Protestieren nach 1989: Arbeitskämpfe in Ostdeutschland in den frühen 1990er-Jahren
In Ostdeutschland fanden viele Jahre nur wenige Arbeitskämpfe statt. Gewerkschaften hatten in der überwiegend strukturschwachen Region einen schweren Stand. Das hat sich in der letzten Zeit geändert. Belegschaften trauen sich in Zeiten von Fachkräftemangel wieder mehr. Das hat bei ostdeutschen Linken und Sozialwissenschaftler:innen auch eine neue Euphorie ausgelöst. Manche sprachen gar vom Nachwirken einer „rebellischen DDR-Tradition“, die neu entfacht werde und an die man im Kampf gegen einen autoritären Neoliberalismus anknüpfen könne. Historische Analogien zwischen aktuellen Protesten im Osten und der Revolution von 1989 sind keineswegs neu. Sie sind jedoch ein Zerrbild. Wie ein Blick auf die heute überwiegend vergessenen Arbeitskämpfe in der Zeit der Privatisierungen der frühen 1990er-Jahre zeigt, ist das Verhältnis vieler Ostdeutscher zu 1989 ambivalent.
Arbeitskämpfe in der Transformationszeit
Die Umwandlung der über vier Jahrzehnte in den sozialistischen Wirtschaftskreislauf eingebundenen Betriebe der DDR in Kapitalgesellschaften sowie deren Privatisierung und Integration in die Wirtschaftsstrukturen der Bundesrepublik im Zuge der deutschen Einheit waren von massiven Protesten von Belegschaften begleitet. Sie richteten sich oft gegen die Politik der Treuhandanstalt (kurz: Treuhand), die diesen Transformationsprozess von 1990 bis 1994 praktisch umsetzte. Unterm Strich wurde dabei ein Drittel der Betriebe in Ostdeutschland abgewickelt. Fast drei Millionen Menschen verloren ihren Arbeitsplatz. Wie viele Proteste es gab, lässt sich nur schätzen. Statistisch wurden sie nicht erfasst. Analysen von Zeitungsmeldungen gehen von etwa 1.200 bis 1.500 Protestereignissen in Ostdeutschland aus, die aber auch die zahlreicheren rechtsradikalen Ausschreitungen gegen Migrant:innen umfassen. In den ostdeutschen Betrieben sei es zwischen 1991 und 1993, so eine ungefähre Schätzung der Protestforscher:innen Renate Hürtgen und Dietmar Dathe, „in der einen oder anderen Form mindestens einmal wöchentlich“ zu Protesthandlungen gekommen.
Ist das nun viel oder wenig? Geht man von letzterer Schätzung aus, dann waren es mindestens 250 Belegschaftsproteste. Eine andere Zeitungsanalyse, die auch die Monate vor der Umwandlung der Treuhand in eine Privatisierungsagentur vom Januar bis Juni 1990 einbezieht, kommt auf etwa 480 Betriebsproteste. Das ist mit Blick auf die 12.000 ostdeutschen Betriebe, die 1990 zur Privatisierung anstanden, nicht sehr viel, im Vergleich zum Westen aber, wo in den 1990er-Jahren nur sehr wenige betriebliche Streiks stattfanden, wiederum eine Menge. Es ist also eine Frage der Relation. Zugleich macht die vergleichsweise hohe Zahl von Betriebsprotesten deutlich, dass die wirtschaftliche Transformation alles andere als konfliktfrei ablief. Im Gegenteil: Belegschaften wehrten sich eigenverantwortlich gegen politische Entscheidungen, die sie betrafen.
Protestkulturen und Arbeitswelten in Ostdeutschland nach 1989
Die auf die Privatisierungspolitik der Treuhand bezogenen Belegschaftsproteste in Ostdeutschland waren meist nicht in gesetzlich regulierte Streikroutinen eingebunden und verliefen damit außerhalb regulärer Formen gewerkschaftlicher und betrieblicher Mitbestimmung in der Bundesrepublik. Sie konnten zudem nicht an etablierte Protestkulturen in der kommunistischen Diktatur der DDR anknüpfen, wo Streiks als staatsfeindliche Handlungen galten und entsprechend sanktioniert wurden. Lediglich Formen von Arbeitsverweigerung sind als geduldete Protestformen aus der DDR bekannt.
In der Forschung und Erinnerungskultur der Bundesrepublik hat sich jedoch die Ansicht etabliert, dass die Revolution von 1989 einen kollektiven Erfahrungswert aller Ostdeutschen darstellt, an die jene immer wieder anknüpften. Die Ostdeutschen, so die landläufige Meinung, hätten die Revolution gegen das SED-Regime gemeinsam in Gang gebracht. Stets war dabei undifferenziert von „den Ostdeutschen“ die Rede. Das zeigt sich auch in der Protestkultur der 1999er-Jahre. Immer wieder bezogen sich Protestierende auf die Revolution und skandierten Slogans wie „Wir sind das Volk“ oder „Treuhand in die Produktion“ – in Anlehnung an die Revolutionsparole „Stasi in die Produktion“. Doch historische Forschungen haben herausgestellt, dass es zunächst nur eine große Minderheit von Bürgerrechtler:innen und Oppositionellen war, die 1989 für Freiheit und Demokratie kämpften, während der Großteil der Bevölkerung abwartete und erst dann zu den Straßenprotesten stieß, als die SED bereits klein beigegeben und auf Gewaltanwendung verzichtet hatte. Dadurch verwandelte sich die Revolution aber binnen kürzester Zeit in ein Plebiszit für eine schnelle Einheit, die Einführung der D-Mark und eine moderne Konsumgesellschaft: „Kommt die D-Mark nicht zu uns, kommen wir zu ihr“, lautete ein prominenter Slogan, der bereits Ende 1989 auf den Protesten auftauchte, nachdem Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) erstmals ein Angebot zur Wiedervereinigung unterbreitet hatte.
Ein Interview im Spiegel mit Werftarbeitern aus Rostock aus dieser Zeit bestätigt diese These und zeigt darüber hinaus ein ambivalentes Verhältnis ostdeutscher Industriearbeiter zu Streiks, welches die These vom demokratisierenden Impuls der Revolution relativiert. Anstatt sich auf Letztere zu beziehen, blickten die Rostocker Werftarbeiter eher mit Abneigung auf die Streiks der polnischen Solidarność seit den späten 1970er-Jahren, die sie als schädlich für die Wirtschaftsentwicklung wahrnahmen. Wohlstand ließ sich aus ihrer Perspektive nur durch eine gerechte Verteilung des auf den Konten der SED vermuteten „Volkswohlstands“, die Entwicklung einer „echten Leistungsgesellschaft“ und kräftige Investitionen durch „ausländisches Kapital“ erreichen, aber nicht durch Streiks. Arbeiter, so ihre Sicht, „sind eigentlich dazu da, Leistung zu bringen“. Streiks seien bestenfalls letzte Mittel, falls ihre Erwartungen nicht erfüllt würden.
Weder lassen sich in der zeitgenössischen Sicht der Rostocker Bezugnahmen auf die Revolution von 1989 erkennen noch sahen sie Streiks als selbstverständliche Mittel der Partizipation von Arbeiter:innen. Auch die politische Ordnung war in den Augen der Werftarbeiter aus Rostock nicht Sache der Arbeiter, sondern der „Künstler“, die viel stärker als sie unter den „stalinistischen Machenschaften“ der SED gelitten hätten. Dieses ambivalente Verhältnis ostdeutscher Belegschaften zu Streiks ist oft übersehen worden, aber grundlegend für das Verständnis der Protestkultur in Ostdeutschland, auch der Belegschaftsproteste. Streiks wurden von den Belegschaften nicht als Bestandteil der politischen Ordnung begriffen, sondern als Ausnahmeinstrument, um wahrgenommenes „Unrecht“ zu korrigieren.
Die fehlende Protestkultur lässt sich auch an der oft kurzen Dauer und lokalen Fixierung der Belegschaftsproteste nach 1990 ablesen. In dieser Hinsicht hatte Ostdeutschland mehr mit anderen postsozialistischen Transformationsländern gemein als mit Westdeutschland. Ein Sonderfall in Osteuropa ist Polen. Dort hatte sich durch die 1980 gegründete Gewerkschaft Solidarność und Anti-Atom-Proteste bereits in den 1980er-Jahren eine eigene Protestkultur etabliert, deren Akteur:innen den verhandelten Umbruch von 1989 wesentlich mitgestalteten und auch die Protestkultur nach 1989 mitprägten. Für Ostdeutschland und andere postsozialistische Transformationsländer wie Ungarn und die Slowakei errechneten Protestforscher:innen dagegen bereits Ende der 1990er-Jahre für 1991 etwa eine durchschnittliche Protestdauer von weniger als zwei Tagen je Protest.
Betriebliche und gesellschaftspolitische Forderungen
Die Protestpraktiken ostdeutscher Belegschaften weisen ein hohes Maß an Spontaneität und Experimentierfreudigkeit auf. Auch die Forderungen der Belegschaften lassen sich nur schwer auf einen Nenner bringen. Sie waren nicht pauschal gegen die Treuhand gerichtet, aber in vielfältiger Weise auf Entscheidungen der Treuhand bezogen. Sie reichten vom Erhalt des Betriebs bzw. von Arbeitsplätzen über sozialverträgliche Abfederungen, sogenannte Sozialpläne, aber auch Forderungen an die Landespolitik nach einer regionalen Strukturpolitik wurden erhoben.
Was sich dagegen nicht oder nur sehr selten finden lässt, sind gesellschaftspolitische Forderungen, die über die betriebliche oder regionale Ebene hinausgingen. Dass die Belegschaftsproteste außerhalb etablierter Formen der demokratischen Teilhabe in der Bundesrepublik stattfanden, heißt also nicht, dass sie sich gegen die politische Ordnung wandten – in den meisten Fällen zumindest nicht. Deshalb wurden sie zwar nicht offiziell, aber häufig doch inoffiziell von den Gewerkschaften unterstützt. Die Proteste blieben jedoch auf kurzfristige betriebliche oder lokale Ziele begrenzt und sie verschwanden, sobald diese Ziele erreicht bzw. Kompromisse gefunden waren, oder, wie in vielen Fällen, wenn Betriebe trotz Protest abgewickelt wurden. Damit hinterließen sie, obwohl sie ein ständiger Begleiter der Transformation waren, keine sichtbaren Spuren in der Erinnerungslandschaft der Bundesrepublik.
Christian Rau
Christian Rau ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin. Er forscht u.a. über die Geschichte der DDR, der europäischen Transformationen nach 1989/90 sowie über Gewerkschafts-, Protest- und Geschlechtergeschichte.
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