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Wir bekommen keine Lösungen von einem Tag auf den anderen“
Russlands völkerrechtswidriger Krieg in der Ukraine markiert einen Wendepunkt in der deutschen und europäischen Sicherheitspolitik. Auf Putins mehrfache Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen haben die NATO und die Europäische Union (EU) außer mit dem verstärkten Schutz ihrer Ostgrenzen sowie der Unterstützung der Ukraine mit der Verabschiedung von neuen strategischen Konzepten reagiert.
In Deutschland befinden sich die Arbeiten an der ersten „Nationalen Sicherheitsstrategie“ in der Geschichte der Bundesrepublik in der abschließenden Phase. Ein erstes wichtiges und international auch viel beachtetes Signal sandten Bundesregierung und Bundestag jedoch auf Initiative von Bundeskanzler Olaf Scholz bereist zuvor durch den Beschluss für ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro zur besseren Ausrüstung der Bundeswehr.
Beim Sicherheitspolitischen Forum NRW unter dem Titel „Zeitenwende in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik – Auswirkungen auf die Bundeswehr“ in Bonn begrüßte Sohel Ahmed aus dem Landesbüro Nordrhein-Westfalen der veranstaltenden Friedrich-Ebert-Stiftung die zahlreichen Teilnehmer_innen. Als Ziel des Forums nannte Ahmed eine Debatte über die Folgen des politischen Kurswechsels für Auftrag, Ausrüstung und Struktur der deutschen Streitkräfte. Zugleich erhoffte sich der Gastgeber die Benennung von künftigen Herausforderungen für Truppe, zivile Mitarbeiter_innen der Bundeswehr und wehrtechnische Wirtschaft. Zur Erörterung der Thematik nahmen nach persönlichen Beiträgen Thomas Hitschler MdB als Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, Stabsfeldwebel Volker Keil als Vize-Vorsitzender im Landesverband West des Deutschen Bundeswehrverbandes, die Bundesvorsitzende Imke von Bornstaedt-Küpper vom Verband der Beamten und Beschäftigten der Bundeswehr sowie Hauptgeschäftsführer Dr. Hans Christoph Atzpodien vom Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie auf dem Podium Platz und stellten sich nach ihren Beiträgen auch Fragen aus dem fachkundigen Auditorium.
Moderator Oberst a.D. Hans-Joachim Schaprian führte mit deutlichen Worten über den Befehl des russischen Machthabers Vladimir Putin zum Angriff auf die Ukraine als „Realitätsschock“ in die Materie ein. „Russlands brutale Machtpolitik verdrängt in vielen Köpfen romantische Vorstellungen, die man sich von Beziehungen zu autoritären Staaten gemacht hat“, erklärte der hochrangige Offizier und schlussfolgerte aus der jahrzehntelangen Fehleinschätzung der westlichen Wertegemeinschaft: „Sicherheitspolitik hat einen völlig neuen Stellenwert.“
Weil dafür „Streitkräfte neben der Diplomatie ein wichtiges Instrument“ blieben, beschrieb Schaprian das Versprechen für die Verwendung des Sondervermögens „zum Aufbau einer leistungsfähigeren, hochmodernen und fortschrittlichen Bundeswehr“ als richtig. Zur Gewährleistung einer glaubhaften Abschreckung und Verteidigung gehören aus seiner Sicht neben Maßnahmen zur Erhöhung der Einsatzbereitschaft allerdings auch der Ausbau der inneren Sicherheit einschließlich des Schutzes der kritischen Infrastruktur. Für diese Bereiche bestehe „großer Handlungsbedarf“.
Die von Schaprian erwünschte „breite gesellschaftliche Diskussion über das neue Konzept der Deutschen“ in der Friedens- und Sicherheitspolitik bereicherten anschließend die vier Gäste durch ihre Beiträge nachhaltig. Ob der Parlamentarische Staatssekretär Hitschler, Keil, Bornstaedt-Küpper oder Atzpodien – alle betonten die historische Dimension der umwälzenden Lageveränderung nach mehr als sieben Jahrzehnten Frieden in Europa und lieferten mehrere mitunter auch kontroverse Denkanstöße zu einem (noch) wirksameren Umgang mit der ernsten Situation.
Der Parlamentarische Staatssekretär Hitschler unterstrich unweit der Bonner Hardthöhe die neuen Anforderungen an die Bundeswehr und leitete daraus auch Unterstützungen für die Forderungen des Militärs ab. „Die Bundeswehr muss das an die Verbündeten gemeldete Fähigkeitsprofil erfüllen können. Das erwarten Europa und ein großer Teil der restlichen Welt von uns. Aus der Bedarfsliste geht aber hervor, dass bei unseren Streitkräften in jedem Bereich Nachholbedarf besteht, deswegen ist der Kern der Aufgabe des Sondervermögens, die über Jahre angestaute Bugwelle an notwendigen Investitionen abzutragen“, bezog der Staatssekretär eine Grundsatzposition.
Der SPD-Politiker warnte in diesem Zusammenhang auch vor weiteren Begrenzungen regulärer Ausgaben für den Verteidigungshaushalt: „Der Einzelplan für die Bundeswehr mit nur einem Fünftel der Mittel für Investitionen ist bereits auf Kante genäht. Wenn wir das wegen des enormen Sondervermögens weiterhin zulassen, wird sich eine neue Bugwelle aufbauen und werden wir schon 2030 wieder an der gleichen Stelle wie im vergangenen Frühjahr nach Kriegsbeginn stehen. Wir brauchen permanente Investitionen.“
Den Bedürfnissen der Streitkräfte möchte das zuständige Ministerium mit einer intensiveren Kooperation mit der wehrtechnischen Industrie begegnen. Dabei sieht der Parlamentarische Staatssekretär Hitschler nicht nur die Unternehmen in der Pflicht. „Es ist von zentraler Bedeutung, dass wir unser Handeln für die Industrie planbar machen. Die Unternehmen sind ein wichtiger Partner für uns und müssen, unter Beachtung wettbewerbsrechtlicher Richtlinien, wissen, was wann gebraucht werden wird. Diese Planbarkeit gehört ebenfalls zur Zeitenwende“, erklärte der Staatssekretär. Als weitere wichtige Themen auf der Agenda im Berliner Bendlerblock identifizierte der Bundestagsabgeordnete die Bekämpfung des Personalmangels in der Truppe und den Abbau von überbordender Bürokratie in Verbindung mit einer prinzipiellen Ermutigung zu mehr Eigenverantwortlichkeit bei Entscheidungsfindungen.
Ans Ende seines Vortrags setzte der Parlamentarische Staatssekretär Hitschler einen Appell. „Wir holen zurzeit Dinge auf, für die jahrelang zu wenig Geld, Willen und Druck vorhanden waren. Aber die Zeit der Ausreden ist vorbei, wir bekommen auch keine Zeit mehr. Weil sich aber nicht alles von heute auf morgen mit einem Fingerschnippen lösen lässt, brauchen wir Geduld. Wir haben mit einer Operation am offenen Herzen begonnen. Wir bekommen keine Lösungen von einem Tag auf den anderen Tag, können aber die Grundlagen dafür schaffen. Deshalb brauchen wir Geduld.“
Keil sieht dafür mit Blick auf den Zustand der Bundeswehr keinen Spielraum. Hätten die deutschen Streitkräfte zu Beginn des Krieges in der Ukraine hinsichtlich Ausstattung und Personal am Abgrund, „sind wir inzwischen einen Schritt weiter“, erklärte der Vertreter des mitgliederstarken Bundeswehr-Verbands sarkastisch und übte weiter Kritik an den politischen Entscheidungsprozessen: „Bei Kriegsausbruch stand die Bundeswehr mehr oder weniger blank da. Aber von den Ankündigungen, dass die Zeitenwende bis zum Ende des Jahres auch bei der Truppe zu bemerken sein soll, ist nichts übriggeblieben. Es ist sogar schlimmer geworden, die Soldaten können nicht mit normalen Materialien ausgestattet werden.“
Der dringend benötigte Aufwuchs beim Personal der Bundeswehr ist nach Einschätzung des ehemaligen Panzergrenadiers am besten durch grundlegende Veränderungen zu erreichen. „Die stagnierende Zahl neuer Soldaten zeigt, dass die Bundeswehr als Arbeitgeber attraktiver werden muss und auch eine gesellschaftliche Debatte über eine mögliche Rückkehr zur Dienstpflicht oder ähnliche Modelle benötigt wird“, sagte Keil. Wie der Parlamentarische Staatssekretär Hitschler forderte auch Keil ein Ende der Überregulierung.
Elementare Bedeutung für die Moral der Truppe schrieb Keil dem Umgang mit der sozialen Dimension der veränderten Weltlage zu: „Die Zeitenwende hat nicht nur finanzielle und materielle Komponenten, es geht um viel mehr, denn es sind die Menschen, die die Landes- und Bündnisverteidigung garantieren, und nur durch einen materielle und personelle Einsatzbereitschaft besteht eine Chance, dass die Soldaten und ihre Familien den anstehenden Aufgaben beruhigt entgegenblicken können. Aber momentan treibt die Menschen leider um, dass sich bei der Bundeswehr die Dinge nicht sichtbar nach vorne bewegen.“
Der Blick auf das Personal richtete auch von Bornstaedt-Küpper. Die VBB-Chefin bestätigte auch aus gewerkschaftlicher Sicht die Notwendigkeit zur Stärkung der Truppe. Von Bornstaedt-Küpper sprach in diesem Zusammenhang mehrere „Stellschrauben“ an, die ihrer Meinung nach vereinzelt miteinander verzahnt die Mangelproblematik zumindest abfedern könnten.
Eckpunkte ihrer Rede waren die Rückbesinnung von derzeit auch in zivilen Bereichen eingesetzten Soldat_innen auf militärische Kernaufgaben, die gezielte Nutzung des funktionierenden Binnenarbeitsmarktes bei der Bundeswehr zur Gewinnung von Zeiteinsatzkräften durch Angebote von zivilen Anschlussgewinnung und der aufsehenerregende Vorschlag für eine Erhöhung der Altersgrenzen im Soldatengesetz.
Der Verzicht auf militärische Kräfte auf der zivilen Bundeswehr-Ebene drängt sich aus von Bornstaedt-Küppers Sicht auf: „Die Idee der Mischung hat nicht funktioniert, denn das konnte auch nur die entstandene Einbahnstraße in Richtung des zivilen Bereichs werden. Aber vor allem können wir uns diesen Ansatz wegen des Mangels im militärischen Bereich nicht mehr leisten.“
Ihren Vorstoß für eine Anhebung der Altersgrenze von 55 Jahren für Berufssoldat_innen will von Bornstaedt besonders als Antwort auf die Probleme der Truppe bei der Personalgewinnung verstanden wissen. „Personal das bleibt“, brach die VBB-Vorsitzende ihren Vorschlag auf eine einfache Rechnung herunter, „muss man nicht gewinnen.“
Atzpodien schloss die Klammer von externen Spezialisten um die beiden Bundeswehr-Insider von Bornstaedt-Küpper und Keil. Der frühere Thyssenkrupp-Vorstand warnte eindringlich vor einem Rückfall in den früheren Normalmodus: „Wir dürfen nicht wieder in den alten Trott der Mangelverwaltung geraten, sondern die bestehende Dringlichkeit in Maßnahmen umsetzen, denn die Lage in der Ukraine kann jederzeit weiter eskalieren, und wir sind überhaupt nicht auf der sicheren Seite.“
Der BDSV-Vorsitzende begrüßte das Verständnis des Parlamentarische Staatssekretärs für die Planungsbedürfnisse seiner Branche und Angebot für entsprechende Gespräche, drängte aber zugleich auf eine Anpassung auch der gesetzlichen Bestimmungen an die neuen globalen Rahmenbedingungen. „Regeln aus Friedenzeiten machen heute Anforderungen teuer und sind in Europa nicht kompatibel. In der Folge können wir marktverfügbare Produkte von guter Qualität nicht anbieten. Wir sind jetzt schon wegen verschiedener Bestimmungen nicht die Schnellsten. Es geht dabei nicht um die Verletzung von Regeln, aber darum, das Leben durch eine Entsperrung des Denkens zu entkomplizieren.
Als Vorbild für die Politik beschrieb Atzpodien die Unternehmen seines Verbands. „Wir haben nach der Zeitenwenden-Rede des Kanzlers begriffen, dass wir ganz anders ticken müssen. Inzwischen ist eine Pipeline entstanden mit zehn Milliarden bestellbaren Dingen“, betonte Atzpodien.
Ausdrücklich betonte Atzpodien auch den Gedanken der europäischen Zusammenarbeit im Wehrbereich. „Der politische Wille von beteiligten Regierungen ist der entscheidende Faktor“, meinte der ehemalige Rüstungsmanager.
An seinem Wirtschaftszweig würde die Verbesserung der Ausrüstung der Bundeswehr nicht zuletzt durch Mittel des Sondervermögens kaum scheitern, versicherte Atzpodien abschließend: „Die Politik und wir sitzen an einer gemeinsamen Werkbank. Wir halten Kapazitäten vor, das geht aber nicht auf unbegrenzte Zeit – es müssen auch Bestellungen kommen.“
Dietmar Kramer, Freie Journalist
Veranstaltungsnummer: 260322 – als .ics herunterladen
Montag, 05.12.2217:30-20:00 Uhr
Teilnahmepauschale keine
Bonn
Sohel Ahmed sohel.ahmed@fes.de
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