Zivilgesellschaft ist der Ort, an dem Partizipation stattfindet.

Interview mit Siri Hummel

 

 

Dr. Siri Hummel ist Direktorin des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft und ist Politik- und Kommunikationswissenschaftlerin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Demokratie und Zivilgesellschaft, sowie Gleichstellung in der Zivilgesellschaft und Stiftungsforschung. Zusätzlich ist sie Lehrbeauftragte im Studiengang Nonprofit Management and Public Governance an der Hochschule für Wirtschaft und Recht.

Vor ihrer Arbeit bei Maecenata war Siri Hummel von 2011-2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald. 2018 promovierte sie an der Universität Greifswald zum Thema Demokratieförderung durch Stiftungen.

MuP: Was bedeutet der Begriff Shrinking Spaces?

Siri Hummel: Das Phänomen wurde zunächst Shrinking Civic Spaces genannt. Da war es noch deutlicher, um was es geht: Um die Einschränkung des zivilgesellschaftlichen Handlungsraums. Ausgehend primär von staatlichen, aber durchaus auch von wirtschaftlichen Akteuren. Und die Diskussion hat mit den Demokratisierungswellen im Sinne von Huntington an Fahrt aufgenommen.  Nachdem wir erst eine Expansion von Zivilgesellschaften wahrnehmen konnten – parallel zur Expansion der Demokratie – erleben wir nun wieder eine Einschränkung, die in autoritären Staaten begonnen hat. Der Fokus lag dabei ganz klar auf der Repression von einer sich eventuell herausbildenden Opposition. Zivilgesellschaft wurde als ein Raum wahrgenommen, in dem sich Opposition bilden kann und deshalb wurde versucht, diese zu unterdrücken oder einzuschränken.

Russland wird hier häufig als Paradebeispiel dafür herangezogen, wie eine lebendige Zivilgesellschaft innerhalb einer kurzen Zeit substanziell geändert und eingeschränkt werden konnte. Russland hat dieses Fremde-Agenten-Gesetz quasi erfunden, das viele andere nachgemacht haben. Aber diese Entwicklung findet nicht nur in semi-autoritären oder autoritären Staaten statt. Ungarn ist ein Beispiel für diese Einschränkungen in Europa. Und in Demokratien ist Zivilgesellschaft in Bezug auf die Öffentlichkeitsbildung ja noch mal deutlich wichtiger. Shrinking Spaces lassen sich mittlerweile global beobachten. Es ist gewissermaßen eine Antwort auf die Expansion von Zivilgesellschaften.

Ich finde es wichtig, den Diskurs auch global einzubetten. Also den Blick nicht nur auf Deutschland zu richten, sondern auch zu sehen, was weltweit passiert. Ich hatte jetzt nur von staatlichen Akteuren gesprochen, aber Wirtschaft ist eben auch häufig ein Fall von Shrinking Spaces. Das sehen wir zum Beispiel in Südamerika ganz stark, wo Umweltaktivist*innen im Amazonasgebiet getötet werden. Es ist relativ evident, dass dort wirtschaftliche Interessen dahinterstecken. Und in Deutschland haben wir das, natürlich in abgeschwächter Form, zum Beispiel mit der Deutschen Umwelthilfe. Gegen die schießen eben nicht nur die konservativen Parteien, sondern auch Wirtschaftsverbände. Die Frage, wie Wirtschaft eine kritische Zivilgesellschaft unterdrückt, wenn diese versucht, die Transparenz zu erhöhen, gehört definitiv auch zur Debatte.

MuP: Welche Rolle spielt das Phänomen konkret in Deutschland?  

Siri Hummel: Es gibt den CIVICUS Monitor, das ist eine globale Initiative, um zivilgesellschaftlichen Raum zu messen. Es ist also ein Index für die Qualität von Zivilgesellschaften. Da hat Deutschland immer sehr gut abgeschnitten. Bei der Farbskalierung von Rot zu Grün war Deutschland immer grün und damit als open/offen gekennzeichnet. Das hat sich im letzten Jahr geändert. Deutschland wurde runtergestuft, zum einen aufgrund der massiven Einschränkungen der Klimaproteste, als auch der Einschränkungen der Demonstrationen zum Gaza-Konflikt. Die Diskussion hat aber in Deutschland schon früher an Fahrt aufgenommen, nämlich mit dem Urteil gegen Attac bzw. dem Entzug der Gemeinnützigkeit durch das Finanzamt. Damit begann die Diskussion darüber, wie politisch zivilgesellschaftliche Organisationen eigentlich sein dürfen.

MuP: Welche Rolle spielt das Gemeinnützigkeitsrecht in der Debatte um Shrinking Spaces in Deutschland?

In Deutschland ist die politische Meinungs- und Willensbildung traditionell bei den Parteien verankert. Die Zivilgesellschaft wurde weder in der Verfassung noch in unserer staatsrechtlichen Tradition als intermediäre Basis mitgedacht. Die Gründe dafür lassen sich plausibel aus dem Nationalsozialismus herleiten. Problematisch ist, dass sich das Gemeinnützigkeitsrecht nicht verändert hat und besagt: „Wenn ihr Politik machen wollt, dann geht in die Parteien. Zivilgesellschaft hat damit nichts zu tun.“ Die Zivilgesellschaft soll eben ganz bestimmten Zwecken dienen und die sind im Abgabenkatalog festgelegt. Das ist dann sowas wie Denkmalschutz oder Gleichstellung.

Wenn sich aber heute beispielsweise ein Sportverein politisch positionieren möchte, sagen wir bei einer Anti-Rassismus-Kampagne, haben wir einen Grundkonflikt. Es gibt auch immer mehr Advocacy-Organisationen, die ganz bewusst auch eine politische Positionierung einnehmen, aber nicht im Sinne von Parteien, sondern eher in einer Watchdog-Funktion. Das Recht oder die Rechtsauslegung sagt, dass das nicht im gemeinnützigen Sektor stattfinden soll, dafür gäbe es andere Institutionen.

Diese Auffassung hinkt der Realität und unserem heutigen Demokratieverständnis aber hinterher. Und es hinkt auch der Realität hinterher, dass Parteien immer weniger Mitglieder haben. Also das Argument, dass diese stark legitimatorischen Parteien ganz viele Menschen repräsentieren, wird immer schwächer. Und an diese Stelle tritt das Verständnis einer politischen Zivilgesellschaft. Wir haben aber noch keine guten Wege gefunden, das institutionell oder diskursiv auszuformulieren.

Der Grundkonflikt dreht sich also um die Frage, wie politisch Zivilgesellschaft sein darf. Und eines dieser Kampffelder ist das Gemeinnützigkeitsrecht, weil es die Rahmenbedingungen für sehr viele Organisationen stellt. Deswegen ist das Gemeinnützigkeitsrecht auch Teil des Shrinking Spaces-Diskurses: Wenn politisches Engagement staatlich nicht gefördert wird, dann ist das eine Einschränkung. Für Deutschland finde ich die Herleitung allerdings problematisch, da im Grunde vorausgesetzt wird, dass wir den Raum und die Möglichkeiten mal gehabt hätten – dem ist aber nicht so. Es ist eher so, dass wir eine Veränderung haben und mehr politischen Raum einnehmen wollen. Und da hinkt gerade der rechtliche Raum oder die rechtliche Konstruktion hinterher.

MuP: Welchen Einfluss haben diese Entwicklungen konkret auf die Arbeit von Non-Profit-Organisationen in Deutschland?

Siri Hummel: Das Attac-Urteil hat eine große Rechtsunsicherheit hinterlassen. Und gerade beim Gemeinnützigkeitsrecht ist ja das Problem, dass die Gelder rückwirkend gezahlt werden müssen, wenn dir das entzogen wird. Das kann eine Organisation komplett zerstören. Und diese Angst schwebt als Damoklesschwert über vielen Organisationen. Wir diskutieren auch darüber, ob die Angst davor schon ausreicht, zu sagen „Naja, dann lass uns das lieber nicht machen“. Die meisten Organisationen sind ja auch ehrenamtlich aufgestellt, da gibt es keine Jurist*innen oder eine juristische Fachberatung. Es sind irgendwelche Leute, die sich dann im Zweifel nicht zutrauen, eine eigene Einschätzung vorzunehmen.

Ich glaube, gerade in der Debatte um die Klimaproteste, hat das schon große Auswirkungen. Wir haben in der Klimabewegung quasi the new kids on the block, das sind ‚Die Letzte Generation‘ und ‚Fridays for Future‘ und so weiter. Und wir haben eine lange Tradition von Umweltverbänden in Deutschland, die ein festes Standing haben, eine gute Positionierung, und tief verwurzelt sind. Die haben schon sehr unterschiedliche Protestformen.

In dieser Sicherheitsdebatte, die ja mittlerweile ein bisschen abgeflaut ist, reden wir nicht mehr über Klimakleber, was natürlich auch daran liegt, dass sie diese Aktionen nicht mehr machen und jetzt mittlerweile eben weiterrücken zu diesen Flughafen-Boykotts zum Beispiel. Aber ich nehme schon wahr, dass die Politik und Öffentlichkeit hier oft übers Ziel hinausschießt. Also diese Diffamierung als Klimaterroristen, diese Gleichsetzung von Terrorismus mit Protest, das ist einfach zu viel! Und wir beobachten auch eine zunehmende Polizeigewalt gegenüber den Aktivist*innen. In der Gesetzgebung haben wir, beispielsweise in dem Bayerischen Polizeiaufgabengesetz, schon auch massive Einschränkungen.

Momentan haben wir wieder andere Themen, die Klimaproteste sind nicht mehr so stark in der Öffentlichkeit. Jetzt reden wir wieder über Migration. Auch hier finden große Diskussion um das zivilgesellschaftliche Engagement statt.  Wir hatten 2015 im Zuge der Migrationsbewegung ja auch schon mal so eine starke Diffamierungskampagne, insbesondere von rechtskonservativen Parteien gegenüber der Seenotrettung zum Beispiel, aber auch gegenüber der Geflüchtetenhilfe insgesamt. Da konnten wir dieses Übers-Ziel-hinausschießen auch beobachten. Diese Diffamierungskampagnen sind meiner Ansicht nach klare Anzeichen von Shrinking Spaces.

MuP: Wie können wir dem Phänomen Shrinking Spaces entgegengewirken und eine offene Zivilgesellschaft stärken? Welche Rolle spielt die Zivilgesellschaft selbst?

Siri Hummel: Das ist eine verzwickte Frage, da es gar nicht so sehr um Einschränkungen geht, sondern um Expansion. Wir befinden uns gerade in einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion darüber, wo der Platz von Zivilgesellschaft eigentlich ist und wie politisch Zivilgesellschaft sein darf. Das hat etwas damit zu tun, dass sich unser Demokratieverständnis ändert. Wir sind nicht mehr so stark repräsentativ gepolt, sondern wir wollen partizipativere Elemente. Partizipation funktioniert sehr gut über Zivilgesellschaft. Eigentlich am besten. Zivilgesellschaft ist der Ort, an dem Partizipation stattfindet.

Die Frage nach dem „Wie“ ist aber schwer zu beantworten. Das ist ein Aushandlungsprozess. Die politischen Akteure reagieren bereits darauf und versuchen, dem Wunsch nach Partizipation zu entsprechen, Stichwort „Bürgerbeteiligung“ beispielsweise. Aber institutionell hat sich das noch nicht verfestigt, wie etwa in einem Rat der Zivilgesellschaft oder ähnliches. Und wer würde da auch drinsitzen? Zivilgesellschaft ist sehr komplex, sie lässt sich nicht pyramidenhaft abbilden. Also das ist einfach eine ongoing Story momentan. Ich glaube, dass eine diverse, offene Gesellschaft eine starke Zivilgesellschaft braucht, weil das der bestmögliche Raum ist, um diese diversen Stimmen hinreichend abzubilden.

MuP: Welche staatlichen oder rechtlichen Veränderungen bräuchte es, um die Zivilgesellschaft tatsächlich partizipieren zu lassen oder zumindest die Angst vor dem Verlust der Gemeinnützigkeit zu nehmen?

Siri Hummel: Für den Abbau der Rechtsunsicherheit würde ich mich der Allianz für Rechtssicherheit für politische Willensbildung anschließen. Sie fordern, dass der Abgabekatalog erweitert wird, beispielsweise um Menschenrechte. Eigentlich bedürfte es allerdings einer wirklichen Reformierung des Gemeinnützigkeitsrechts, das jetzt um die 100 Jahre alt ist. Vorher müssten wir eine staatsrechtliche Diskussion darüber führen, wie viel Platz wir der Zivilgesellschaft einräumen wollen. Und da wären wir beim zweiten Punkt: Wie können wir das überhaupt institutionell umsetzen? Gibt es ein wie auch immer geartetes Räte- oder Beiratssystem? Sollte dieses in irgendeiner Form ein Mandat haben? Wie wird es gewählt? Da öffnet sich ein großes Fass, weil sich wirklich das grundlegende System ändern müsste.

Der momentane Versuch, Partizipation irgendwie mal so ab und an über einen Bürgerrat sicherzustellen, hilft aus meiner Sicht nicht. Das ist zu punktuell und die Ergebnisse verschwinden häufig auch in der Schublade, wenn es eben kein verpflichtendes Mandat gibt. Das kann man besser machen. Auf EU-Ebene, beziehungsweise auf UN-Ebene, gibt es seit Jahren die Überlegung, so etwas wie einen zivilgesellschaftlichen Rat einzuführen. Dieser könnte thematisch gestaffelt sein, also bei Umweltfragen sitzen da eben NGOs mit Fachexpertise. Oder es gibt Lossysteme, durch die ein breiter zivilgesellschaftlicher Mix in parlamentarischer Funktion zusammengebracht wird. Aber diese Diskussion hat ja in Deutschland noch nicht mal angefangen.

Wir bewegen uns hier allerdings in Utopien, also kommen wir zurück zum Gemeinnützigkeitsrecht: Ein niedrigschwelliger kleiner Schritt wäre, die Rechtsunsicherheit abzuschaffen. Das wurde mit der letzten Reformierung ja auch versucht. Es sollte klargestellt werden, dass sich eben auch ein Sportverein tagespolitisch äußern darf, wenn es nicht zu viel ist und nicht den eigentlichen Zweck überdeckt. Das ganze Steuerrecht ist aber sehr komplex, ich kann schon verstehen, dass das niemand anpassen will. Und für die Politik ist nichts zu gewinnen, die verlieren im Zweifel einfach nur Macht. Warum sollte das jemand angehen?

MuP: Der Absatz im Steuerfortentwicklungsgesetz, dass sich Sportvereine tagespolitisch äußern dürfen, ist doch aber sehr schwammig formuliert. Inwiefern bietet diese Reform tatsächlich eine Sicherheit?

Siri Hummel: Ja, es ist leider sehr schwammig formuliert. Und das Problem ist immer die Frage: „Wer beurteilt eigentlich, was angemessen ist?“ Momentan ist es der Finanzbeamte oder die Beamtin, die eine Einschätzung vornehmen. Grundsätzlich sind Gesetze nie so genau, wie wir uns das wünschen. Die haben immer einen bestimmten Auslegungsspielraum, sonst würde das System nicht funktionieren. Aber die Frage ist, ob das Finanzamt die richtige Stelle ist, solche Entscheidungen zu treffen.

Und ein Riesenproblem entsteht natürlich auch dann, wenn wir rechtsradikale Parteien in den Parlamenten haben und auf lange Sicht dann eben auch in den Finanzämtern. Wenn wir über Shrinking Spaces reden, ist das die größte Angst und auch das größte Thema. Aktuell haben wir eine Einschränkung von Rechtsextremen, gegen alle Organisationen, die irgendwie thematisch von denen problematisiert werden. Und das geht von Gleichstellung über Geflüchtetenhilfe zu Klima – also eine große Bandbreite. Wir können noch gar nicht abschätzen, was eigentlich passiert, wenn wir die Leute der AfD in den Ämtern sitzen haben. Da ist die Angst groß und ich glaube auch, dass das momentan die größte Bedrohung ist.  

MuP: Was empfehlen Sie Non-Profit-Organisationen, die jetzt bereits spüren, dass ihre Handlungsspielräume beschränkt oder bedroht werden? Was können sie konkret tun?

Siri Hummel: Vielleicht ganz oben angesiedelt der Tipp: Macht euch in der Finanzierung unabhängig. In dem Moment, in dem eine Organisation öffentliche Finanzierung in Anspruch nimmt, ist immer die Gefahr da, dass über Förderrichtlinien Einfluss genommen wird. Das würde wiederum auch bedeuten, dass wir in der Finanzierungslandschaft komplett umdenken müssen. Wir müssen die Menschen dazu kriegen, mehr zu spenden. Mit vielen kleinen Mikrospenden ist eine Organisation natürlich sehr viel unabhängiger.

Wir sollten auch überdenken, ob man Föderlinien den Weg über staatliche Vergabestellen entziehen soll. Diese Diskussion führen wir in Deutschland noch nicht wirklich. In Italien beispielsweise gibt es die Möglichkeit einen kleinen Teil der der Einkommensteuer direkt gemeinnützigen Organisationen zukommen zu lassen. Das ist jetzt natürlich etwas verkürzt, das Verfahren dahinter ist sehr kompliziert und wir müssten uns noch darüber verständigen, wie wir es hier umsetzen könnten und was eigentlich gerecht ist. Die Idee dahinter ist, dass Bürger*innen von der eigenen Einkommenssteuer direkt etwas spenden können. Es gäbe dann allerdings die Gefahr, dass dadurch das in Deutschland eigentlich sehr hohe Spendenvolumen eingeschränkt werden könnte. Also das wäre keine fixe Lösung, aber mir fehlt grundsätzlich die Diskussion darüber.

Ein anderes Thema ist die Abwehr gegen den Rechtsruck. Da muss mit verschiedenen Instrumentarien gearbeitet werden. Denn die AfD hat 2017 in ihrem Parteiprogramm von dem Durchmarsch der Institutionen gesprochen und hat damit dezidiert auch Zivilgesellschaft gemeint und die Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände. Darauf haben diese Organisationen auch reagiert. Zum Beispiel mit einem Code of Conduct, um entscheiden zu können, wie politisch Mitarbeitende sein dürfen und welche politischen Positionen mit der Organisation nicht vereinbar sind.

Wenn Rechtsextreme jedoch Positionen in Ämtern und womöglich sogar Regierungsgewalt haben, wird es verschiedene Copingstrategien geben. Eine Organisation macht vielleicht immer noch Antirassismusarbeit, aber nennt es anders, um irgendwie durchzukommen. Vielleicht wird sich auch die Zivilgesellschaft untereinander noch stärker vernetzen. Die großen unabhängigen großen Stiftungen, können beispielsweise noch stärker miteinander kooperieren.

In Polen unter der PiS-Partei haben wir eine Aufspaltung beobachtet. Es gab einen loyalen Sektor, der die Fördergelder bekommen hat. Also in Polen gibt es eine staatliche Stelle, die die ganzen Gelder für den gemeinnützigen Sektor verteilt. Und so wurden natürlich entsprechend die konservativ-katholischen Organisationen viel stärker gefördert. Es gab also eine loyale Zivilgesellschaft und eine kritische. Und die kritische Zivilgesellschaft hat sich unabhängig finanziert. Der loyale Sektor hat ja trotzdem die Wohlfahrtsleistung erbracht, sich trotzdem um Kinder gekümmert, um Menschen in Wohnungslosigkeit und so weiter. Es bleibt letztendlich eine offene Frage, was hier in Deutschland konkret passieren wird.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Umgang mit SLAPPs. Wir haben in Deutschland noch nicht viele Fälle von SLAPPs, also von diesen Statistic Lawsuits Against Public Participation. Ich kann mir aber vorstellen, dass das ein Thema sein wird, weil wir auch allgemein eine immer stärkere Verrechtlichung in vielen Bereichen sehen. Auch viele NGOs nehmen mittlerweile den Rechtsweg, um ihre Ziele zu erreichen.

Wenn es zu einem SLAPP kommt, gibt es mittlerweile erste Bewegungen in der Rechtsberatung, wie von der Gesellschaft für Freiheitsrechte beispielsweise. Der erste Schritt ist sicherlich, überhaupt zu wissen, dass so etwas in dem Bereich, in dem ich arbeite, eine Gefahr darstellen könnte. Der zweite Schritt wäre dann, ein Worst-Case-Szenario mal durchzuspielen und sich zu wappnen: Wen würden wir anrufen? Was würden wir tun? Ich glaube die meisten zivilgesellschaftlichen Organisationen werden immer zu klein und finanziell zu schwach aufgestellt sein, um sich juristische Unterstützung leisten zu können. Hier könnte ein Sharing Pool von Jurist*innen hilfreich sein, die sich in diesen Bereichen auskennen.

MuP: Wie kann eine kritische Zivilgesellschaft, Aktivist*innen, engagierte Einzelpersonen und Organisationen, in der aktuellen Situation gestärkt werden?

Siri Hummel: Ich glaube eine wirklich schöne Erfahrung waren für viele die Proteste im Zuge der Correctiv-Recherche. Da haben wir deutschlandweit ganz massive Demonstrationen mit pro-demokratischen Organisationen gesehen, die über breite Netzwerke in der Zivilgesellschaft organisiert wurden. Und ich glaube, das ist im Kern auch das, was es braucht: Sichtbarkeit, Solidarität und das Gefühl, nicht allein zu sein. Deswegen ist diese Idee der Vernetzung sehr gut. Das hat man auch bei solchen Allianzen wie zwischen Fridays for Future und den Gewerkschaften gesehen. Es stellt sich eine Vernetzung her und damit eben eine breitere Basis für Solidarität, für Sichtbarkeit, oder dieses Gefühl, nicht allein zu sein. Und es hat natürlich immer eine politische Wirkung. Wenn Massen auf den Straßen sind, hat es Auswirkungen auf den politischen Sektor.

Das, was bei den pro-demokratischen Protesten politisch herausgekommen ist, war allerdings ein Witz. Das war erbärmlich, ehrlich gesagt, wie die Politik das verhandelt hat. Aber von solchen Protesten und Bündnissen brauchen wir mehr, auch wenn es schwierig ist, dieses Momentum aufrecht zu erhalten. Es stellt sich dann die Frage, wie man es verlängern oder auch über diese Straßenproteste hinaus institutionalisieren kann. Da kommen wir wieder zu der Sichtbarkeit und Anerkennung im politischen Bereich. Hier müssen die Rahmenbedingungen besser gesetzt sein. Die Anerkennung der Zivilgesellschaft muss über Sonntagsreden hinaus gehen. Die Politik muss klar machen „Ihr habt einen Platz am Tisch, wir fragen euch und wir wissen, dass ihr da seid“. Also so eine Art Anhörungsrecht für die gesellschaftlichen Akteure. Vorher müssen wir aber die Diskussion führen, wer diesem Rat angehören darf. Es dürfen eben nicht nur die Kirchen, die Gewerkschaften und die Wohlfahrtsverbände dort sitzen, sondern wir brauchen ein gerechtes Verfahren, das Betroffenen einen Anspruch auf einen Platz sichert.

Wir bedanken uns für das Interview!       
Hinweis: Die Äußerungen unserer Gesprächspartner*innen geben deren eigene Auffassungen wieder.

Dieses Interview wurde verschriftlicht und redaktionell überarbeitet. Bonn, 2024

Thema im Fokus: Shrinking Civic Spaces

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