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Matthias Diederichs ist seit vielen Jahren als Berater, Trainer und Supervisor für Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, soziale Organisationen und Industrieunternehmen bei der flow consulting gmbh tätig. Er hatte mehrere Jahre Lehraufträge an den Universitäten Hildesheim und Göttingen. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen neben Kommunikation, Moderation und Führung in den Bereichen Veränderungsmanagement und Organisationsberatung. Für die Akademie Management und Politik führt er u.a. die Seminare Veränderungsmanagement und Organisationskultur für NPOs durch.
MuP: Herr Diederichs, was macht eigentlich die Kultur einer Organisation aus? Diederichs: Der Begriff „Organisationskultur“ wird benutzt, um Aspekte von Organisationen zu beschreiben, die nicht direkt greifbar sind, aber dennoch das Verhalten der Organisationsmitglieder stark prägen. Als Sammelbegrifft charakterisiert Organisationskultur auch Identität und Besonderheiten von Organisationen.
Im Gegensatz zu den beschriebenen und formal festgelegten Strukturen und Regeln einer Organisation, wird Kultur erst im „Vollzug“, also in der Art und Weise, wie die gegebenen Strukturen in einer Organisation von ihren Mitgliedern gelebt werden, erkennbar.
Hinter einem als „typisch“ etikettierten Verhalten von Organisationsmitgliedern steht ein „Grundset“ von informalen Regeln, die sich teilweise über Jahre entwickelt haben.
Die informalen Regeln einer Organisation gründen auf den geteilten Erwartungen ihrer Mitglieder und beinhalten gemeinsame Einstellungen oder Grundhaltungen. Diese „Grundmelodie“ bestimmt, welches Verhalten in einer Organisation gewünscht ist, welches (noch) erlaubt ist und welches definitiv (jedenfalls zurzeit) nicht dazugehört.
MuP: Wozu brauchen Organisationen informale Regeln – geht es nicht auch ohne? Diederichs: Verhalten von Personen wird in Organisationen natürlich auch ganz formal geregelt. Denken Sie nur an Dienstanweisungen oder Prozessbeschreibungen. Formale Regelungen haben allerdings eine begrenzte Reichweite und stoßen in Organisationen auf Grenzen.
Denn: (1) nicht für alles, was in einer Organisation bewältig werden muss, wurden bereits Regeln formuliert, (2) häufig können mehrere Regeln gleichzeitig angewendet werden oder (3) es gibt nicht selten Interpretationsspielräume. Regeln sind in der Praxis nicht immer so eindeutig, wie es auf den ersten Blick erscheint.
Informale Regeln sind für die Fälle wichtig, die nicht offiziell geregelt sind, die nicht offiziell geregelt werden können oder die nicht geregelt werden sollen. Sie wirken wie ein Kompass, der die richtige Richtung weist, oder wie ein Navi, das bei Abweichungen dafür sorgt, dass das gewünschte Verhalten auch eingehalten wird. Wenn formale Regelungen auf Grenzen stoßen, füllen informale Regeln die Lücke.
In der Protestform „Dienst nach Vorschrift“ wird die Bedeutung der informalen Ebene für das Funktionieren von Organisationen besonders deutlich: formale Regelungen reichen nicht, um den Betrieb vollständig aufrecht zu halten; wenn das Informale wegfällt, sind Organisationen nur noch sehr beschränkt handlungsfähig – wenn überhaupt.
MuP: Wie können politische Organisationen und NPO mehr über ihre bestehende Organisationskultur herausfinden? Diederichs: Sie könnten z.B. neue Mitglieder/Engagierte fragen, was ihnen in den ersten 100 Tagen in der Organisation aufgefallen ist: Was waren ihre Erwartungen, welche positiven oder negativen Erlebnisse hatten sie, was hat ihnen gefehlt?
Ebenso interessant ist es, diejenigen zu fragen, die zwischen Abteilungen rotieren – oder Trainees, die nach kurzer Zeit nahezu überall Einblick bekommen haben. Haben sie einen Blick für die Informalitäten jeder durchlaufenen Abteilung, mündet deren strukturierte Befragung in eine gute Kulturanalyse. Oder es kann mit Analysewerkzeugen wie dem OCI (Organizational Culture Inventory) ein Soll-/Ist-Profil für die Organisationskultur vorgenommen werden.
Werden die Ergebnisse dann regelmäßig ausgewertet und kontinuierlich mindestens eine Maßnahme, die auf die Organisationskultur wirkt, umgesetzt - ich denke viele Organisationen können einen richtigen Sprung nach vorne machen.
Das MuP-Seminar „Organisationskultur“ besuchen – auch das ist eine sehr sinnvolle Möglichkeit, mit anderen etwas über die eigene Organisationskultur herauszufinden!
MuP: Wann sollten NPO oder politische Organisationen das Thema Organisationskultur angehen? Diederichs: Mitgliederschwund, hohe personelle Fluktuationsraten, hoher Krankenstand, abnehmende öffentliche Attraktivität, steigende Reklamationen, mangelnde Finanzierung, etc. - die Liste ließe sich fortsetzen: All das können gute Anlässe sein, die bestehende Organisationskultur kritisch zu überprüfen. Dabei ist es wichtig die Wechselbeziehung zu den aktuellen Strukturen immer zu berücksichtigen.
Bei Strategieänderungen sollte die Organisationskultur ebenfalls unter die Lupe genommen werden. Die Fragen lauten dann: Wo passen unsere bekannten Organisationsroutinen noch, wo stehen uns alte Verhaltensmuster im Weg, wo müssen wir neue entwickeln?
MuP: Warum ist es eigentlich so schwer eine einmal bestehende Organisationskultur und Routinen zu verändern? Diederichs: Routinen entstehen entweder durch die Befolgung von Formalregeln (auch wenn diese längst abgeschafft wurden) oder durch geronnene Verhaltenserwartungen. Sie sind häufig wirksamer als die Formalvorschriften, obwohl (oder gerade weil?) sie nirgendwo beschrieben sind und sich niemand darauf offiziell berufen kann.
Der Charakter von Routinen ist: Sie sind leicht und ohne großen Aufwand abrufbar. Das ist für die meisten Personen immer dann sehr komfortabel, wenn ein einmal erlerntes Verhalten ohne großen Aufwand wiederholt werden kann. Wenn die Rahmenbedingungen gleichbleiben, dann kann damit lange fortgefahren werden.
Routinen werden in Organisationen „kollektiv“ gelernt, und so können sich Organisationsmitglieder jederzeit darauf verlassen, dass andere sich auch an diese Routinen halten. Das vermittelt Sicherheit, Stabilität und Zugehörigkeit, die in Veränderungsprozessen ungern aufgegeben werden.
Organisationen neigen darüber hinaus dazu, ihre „historischen“ Erfolgsmuster zu tradieren und auf Gegenwart und Zukunft zu übertragen. Sie wenden ein Verhalten selbst dann weiter an, wenn sich die Welt um sie herum stark gewandelt hat. Dann wird das Risiko etwas zu verändern größer eingeschätzt als der mögliche Gewinn, den es verspricht bekannte Pfade zu verlassen.
Wenn ich bestehende Routinen verändern möchte, stellt mich das Erlernen neuer Routinen erst einmal vor Herausforderungen; ich muss Routinen verlassen und gleichzeitig neue lernen. Auf diesem Weg betrete ich drei Baustellen gleichzeitig: die individuelle Ebene »Veränderung ist mühsam – wie kriege ich das hin?«, die soziale Ebene »Wie machen die anderen das – ziehen die mit?« und die organisationale Ebene »Wie ticken wir bald – was macht uns aus?«.
Bei Kulturveränderungen schwingen im Hintergrund die Fragen: »Bedrohen die Veränderung nicht unsere Identität? Geben wir unsere Besonderheiten auf? Sind wir später noch wir?« zusätzlich mit.
MuP: … und warum lohnt es manchmal trotzdem eingefahrene Routinen zu durchbrechen und neue Wege zu gehen? Diederichs: Weil Organisationen so anpassungsfähig bleiben. Die Kultur gehört, ebenso wie Strategie und Struktur, regelmäßig auf den Prüfstand. Nur so kann sichergestellt werden, dass die inneren und äußeren Anforderungen einer Organisation zusammenpassen.
Nehmen wir die Frage nach der Neubesetzung von Ämtern und Funktionen, aktuell eine für viele Organisationen große Herausforderung. Wenn Nachfolgeregelungen bisher immer hinter verschlossenen Türen stattfanden, dann kann ein offenerer und mit Personalentwicklungsmaßnahmen begleiteter Nachfolgeprozess zu ganz neuer Motivation bei den Beteiligten führen. Damit ändern sich auch Erwartungen an den internen Umgang mit diesem Thema, die informalen Regeln kommen in Bewegung; und das kann zu mehr und anderen Bewerber_innen führen.
MuP: Wie und mit welchen Methoden können Routinen positiv verändert werden und eine offene Organisationskultur gefördert werden? Diederichs: Im Rahmen des MuP-Seminars „Organisationskultur“ haben wir ein Kulturinterview entwickelt, das hilft neuralgische Punkte in der Organisationskultur zu entdecken. Für Veränderungen der Organisationskultur können auch vorhandene Kommunikationsrituale bewusst unterbrochen werden, indem neue Methoden eingeführt werden, der Kreis der Teilnehmenden erweitert wird und damit neue Perspektiven ins Spiel kommen.
MuP: Was raten Sie NPOs, wenn sie Organisationskultur verändern wollen und was sollten sie in jedem Fall vermeiden? Diederichs: Für die Veränderung der Organisationskultur werden Zeit und ein langer Atem benötigt. Gleichzeitig hilft die klare Analyse der Ausgangslage sowie grobe Beschreibungen der zukünftig geforderten Routinen, die an die Stelle der alten treten sollen. Danach beginnt das Experimentieren: Ist eine andere gewünschte Kultur eher durch mehr, durch weniger oder durch andere formale Regeln erreichbar?
Was vermieden werden sollte sind von oben verordnete Kulturprogramme, aufgesetzte Leitbildentwicklungen oder künstlich inszenierte Wertedebatten. Kultur (im Gegensatz zu Strategie/Struktur) kann nicht „von oben verordnet“ werden, sondern entsteht durch Handeln vor Ort.
Organisationskultur wirkt und verändert sich immer unbemerkt hinter den Kulissen. Sie muss zu den strategischen Entscheidungen passen, sie entscheidet darüber, ob und wie strukturelle Veränderungen gelebt werden.
Die Planbarkeit von direkten Kulturveränderungen ist damit sehr beschränkt – Appelle helfen wenig: Organisationskultur kann „nur“ indirekt z.B. über veränderte Formalitäten beeinflusst werden: Neue Regelwerke verlangen andere informale „Schlupflöcher“, neue Beschäftigte bringen neue Erwartungen ein und setzen sich mit den vorhandenen auseinander, neue Entscheidungswege führen zu anderen Beteiligten mit anderen Präferenzen und Prioritäten.
Wir bedanken uns für das Interview! Hinweis: Die Äußerungen unserer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder.
Bonn, 2018