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht gemeinnützig sein. Das überzeugt mich nicht: Zwar zieht das Bundesverfassungsgericht einer steuerlichen Förderung politischer Parteien enge Grenzen. So darf die Begünstigung von Parteispenden vor dem Hintergrund demokratischer Gleichheit nicht dazu führen, dass Unterschiede zwischen den finanziellen Einflussnahmemöglichkeiten von Bürger*innen durch den Staat übermäßig vergrößert werden. Körperschaftliche Parteispenden dürfen daher gar nicht und individuelle Parteispenden nur bis zu einer Höhe steuerlich gefördert werden, die für Durchschnittsbürger*innen erreichbar ist. Auf zivilgesellschaftliche Organisationen sind diese Vorgaben aber, anders als Finanzverwaltung und Finanzgerichte meinen, nicht übertragbar. Sie haben anders als Parteien keinen parlamentarischen Vertretungsanspruch und nehmen nicht an Wahlen teil. Dementsprechend geht auch das Grundgesetz von unterschiedlichen Funktionen politischer Parteien und politisch tätiger zivilgesellschaftlicher Organisationen aus, wenn es einerseits den Parteien besondere Demokratie- und Transparenzpflichten auferlegt, andererseits aber keine entsprechenden Vorgaben für politische Organisationen der Zivilgesellschaft enthält. Daraus folgt, dass der Gesetzgeber bei der steuerlichen Förderung politischen Engagements im Bereich der Zivilgesellschaft größere Spielräume hat als im Bereich der politischen Parteien. Das bedeutet zwar nicht, dass man die politische Betätigung zivilgesellschaftlicher Organisationen umfassend steuerlich fördern muss. Umgekehrt darf man die Diskussion darüber aber auch nicht mit dem viel zu einfachen Argument abbrechen, eine steuerliche Förderung sei verfassungswidrig. Gemeinnützigkeit und politische Betätigung sind im Ausgangspunkt durchaus miteinander vereinbar. Erst in einem zweiten Schritt stellt sich die Frage nach den Grenzen, die nicht einfach aus dem Parteienrecht übernommen werden können.

MuP: Herr Professor Unger, abschließend: Was ist aus Ihrer Perspektive wichtig, damit NPOs Handlungsräume gestalten und nutzen können? Worauf sollten NPOs, die sich (politisch) engagieren achten?

Unger: Unter dem geltenden Gemeinnützigkeitsrecht sollten Organisationen darauf achten, dass ihr politisches Engagement stets auf einen im gesetzlichen Katalog enthaltenen Zweck wie zum Beispiel den Umweltschutz bezogen ist und dieser Zweck in der Satzung verankert ist. Ganz sicher gehen sie, wenn sie den Zweck ferner auch noch durch andere, nicht im engeren Sinne politische Tätigkeiten fördern. Dann ist ihr Gemeinnützigkeitsstatus relativ sicher. Zukünftig erscheint es mir wichtiger denn je, noch einmal grundlegend über die Funktion von Zivilgesellschaft im 21. Jahrhundert nachzudenken. Das geltende Gemeinnützigkeitsrecht stammt in seinen Grundstrukturen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und offenbart ein Bild von Zivilgesellschaft, das die Entlastung des Staates in den Mittelpunkt stellt. Gemeinnützige Organisationen erhalten Steuervergünstigungen, weil sie Leistungen erbringen, die sonst der Staat selbst zur Verfügung stellen müsste. Der Funktion der Zivilgesellschaft wird dieser Ansatz immer weniger gerecht. So zählen zu den in der Zivilgesellschaftsforschung anerkannten Funktionsbereichen zivilgesellschaftlicher Organisationen über die Dienstleistungsfunktion hinaus auch die Themenanwaltsfunktion, die Wächterfunktion und die Deliberations- und Mitgestaltungsfunktion. Im Rechtsbegriff der Gemeinnützigkeit finden diese politischeren Funktionsbereiche nur ganz ansatzweise Niederschlag. Hier dominieren bis heute staatliche Nützlichkeitserwägungen. Darüber hinaus sind zentrale Entwicklungen wie die Europäisierung der Rechtsordnung, die Digitalisierung und der Megatrend zu Transparenz im Gemeinnützigkeitsrecht bestenfalls notdürftig verarbeitet. Es bleibt daher zu hoffen, dass die insgesamt enttäuschende „Reform“ des geltenden Rechts im Jahressteuergesetz 2020 erst der Auftakt zu einer grundlegenden Revision des Gemeinnützigkeitsrechts ist.

Wir bedanken uns für das Interview!
Hinweis: Die Äußerungen unserer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Bonn, 2020

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