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Archiv der sozialen Demokratie

 

Das fortschrittliche Erbe der Ukrainischen Volksrepublik (1917-1921) - Teil 4: Sowjetische Ukraine oder demokratisch-sozialistische Ukraine?

Mit einem Text von Vladyslav Starodubtsev über die Ukrainische Volksrepublik von 1917 bis 1921 setzen wir unsere Reihe über die ukrainische Geschichte fort. Dies ist der vierte und letzte Teil.

Den ersten Teil finden Sie hier.

(...) Deshalb begannen die Bolschewiki, sich der parlamentarischen Demokratie zu widersetzen und stellten die Parole auf: "Alle Macht den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten", die auf der Grundlage eines nicht universellen, ungleichen, nicht geheimen und oft nicht direkten Wahlrechts gewählt wurden; die Bevölkerung zeigte sich diesen Sowjets gegenüber gleichgültig, und so gelang es den Kommunisten fast überall, die Sowjets in ihre Hände zu bekommen; wo dies nicht gelang, da erklärten die Kommunisten die Sowjets für bürgerlich und organisierten ein eigenes revolutionäres Komitee.[1]

Borys Martos

Die ukrainische linke Tradition spaltete sich unter den harten Bedingungen der Revolution. Sie war nicht auf der Achse zwischen Radikalen und Gemäßigten gespalten, sondern zwischen verschiedenen Denkweisen. Sollte die Ukraine ein Sowjetland sein, in dem Sinne, dass sie von einem Sowjetkongress der Bauern und Arbeiter in einer dem Syndikalismus ähnlichen Weise entlang der Klassengrenzen regiert werden sollte? Oder sollten die Sozialist:innen sich um die Losung einer demokratischen Republik scharen?

Diejenigen, die dem sowjetischen System anhingen, aber eine proukrainische und antibolschewistische Position beibehielten, wurden später als "Schapowalisten" bezeichnet, abgeleitet vom Namen des Hauptideologen und eines der Führer der Ukrainischen Sozialrevolutionäre (Hauptströmung). Dieser Flügel des ukrainischen Sozialismus wurde von ihm und von Nykyfor Hryhoriw angeführt. Nach dem russischen Bürgerkrieg gründete diese Gruppe zusammen mit Wiktor Tschernow von der Russischen Partei der Sozialrevolutionäre und anderen sozialistischen Parteien verschiedener Nationalitäten die Sozialistische Liga des Neuen Ostens, eine Gruppe antibolschewistischer radikaldemokratischer Sozialist:innen, die nationale Forderungen nach Freiheit und unabhängigen Staaten und Selbstverwaltung unterstützten.

Eine andere Gruppe bestand hauptsächlich aus Marxist:innen und Westukrainer:innen, die das sowjetische Programm als Einschränkung der Demokratie und Verengung der Staatsbürgerschaft auf eine wirtschaftliche Vertretung betrachteten. Stattdessen sahen sie die Zukunft der Ukraine in einer parlamentarischen, wenn auch stark dezentralisierten, robusten Demokratie. Zu den Hauptkritikern gehörten demokratische Sozialisten der Ukrainischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, wie der Aktivist der Genossenschaftsbewegung Borys Martos sowie und andere Abgeordnete der Zentralna Rada Isaac Masepa und Panas Fedenko.

Als Kompromiss wurde auf dem Arbeiterkongress vom 23. bis 28. Januar 1919 ein verworrenes "Arbeitsprinzip" verabschiedet, das sowjetische und parlamentarische Demokratie miteinander verband. Die Spannungen waren groß, da die "Linke" der Republik, die unabhängigen Kommunist:innen, zusammen mit Machno die Auflösung des Direktoriums und die Wahl einer reinen Sowjetregierung forderten (allerdings einer der einer unabhängigen und vereinigten Ukraine), während die "Rechte", also die demokratischen Sozialisten der Ukrainischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die Wiederherstellung der parlamentarischen Demokratie verlangten. Die ukrainische Regierung befand sich in ständiger Unordnung, was den potenziellen Widerstand gegen die russisch-bolschewistische Invasion schwächte. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Ukraine auf dem Weg von dem kompromisshaften "Arbeitsprinzip", das niemanden zufrieden stellte, zu einem parlamentarischen Staat unter dem Einfluss von Symon Petljura. Die Ukrainische Volksrepublik begann sich aufzulösen. Aufgrund des militärischen Drucks von allen Seiten und des Zusammenbruchs der Front war die Regierung praktisch handlungsunfähig. In dem Maße, wie die militärischen Niederlagen zunahmen, wuchsen auch die politischen Differenzen.

Die Idee der Ukrainischen Volksrepublik

1921 brach die Ukrainische Volksrepublik zusammen und die bolschewistischen Streitkräfte besetzten die gesamte Ukraine. Die Illusionen über eine halbdemokratische und halbunabhängige bolschewistische Sowjetregierung verschwanden schnell und die Ukraine wurde von Lenins Regierung rasch in ein System der Kolonialherrschaft eingegliedert. Dieser Prozess wurde durch die Einführung der zentralisierten Planwirtschaft durch Stalin abgeschlossen.

Man könnte argumentieren, dass die Gründung und die Existenz der Ukrainischen SSR in gewisser Weise das Ergebnis des Kampfes der ukrainischen Revolutionär:innen war. Die Ukrainische SSR war nicht einfach die Fortsetzung der ehemaligen Provinz des Russischen Reiches unter bolschewistischer Führung und sie war auch nicht auf bolschewistische Vorstellungen von einer Art ukrainischem Existenzrecht zurückzuführen. Dasselbe lässt sich über die Ukrainisierung sagen. Die kulturelle Wiederbelebung der Ukraine in den 1920er-Jahren war das Ergebnis der vorangegangenen antibolschewistischen Kämpfe, an denen mehr als eine Million ukrainischer Soldaten und Rebellen beteiligt waren und die eine Besetzung der Ukraine ohne wesentliche Kompromisse unmöglich gemacht hatten. Auch nach dem Zusammenbruch der Front gab es in der Ukraine zahlreiche Bauernaufstände gegen die Bolschewiki, seien sie anarchistisch, republikanisch oder kommunistisch. Studentische Kreise, Partisanenkommandos und Selbstverteidigungsgruppen waren bis zum Völkermord 1932-1933 aktiv.[2]

Die Erinnerung an die Republik inspirierte viele Menschen dazu, sich der sowjetischen Herrschaft zu widersetzen und für einen unabhängigen Staat zu kämpfen – denn sie hatten bereits ein Beispiel, dem sie folgen konnten. Die Ukrainische Volksrepublik wurde zu einem mobilisierenden Mythos in einer langen Geschichte des Kampfes gegen Fremdherrschaft und Besatzung, und konzeptionelle Diskussionen über die Befreiung der Ukraine konnten nicht ohne die Erfahrung der Republik geführt werden. Doch als die Republik gegen die russisch-bolschewistischen Kräfte unterlag, stellte sich die Frage: Warum haben wir verloren? Die verschiedenen Gruppen gaben unterschiedliche Antworten auf diese Frage. Für die Rechten war es der sozialistische Populismus, für die Sozialdemokrat:innen war die Situation zu schlecht, um mehr zu erreichen,[3] für die sozialistischen Revolutionär:innen und unabhängigen Kommunist:innen war es vor allem die Passivität bei der Organisation von Sozialreformen.[4] Die spätere radikale Rechte der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) war am kritischsten. Sie kam zu dem Schluss, dass es die Demokratie war, die die Republik geschwächt habe, während die autoritären und totalitären Kräfte, die sich der Republik entgegenstellten, siegreich waren.

Es ist jedoch bemerkenswert, wie die verschiedenen Kräfte immer wieder die Losung der Ukrainischen Volksrepublik aufgriffen, auch wenn sie in völlig unterschiedlichen Zusammenhängen agierten. 1942 schloss sich die "linke" Abspaltung der OUN unter der Führung von Iwan Mytrynha zusammen mit Taras Bulba-Borowvets mit republikanischen, nationalistischen und unabhängig-kommunistischen Gruppen zusammen und gründete die so genannte "erste Ukrainische Aufstandsarmee" (UPA) mit dem vorrangigen Ziel der Wiederherstellung der Ukrainischen Volksrepublik.[5] Dasselbe galt für die von den Anhängern Stepan Banderes organisierte Ukrainische Aufstandsarmee, der sich nach ihrer Umwandlung in eine Massenorganisation aktiv neue Mitglieder aus allen Regionen der Ukraine anschlossen. Unter dem Druck der neu hinzugekommenen Partisanen konnte die Aufstandsarmee nicht länger an ihrem totalitären rechtsextremen Programm festhalten. Sie war gezwungen, ein sozialdemokratisches Programm anzunehmen, führende Persönlichkeiten der Ukrainischen Volksrepublik in ihre Reihen aufzunehmen und ein halbdemokratisches Vorparlament mit einem sozialistischen Revolutionär an der Spitze zu schaffen.[6]

Auch die ukrainischen Dissidenten nach dem Zweiten Weltkrieg trugen die Volksrepublik auf ihren Fahnen. In der Nacht zum 22. Januar 1973 beispielsweise trugen studentische Dissidenten gelb-blaue Fahnen und brachten eine Proklamation an, auf der zu lesen war:

Liebe Genossinnen und Genossen! Heute sind 55 Jahre seit dem Tag vergangen, an dem die Unabhängigkeit des ukrainischen Staates von der IV. allgemeinen Rada in Kyjiw proklamiert wurde. Dieser historische Akt  zeigte den Willen des ukrainischen Volkes, seinen ursprünglichen Wunsch nach Unabhängigkeit. Die offizielle sowjetische Geschichtsschreibung von heute versucht jedoch, dieses Ereignis in den Augen unserer Generation als volksfeindlich und antidemokratisch darzustellen. Diese grobe Verzerrung der historischen Realität wird von den bewussten Menschen entrüstet verurteilt. Sie wird von jedem verurteilt, dem die Interessen der Nation am Herzen liegen.[7]

Unter dem Einfluss des verzerrten Gesellschaftssystems der UdSSR wurde die soziale Anziehungskraft der Ukrainischen Volksrepublik allmählich heruntergespielt und die nationalen, antikolonialen und demokratischen Aspekte wurden unverhältnismäßig stark in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt. Dies führte zu sehr unausgewogenen Ansichten über das Erbe der Republik. Diese Situation besteht noch immer. Das schreckliche Trauma, das die Sowjetunion hinterlassen hat, führte dazu, dass die Diskussion über die kühnsten, fortschrittlichsten sozialen und wirtschaftlichen Reformen, die das ukrainische Volk in seinem Kampf um soziale und nationale Unabhängigkeit und später in seinem Kampf um die Verwirklichung einer modernen, demokratischen sozialistischen Vision je hervorgebracht hat, unterdrückt wurde.

Außerhalb der Ukraine setzten sich eine ganze Reihe verschiedener Organisationen für die Wiederherstellung der sozial fortschrittlichen demokratischen Republik in Form der Ukrainischen Volksrepublik ein. Allen voran die Ukrainische Nationale Rada, eine Koalitionsregierung, die von der Exilregierung der Ukrainischen Volksrepublik gebildet wurde und der die OUN(M) (Melnyk), die OUN(R) (Bandera), die Ukrainische Nationale Demokratische Union (UNDO), die linksgerichtete Ukrainische Revolutionäre Demokratische Partei (URDP) unter der Führung von Iwan Bahrjanij, die URDP-Sozialisten; die Ukrainische Nationale Staatsunion (UNDS), die Ukrainische Partei der Sozialrevolutionäre (UPSR), die Ukrainische Sozialistische Radikale Partei (USRP), die Ukrainische Sozialdemokratische Arbeiterpartei und die Ukrainische Agrarpartei angehörten. OUN(M) und OUN(R) verließen bald die Rada, da sie mit ihren autoritären und totalitären Ansätzen unvereinbar war, während andere Parteien das republikanische Erbe und ihren Kampf für soziale und nationale Rechte betonten.

Endnoten

1: Borys Martos: Vyzvol'nyj zdbyh Ukraїny, New York, 1989, S. 192 (Übersetzung des Autors).

2: Arsen L. Zinčenko: Povstannja Seljans'ki proty bil'šovyckoho režymu 1929-1932, in: NAN Ukraїny (red.): Encyklopedija istoriї Ukraїny (elektronnyj resurs), [n. d.] Link. (zuletzt aufgerufen 16.05.2024)

3: Isaak P. Mazepa: Bol'ševizm i okupacija Ukraїny. Socijal'no-jekonomyčni pryčyny nedozrilosti syl ukraїns'koї revoljucї, L'viv/Kyїv, 1922; Volodymyr Vynnyčenko: Vidrodšennja nacї. Istorija ukraїns'koї revoljucї (marec 1917 r. - hruden' 1919), Kyїv/Viden', 1920.

4: Mykyta Šapoval: Velyka revoljucija i ukraїns'ka byzbol'na programa, Praha, 1927.

5: Zum "linken Flügel" der OUN vgl. das Interview mit Borys Levitskyi (der später einige Jahre für den RES tätig war (http://poliskasich.org.ua/?p=630). Zu den Nationalkommunisten vgl.: Volodymyr V. Dz'bak: Konflikti v OUN(b) i ïch vplyv na ukraïns'kyj Ruch Oporu (1941-1944 rr.), Kyïv, 2005, S. 36. Vgl. auch T. Bul'ba-Borovec': Za ščo boret'sja Ukraïns'ka Povstans'ka Armija (UPA) (1942 r.). Link. (zuletzt aufgerufen 16.05.2024)

6: Jevhen Staxiv: Rol' Schidnoï Ukraïny u formuvanni novych idejno-polityčnych zasad OUN-b, in: NAH Ukraïny, Instytut ukraïnoznavstba im. I. Krip'jakevyča (red.): Ukraïns'ka Povstans'ka Armija u borot'bi proty totalitarnych režymiv, L'viv, 2024, S. 51-55.

7: Borys Zacharov: Rosochac'ka grupa, 24.5.2005, Link (Übersetzung des Autors). (zuletzt aufgerufen 16.05.2024)


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