Die FES wird 100! Mehr erfahren

Aufstieg nur für wenige?

Die deutsche Gesellschaft wird immer undurchlässiger. Ein Beitrag von Dorothee Spannagel, Verteilungsexpertin am WSI der Hans-Böckler-Stiftung.

Soziale Mobilität - Grundvoraussetzung sozialer Gerechtigkeit

Soziale Mobilität, die Bewegung von Personen zwischen sozialen Positionen, ist eine zentrale Dimension sozialer (Un-)Gleichheit. Sie ist gleichzeitig eine Grundvoraussetzung für eine sozial gerechte Gesellschaft. Chancengleichheit, eine der fundamentalen Dimensionen sozialer Gerechtigkeit, ist nur dann verwirklicht, wenn alle Menschen gleichermaßen die Chance haben, sozial aufzusteigen – sei es im Verlauf ihres eigenen Lebens, sei es gegenüber ihrer Elterngeneration. Soziale Aufstiege sind in Deutschland aber für viele Menschen immer schwerer möglich. Die deutsche Gesellschaft ist in den letzten Jahrzehnten deutlich undurchlässiger geworden. Das alte Versprechen der sozialen Demokratie – Teilhabe durch Leistung – wird für immer weniger Menschen tatsächlich eingelöst. Stattdessen werden Lebenschancen blockiert und ganze Bevölkerungsschichten sind von sozialer Ausgrenzung bedroht; ein Trend der insbesondere in Ostdeutschland zu beobachten ist. All dies bedeutet auch: Die fundamentalen Grundwerte einer sozialen Demokratie werden hierzulande zunehmend verletzt – eine Entwicklung, die sich wie ein roter Faden durch die bundesdeutsche Geschichte zieht.

Früher – Weg nach oben

In den Nachkriegsjahren herrschte in Deutschland ein sehr hohes Maß an sozialer Mobilität. Für die Allermeisten kannte diese Mobilität nur eine Richtung: Nach oben. Wer in den 1940er oder 1950er Jahren geboren wurde, erlebte oft einen deutlichen sozialen Aufstieg – etwa der Arbeitersohn, der Ingenieur wurde oder die Schreibkraft ohne Schulabschluss, die es bis zur Chefsekretärin brachte. Diese ausgeprägte Aufwärtsmobilität war eine direkte Folge des „Wirtschaftswunders“, das heißt des starken und langanhaltenden ökonomischen Aufschwungs und der Vollbeschäftigung. Sie resultierte aber auch aus politischen Entscheidungen. Vor allem der Ausbau des Sozialstaates oder die Reformen im Bildungssystem waren in diesem Zusammenhang entscheidende Weichenstellungen. Letztere führten zur Bildungsexpansion, die für das sprichwörtliche katholische Arbeitermädchen vom Lande die Grundlage für den sozialen Aufstieg bildete.

Heute - Blockierte Aufstiegschancen

Heute ist diese Aufwärtsmobilität merklich ins Stocken geraten, die Durchlässigkeit der deutschen Gesellschaft ist stark rückläufig. Bereits für in den 1960er Jahren Geborene ist das Risiko, gegenüber dem Elternhaus sozial abzusteigen stark angestiegen (Pollak et al. 2011) – ein Trend, der sich für die jüngeren Geburtsjahrgänge weiter fortsetzt. In kaum einem anderen Land hängen die Aufstiegschancen so stark von der sozialen Herkunft ab wie hierzulande (Groh-Samberg und Hertel 2015): Gerade in der Schule zählt Leistung oftmals weniger als Herkunft. Aufstiegschancen für Kinder aus sozial schwächeren Familien werden hier schon früh blockiert.

Reich bleibt reich und arm bleibt arm

Aber nicht nur die intergenerationale Mobilität ist rückläufig, auch die Chancen, im Verlauf des eigenen Lebens sozial aufzusteigen, haben sich in den letzten Jahrzehnten für viele verschlechtert. Die Einkommensverteilung wird zunehmend undurchlässiger (Spannagel 2016). Das heißt: Wer einmal reich ist, kann sich seiner gehobenen sozialen Lage immer sicherer sein. Wer hingegen einmal arm ist, hat zunehmend schlechtere Chancen, diese defizitäre Situation zu überwinden. Zudem ist für Personen direkt oberhalb der Armutsgrenze in den letzten Jahren das Risiko, in Armut abzurutschen, gestiegen. Das Problem dabei ist: Je länger eine Armutssituation andauert, desto stärker wird die soziale Teilhabe der Betroffenen eingeschränkt. Dieser Mechanismus wird dadurch verstärkt, dass prekäre Beschäftigungsformen wie geringfügige Beschäftigung oder unfreiwillige Teilzeit für viele Menschen immer mehr zu einem Dauerzustand werden.

Wie lässt sich die sozial segmentierte Gesellschaft aufbrechen?

Eine entscheidende Rolle spielt hier das Bildungssystem – von den Institutionen der frühkindlichen Bildung bis hin zur Universität – ist doch Bildung traditionell der Schlüssel für sozialen Aufstieg. Der (Miss-)Erfolg eines Kindes im Bildungssystem muss auf seiner Leistung beruhen und nicht auf seinem Elternhaus. Mehr Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt, gerade für Geringqualifizierte oder Migranten, ist ein zweiter entscheidender Ansatzpunkt. Wenn es gelingt, mehr Menschen über angemessen entlohnte, sozialversicherungspflichtige (Vollzeit-)Beschäftigung dauerhaft in den Arbeitsmarkt zu integrieren, steigt auch die soziale Mobilität. Zudem muss das Steuersystem neu justiert werden: Hohe Vermögen müssen wieder progressiv besteuert und die Steuersätze für hohe Erbschaften und Schenkungen deutlich angehoben werden. Nur so lässt sich die Vererbung und damit die Verfestigung sozialer Ungleichheiten über Generationen hinweg durchbrechen. Es geht bei all diesen Maßnahmen um eine gerechtere Verteilung von Lebenschancen. Aufstieg durch Bildung, durch eigene Leistung, muss in Deutschland wieder möglich sein – und zwar für alle Menschen gleichermaßen, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft.

Literatur

  • Groh-Samberg, O. und F. R. Hertel. 2015. Ende der Aufstiegsgesellschaft? Aus Politik und Zeitge-schichte 65: S. 25–35.
  • Pollak, R., J. Allmendinger, M. Ehlert et al. 2011. Soziale Mobilität, Ursachen für Auf- und Abstiege. Studie für den 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Berlin: BMAS.

Das könnte Sie auch interessieren


nach oben