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Interview mit Olaf Guercke zu seiner Publikation „Babylon Berlin und der Anfang vom Ende der Weimarer Republik“ und zur „Historischen Presse der deutschen Sozialdemokratie online“
Olaf Guercke ist als Mitarbeiter der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung für das Zeitungsdigitalisierungsprojekt „Historische Presse der deutschen Sozialdemokratie online“ zuständig. Neben weiteren Zeitungstiteln wird dort der „Vorwärts“ aus der Zeit des Deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik im Volltext durchsuchbar online zur Verfügung gestellt. Seine Untersuchung „Babylon Berlin und der Anfang vom Ende der Weimarer Republik“, die zunächst als Masterarbeit des Weiterbildungsmaster Politisch-Historische Studien an der Uni-Bonn entstand, ist nun in überarbeiteter Form als FES-Publikation erschienen. Im Interview spricht er darüber, wie die Arbeit mit dem „Vorwärts“ und mit der Serie für ihn miteinander zusammenhängen.
Hat dich die Vorwärts-Digitalisierung überhaupt und wenn ja inwieweit auf deine Publikation vorbereitet?
Die Digitalisierungsarbeit hat auf jeden Fall ein vorhandenes Interesse intensiviert und konkretisiert. Zur Vorbereitung auf den Scanprozess musste ich, um ein Beispiel zu nennen, den gesamten Bestand des „Vorwärts“ Ausgabe für Ausgabe durchsehen. Wenn man sich dabei durch die ca. 15.000 Seiten aus der Zeit von 1929 bis 1933 kämpft und anhand der Schlagzeilen nebenbei mitbekommt, wie sich die Situation immer weiter verschärft, dann ist das berührend und schafft einen unmittelbaren, auch emotionalen Zugang zur Geschichte. Außerdem haben mich die vielen ganz unterschiedlichen Fragen der Nutzer_innen zu den Inhalten des „Vorwärts“ und die Arbeit an unserem begleitenden „Vorwärts-Blog“ dazu gebracht, allmählich tiefer in die Materie einzusteigen.
Was war zuerst da – „Babylon Berlin“ oder die Faszination für die Weimarer Republik?
Die Serie hat mich mit ihrer Vielschichtigkeit auf die Idee gebracht, meine eigenen Geschichtsbilder zu den verschiedenen Erzählsträngen zu hinterfragen und vorhandenes Wissen zu vertiefen, um mich kritisch mit ihr auseinandersetzen zu können. Daher steht in meiner Publikation vor der detaillierten Untersuchung von „Babylon Berlin“ ein ziemlich ausführliches Kapitel zum historischen Hintergrund.
Welches thematische Potential für die Forschung und historische Bildung siehst du im „Vorwärts“ und in den anderen Pressebeständen des Portals?
Der „Vorwärts“ erschien bis 1933 über einen langen Zeitraum und bildet sowohl politische Positionen und Debatten innerhalb der Sozialdemokratie, als auch Kultur, Sport und Berliner Lokalthemen ab. Man kann ihn zur Debatte zwischen Karl Kautsky und Eduard Bernstein im Zuge des Revisionismusstreits befragen, aber auch zur (äußerst kritischen) Haltung des sozialdemokratisch geprägten Feuilletons zum Jazz. Man kann danach schauen, wie den Menschen Ende der 1920er Jahre das Fernsehen als Zukunftstechnologie präsentiert wurde und wie im 19. Jahrhundert internationale Streikbewegungen in der deutschen Arbeiterbewegung rezipiert wurden. Im Portal steht neben dem „Vorwärts“ auch die USPD-Zeitung „Freiheit“ (1918-1922) zur Verfügung, so dass eine differenzierte Betrachtung des sozialdemokratischen Spaltungsprozesses in der frühen Weimarer Republik anhand der gegnerischen Parteizeitungen möglich wird.
Mit einer Zeitung wie der „Gleichheit“, die die Entwicklung der sozialistischen Frauenbewegung von 1892 bis 1923 abbildet, können die Auseinandersetzungen um den Paragrafen 218 und ums Frauenwahlrecht zu ihren Ursprüngen zurückverfolgt werden. Man könnte aber auch danach fragen, inwieweit sich das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Artikeln von Frauen und Männern in der Zeitung im Laufe der Jahre verändert hat.
Außerdem haben wir mit dem „Neue[n] Vorwärts“ und den „Deutschland-Berichte[n] der Sopade“ wichtige Exil-Blätter aus der Zeit des Nationalsozialismus digitalisiert. Gerade die „Deutschland-Berichte“, in denen Analysen von Gewährsleuten vor Ort zur Stimmung und Lage im nationalsozialistischen Deutschen Reich gesammelt und veröffentlicht wurden, sind eine hochwertige Quelle für dem entsprechende Forschungsvorhaben.
Allgemein bieten Zeitungen ein vielschichtiges und unmittelbares Bild der Zeit, in der sie erschienen. Der Autor Volker Kutscher, der die Romanvorlagen für „Babylon Berlin“ verfasst hat, sagt von sich, dass er genau deshalb vor jedem neuen Roman erst einmal intensiv in historischen Zeitungen des jeweiligen Zeitraums liest.
Was kann man in der Serie und im „Vorwärts“ über die echten Personen bzw. die Vorbilder der Filmfiguren erfahren? Wie stellt der Vorwärts den Polizeipräsidenten Karl Zörgiebel und den sogenannten „Blutmai“ dar? Was lässt sich über das Vorbild für August Benda, den Vizepräsidenten der Berliner Polizei Bernhard Weiß erfahren?
Den Begriff „Blutmai“ finde ich schwierig, weil er aus der propagandistischen Nachbereitung der Ereignisse vom 1. bis zum 3. Mai 1929 durch die KPD stammt. Allerdings klingt der neutralere Begriff „Mai-Unruhen“, den ich in meiner Arbeit verwende, angesichts der 32 von der Polizei erschossenen Demonstrant_innen und unbeteiligten Menschen vielleicht zu euphemistisch. In der Serie sind die Ereignisse von drei auf einen Tag verkürzt worden, es wird aber punktuell sehr genau auf Grundlage der vorhandenen geschichtswissenschaftlichen Literatur erzählt. Der Tod der beiden Frauen auf ihrem Balkon etwa hat nach allem, was wir wissen, in etwa so stattgefunden, wie er gezeigt wird.
Der „Vorwärts“ berichtete über die Mai-Unruhen ganz im Sinne der SPD-Parteilinie, die die Alleinverantwortung für die Toten als „Blutschuld“ der KPD zuschrieb. Zusammen mit der Blut- und Vergeltungsrhetorik der KPD, die in „Babylon Berlin“ durch die Rede der Aktivistin Dr. Völcker auf einer Demonstration vor dem Polizeipräsidium sehr treffend auf den Punkt gebracht wird, ist das ein beeindruckendes Schlaglicht auf die Feindseligkeit, die 1929 zwischen den beiden Arbeiterparteien herrschte. Über Karl Zörgiebel wird dem entsprechend im „Vorwärts“ der Jahrgänge 1929 und 1930 viel im Zusammenhang mit den Mai-Unruhen berichtet, wobei er vor allem gegen Angriffe aus der kommunistischen „Roten Fahne“ in Schutz genommen wird.
Bernhard Weiß, das Vorbild für August Benda, wurde hingegen mit den Mai-Unruhen kaum in Verbindung gebracht, auch weil er sich, wie sich anhand des „Vorwärts“ belegen lässt, Anfang Mai 1929 im Urlaub befand. Allerdings war Weiß als jüdischer Polizist in leitender Funktion und wegen seines entschiedenen Eintretens gegen den erstarkenden Nationalsozialismus ein bevorzugtes Ziel der Hasspropaganda Joseph Goebbels und wurde daher regelmäßig bedroht und verunglimpft. Darüber berichtete auch der „Vorwärts“.
Kannst du etwas zur Bedeutung der Zeitungen in der Weimarer Republik sagen? Gibt es in den ersten Staffeln Beispiele zu der Hugenberg-Presse, der sozialdemokratischen und kommunistischen Tagespresse?
Zeitungen waren in der Weimarer Republik das bei Weitem wichtigste Medium für Nachrichten, obwohl sie durch die Wochenschauen im Kino und durch das Radio Konkurrenz bekommen hatten. Im Unterschied zu heute hatte neben den unabhängigen Blättern auch die Parteipresse eine große Bedeutung. Der „Vorwärts“ etwa erschien zwei Mal täglich in einer Auflage von bis zu 300.000 Exemplaren. In „Babylon Berlin“ wird die Bandbreite der Weimarer Presse anhand von liebevoll ausgestatteten Kiosken gezeigt.
Der „Vorwärts“ wird an einer Stelle nicht ganz korrekt als Authentizitätsnachweis für die Erzählung eingesetzt: Der Berliner Oberbürgermeister Gustav Böß (in der Serie SPD-Politiker, eigentlich aber Mitglied der liberalen Deutschen Demokratischen Partei) wedelt am Tag nach den Mai-Unruhen mit einer „Vorwärts“-Ausgabe herum, deren Schlagzeile „200 Tote am 01. Mai?“ lautet. Er wirft Zörgiebel vor, dass nun schon die eigene Parteipresse kritisch über den Polizeieinsatz berichte. Tatsächlich erschien diese Ausgabe am 29. April 1929 und die Schlagzeile ist als Warnung oder auch als Drohung angesichts der bevorstehenden Demonstrationen zu verstehen.
In der Romanvorlage ist Charlotte Ritter bereits Kriminalassistentin und studiert Jura, sie ist kleinbürgerlicher Herkunft. Die Filmfigur ist eine pfiffige junge Frau aus der Unterschicht und verdient sich ihr Geld schon mal als Gelegenheitsprostituierte. Glaubst du, dass diese Figur "die junge selbstbewusste Frau in der Weimarer Zeit" besser repräsentiert oder was ist aus deiner Sicht eine Erklärung für diese neue Zeichnung?
Den Autoren war offenbar wichtig, eine solche Unterschichtsfamilie ausführlich zu zeigen, daher haben sie mit Charlotte Ritter eine der Hauptfiguren mit dieser Hintergrundgeschichte ausgestattet. Sie erzählen dann den heroischen Kampf der jungen Frau um berufliche Unabhängigkeit, der natürlich umso mitreißender wird, je größer die Hindernisse sind, die Charlotte Ritter überwinden muss. Man kann hier schon kritisieren, dass eine junge Frau aus subproletarischen Verhältnissen 1929 so gut wie keine Chance auf eine Karriere bei der Kriminalpolizei hatte. In der eigentlich guten Absicht, Armut zu zeigen, verschleiert die Erzählung hier durch die Fokussierung auf Charlotte Ritters unwahrscheinlichen beruflichen Aufstieg die ausgeprägten Klassenschranken in der Weimarer Republik. Kutschers „Charly“ ist da die plausiblere Figur. Berechtigt finde ich auch die Kritik einiger Historiker_innen auf Twitter, dass anhand von Charlotte Ritter die weibliche Emanzipation als rein individuelle Erfolgsgeschichte gezeigt wird, die allenfalls durch einen kulturellen Zeitgeist beflügelt wird. Was dabei unter den Tisch fällt, ist die Weimarer Frauenbewegung, die 1929 mit Friederike Wieking und Martha Mosse in der Berliner Polizei vertreten war, wie bei Bianca Walther nachzulesen ist. Auch wenn in populärkulturellen Geschichtsserien wie „Babylon Berlin“ Geschichte ganz bewusst über Figuren und nicht über die Erklärung von Strukturen erzählt wird, kann hier von einer verschenkten Möglichkeit gesprochen werden, das Sittengemälde mit einem nicht ganz unwichtigen Aspekt zu vervollständigen.
Auch die Schilderung des die Republik bekämpfenden Rechtsextremismus mit seiner Vernetzung in Militär und staatlichen Institutionen wird in „Babylon Berlin“ über Figuren und nicht über Strukturen erzählt. Diese planen in einer fiktiven Verschwörung einen monarchistischen Militärputsch oder kämpfen, wie August Benda, auf verlorenem Posten gegen die Putschisten. Obwohl hier mit den historischen Fakten sehr frei umgegangen wird und bedeutende rechtsextreme Strukturen wie die Deutschnationale Volkspartei keine Erwähnung finden, gelingt es den Autoren in diesem Fall aber sehr gut, Aspekte wie den erstarkenden Antisemitismus oder die Bürde des verlorenen Ersten Weltkriegs mit den vergifteten Debatten um die „Dolchstoßlegende“ eindrucksvoll und historisch triftig zu erzählen.
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