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Die Gute Gesellschaft ist kein Mythos

Es gibt moderne Mythen, die vollkommen harmlos sind: Denken Sie etwa an Nessie, das Monster von Loch Ness. Sein Effekt auf den schottischen Tourismus dürfte sogar sehr positiv sein. Aber es gibt auch Mythen, die Wirtschaft und Gesellschaft schweren Schaden zugefügt haben und noch immer wirken. Das neoklassische Narrativ, dass Ungleichheit über den "Trickle-down-Effekt" Wirtschaftswachstum erzeuge, ist eines davon. Längst widerlegt, geistert es noch immer durch die Köpfe vieler selbst ernannter Ordnungspolitiker.

Aber während die internationale Debatte dank prominenter Stimmen wie der des Wirtschaftsnobelpreisträgers Joseph Stiglitz (Der Preis der Ungleichheit), des französischen Starökonomen Thomas Piketty (Das Kapital im 21. Jahrhundert) oder des britischen Ungleichheitsforschers Anthony Atkinson (Ungleichheit: Was wir dagegen tun können) längst weiter ist, tritt der deutsche Diskurs auf der Stelle. Noch immer finden sich hierzulande Beiträge, die von einem "gehypten Thema" (Christoph M. Schmidt, Sachverständigenrat) sprechen oder raten, man sollte "die Kirche im Dorf lassen", wenn es um Einkommensunterschiede in Deutschland geht (Rainer Hank, FAS). Aber wenn selbst internationale Organisationen wie die OECD (Why Less Inequality Benefits All) und der IWF (Causes and Consequences of Income Inequality: A Global Perspective), die frei sind vom Vorwurf linker Kapitalismuskritik, vor den Folgen von Ungleichheit für Wohlstand und Wachstum warnen, wird die Brisanz deutlich.

Die erschreckenden Fakten: Die globale Ungleichheit ist auf dem Vormarsch, auch in Deutschland. Je nach Datengrundlage gehören hierzulande den reichsten 10 % der Bevölkerung mehr als 50 % des Nettovermögens, während die untere Hälfte nur über 1 % verfügt. Die soziale Herkunft bestimmt zunehmend die Teilhabe- und Aufstiegschancen der Menschen in Deutschland.

Soziale Ungleichheit wirkt sich u. a. negativ auf die Gesundheitsversorgung und die Bildungschancen der ärmeren Menschen aus. In einer globalen, arbeitsteiligen Wissensökonomie wird der Talentepool Deutschlands dadurch fahrlässig verkleinert. Die höhere Ersparnisbildung der reicheren Haushalte führt auch nicht zu mehr Investitionen in die Realwirtschaft in Deutschland, sondern versandet zunehmend in den renditeträchtigeren internationalen Finanzmärkten. Das schwächt die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und bremst das Wachstum.

Gute Gesellschaft – 2017plus

Im Rahmen des Projektes "Gute Gesellschaft – 2017plus" hat sich die FES daher die Aufgabe gestellt, den deutschen Gleichheitsdiskurs mit empirischen Studien und internationalen Perspektiven zu befördern und den deutschen an den internationalen Diskurs anzuschließen. Zielpunkt des Projektes ist der Kongress "MEHR GLEICHHEIT – Wirtschaftlich notwendig. Politisch unerlässlich. Sozial gerecht." am 28. und 29. November 2016 in Berlin. Auf dem Weg lagen neben neuen empirischen Studien auch Dialogreisen nach Lateinamerika, Schweden und Großbritannien.

Internationale  Erfahrungen

Wenn wir über das Ausmaß der Ungleichheit, ihre Ursachen und Folgen sprechen, dann lohnt selbstverständlich auch der Blick über den nationalen Tellerrand; der internationale Austausch über Erfolge und Herausforderungen; konkrete Instrumente und Strategien.

Während in den Industrieländern Armut und Ungleichheit zunehmen, ist es Lateinamerika – der Region mit der größten Ungleichheit – im vergangenen Jahrzehnt gelungen, die extreme Armut zu verringern. In einigen Fällen gelang es zudem, das enorme soziale Gefälle zu verkleinern. Das kleine Uruguay und der Gigant Brasilien sind hier von besonderem Interesse.

Schweden war lange der Gleichheitschampion der industrialisierten Welt. Aber seit einiger Zeit nimmt die Ungleichheit auch dort enorm zu – der Abschied aus dem beschaulichen Bullerbü Astrid Lindgrens ist längt vollzogen. Bemerkenswert: Vor allem in der Sekundärverteilung, also nach Umverteilung durch Steuern und Sozialabgaben, ist die Ungleichheit gestiegen.

Großbritannien ist Referenzpunkt der Predistribution-Debatte, die genau hier ansetzt: Bei der Frage, wie erreicht werden kann, dass der Staat nicht nur als Reparaturbetrieb tätig ist, sondern auf eine gleichmäßigere Verteilung der Primäreinkommen hinwirkt.

In aller Kürze lassen sich die Ergebnisse der Dialogreisen einer Gruppe zentraler Akteure aus Politik, Wissenschaft, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft wie folgt zusammenfassen:

Lateinamerika – gegen den globalen Trend: In einigen Ländern Lateinamerikas wurde Ende der 90er Jahre entgegen des neoklassischen Zeitgeists Ungleichheit als größtes Entwicklungshemmnis identifiziert. Mit großem Erfolg wurde auf mehr Verteilungsgerechtigkeit gesetzt. Während sich in den OECD-Ländern die Kräftebalance auf dem Arbeitsmarkt zugunsten der Arbeitgeber verschob und im Zuge dessen der Organisationsgrad und die gewerkschaftliche Verhandlungsmacht sanken, setzten beispielsweise die Regierungen in Uruguay und Brasilien auf die Aufwertung des Werts der Arbeit. Der Befund einer Studie des IWF von 2015 gibt ihnen Recht: je schwächer der gewerkschaftliche Organisationsgrad im internationalen Vergleich, desto größer die Ungleichheit.

Sie entwickelten Maßnahmen, die wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt kombinierten und es gelang ihnen durch ein starkes Bündnis zwischen Mitte-Links Parteien, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, die Verhandlungs- und Durchsetzungsmacht der Beschäftigten zu verbessern. Über eine Dekade waren in beiden Ländern progressive Regierungen mit einem gleichheitsorientierten Diskurs in der Lage Wahlen zu gewinnen, die Mitgliedschaft in ihren Parteien zu erhöhen und Politiken umzusetzen, die als gleichheitsschaffend von der Bevölkerung honoriert wurden, und zwar – zumindest zeitweise – nicht nur von denen, die hiervon direkt profitierten.

Schweden – gleicher aus Tradition: Die nordischen Länder mit ihren gut entwickelten Wohlfahrtsstaaten und organisierten Arbeitsmärkten gelten als Gesellschaften, in denen der Wert der Gleichheit eine lange Tradition hat. Die jahrzehntelange Regierungsmacht der Sozialdemokraten in Schweden, die nur zwischen 2006 und 2014 von einer liberal-konservativen Regierung unterbrochen wurde, hat nicht nur für gut ausgestattete soziale Sicherungssysteme und einen beschäftigungsreichen öffentlichen Dienstleistungssektor, sondern auch für einen hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad und konkrete Gleichstellungspolitiken gesorgt. Die langjährige Praxis der Gleichstellung hat etwa dazu geführt, dass Frauen im internationalen Vergleich deutlich stärker ins Erwerbsleben integriert sind. Das steuerfinanzierte soziale Sicherungssystem mit universellem Anspruch gilt weiterhin als vorbildlich. Allerdings hat auch in Schweden im letzten Jahrzehnt die Vermögenskonzentration stark zugenommen, während die Einkommensungleichheit immer noch vergleichsweise niedrig ist. Unter der liberal-konservativen Regierung trugen einige Reformen wie Leistungskürzungen, Steuererleichterungen und die Abschaffung der Vermögenssteuer zur Verschärfung der Ungleichheit bei.

Zentrales Erfolgsrezept sind aber weiterhin der hohe gewerkschaftliche Organisationsgrad und eine ausgeprägte Sozialpartnerschaft sowie eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die für ein hohes Beschäftigungsniveau sorgt. Auch wenn globaler Anpassungsdruck und wachsende Ungleichheit das langfristig gewachsene Vertrauen in politische wie gesellschaftliche Institutionen bedroht und rechtspopulistische Kräfte in der aktuellen Flüchtlingssituation an Zuspruch gewinnen, liegt Schweden im internationalen Ranking auch weiterhin in Bezug auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wie auch soziale Errungenschaften auf den vorderen Plätzen und ist in vielerlei Hinsicht noch immer einer der "gleichsten" Staaten weltweit.

Großbritannien – politische Folgen wachsender Ungleichheit:Zwischen 2010 und 2015 prägte der Ansatz der Predistribution zu einem gewissen Grad die programmatische Ausrichtung der Labour-Partei in Großbritannien und setzte sich damit ab von der Ära New Labour. Der Ansatz beinhaltete eine Reihe von Handlungsempfehlungen, die einen stärkeren Fokus von der Sekundär- auf die Primärverteilung legten, um für mehr Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen. Die Anhebung des Mindestlohns und des Existenzminimums, der flächendeckende Ausbau und die Bereitstellung öffentlicher Güter unabhängig von Einkommen sowie die stärkere Regulierung des Energiesektors, spiegelten den Willen wider, von staatlicher Seite auf die wachsende Ungleichheit nicht erst im Nachhinein durch steuerpolitische Maßnahmen korrigierend einzugreifen. Neben den traditionellen Instrumenten des Wohlfahrtsstaats sollten höhere soziale Investitionen und eine investive Industriepolitik tragende Rollen in der Bekämpfung der Ungleichheit und der Erhöhung der Produktivität spielen. In der gegenwärtigen Debatte und Lage ist das Konzept allerdings nicht mehr stark präsent.

Politische Folgen wachsender Ungleichheit wurden auch in der Brexit-Entscheidung deutlich. Ausschlaggebend für das Leave-Votum war neben einer diffusen Angst vor Überfremdung und dem Misstrauen in das institutionelle System der Europäischen Union aber vor allem die von vielen als zu hoch empfundene soziale Ungleichheit in Großbritannien. Für deren Bekämpfung wird Umverteilung allein als politische Strategie wohlmöglich nicht ausreichen.

Nationale Befunde

Ein weiterer Baustein des Projektes "Gute Gesellschaft – 2017plus" der FES waren Studien zur Ungleichheit, die große öffentliche Aufmerksamkeit hervorriefen.

Regionale Ungleichheit: Dass Ungleichheit neben einer wirtschaftlichen und sozialen auch eine räumliche Dimension hat, zeigte die im März erschienene Studie der FES "Ungleiches Deutschland – Sozioökonomischer Disparitätenbericht 2015". Trotz einer gesamtwirtschaftlich positiven Entwicklung kommt das Wachstum in vielen Regionen nicht an und bedroht das im Grundgesetz verankerte Ziel der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Denn die regionale Ungleichheit nimmt zu oder verfestigt sich weiter.

Die von der wirtschaftlichen Entwicklung abgehängten Regionen haben immer mehr Schwierigkeiten bei der Bereitstellung der öffentlichen Daseinsvorsorge. Ihre Kommunen befinden sich zunehmend in einem Teufelskreis aus Verschuldung, Wachstumsschwäche, Arbeitslosigkeit und Abwanderung. Die Bewohner müssen mit einer schlechteren Ausstattung der Infrastruktur auskommen. Ihre Chancen, erfolgreich am Arbeitsleben und an den sozialen und kulturellen Alltagsbeziehungen teilzunehmen schwinden.

Zukunft des Sozialstaats: Diese Entwicklungen zeigen sich auch in zentralen Ergebnisses einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung im Auftrag der FES: 82 % der Menschen sind der Ansicht, dass die soziale Ungleichheit in Deutschland mittlerweile zu groß ist. 76 % sind außerdem der Meinung, dass das Ausmaß der inzwischen erreichten sozialen Ungleichheit der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland schadet. Gleichzeitig vertraut nur eine Mehrheit von 60 % darauf, dass sozialstaatliche Leistungen zur Bekämpfung sozialer Ungleichheit beitragen.

Danach gefragt, welche Maßnahmen sich eignen würden, der zunehmenden sozialen Spaltung entgegenzuwirken, zeigen sich zudem überraschend hohe Zustimmungsraten für Vermögens- und Erbschaftssteuern. Die Befragung belegt aber auch, dass es zwischen der starken Ungleichheitskritik und der Bereitschaft, dem durch eine bessere Finanzierung des Wohlfahrtsstaates entgegenzuwirken, eine große Diskrepanz gibt.

Was kostet Ungleichheit? Wieviel Wachstum und Wohlstand die große Ungleichheit in Deutschland konkret kostet und gekostet hat, ist Gegenstand einer Simulationsstudie, die im Auftrag der FES vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung derzeit durchgeführt wird. Erste Ergebnisse werden zum Kongressbeginn im Herbst dieses Jahres vorliegen.

Der Wert der Gleichheit

Gleichheit ist seit der Französischen Revolution eines der großen politischen Ideale. Es herrscht inzwischen ein hart erfochtener, aber großer Konsens, dass rechtliche und politische Gleichheit zum Wesensprinzip der Demokratie gehören. Mehr Gleichheit im wirtschaftlichen und sozialen Bereich ist die Aufgabe unserer Zeit.

Das Hamburger Programm der SPD stellt klar: "Wo die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen die Gesellschaft teilt in solche, die über andere verfügen, und solche, über die verfügt wird, verstößt sie gegen die gleiche Freiheit und ist darum ungerecht. Daher erfordert Gerechtigkeit mehr Gleichheit in der Verteilung von Einkommen, Vermögen und Macht. Denn große Ungleichheiten in deren Verteilung gefährden die Gleichheit der Lebenschancen. Deswegen ist die soziale Demokratie notwendig."

Im Kontext einer sozialen Demokratie geht es in Fragen der Gleichheit also um den Abbau von Unterschieden in den sozialen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen, während Verschiedenheit bei menschlichen Eigenschaften wie Religion, Lebensentwürfen, Nahrungsvorlieben, Geschmack oder sexueller Orientierung als Bereicherung der Gesellschaft wahrgenommen werden: Nicht Gleichmacherei, sondern im Sinne Willy Brandts die Gleichrangigkeit der Menschen.

Das bedeutet auch: Eine Demokratie muss der im Kapitalismus angelegten zunehmenden Ungleichheit laufend gegensteuern, sonst gefährdet sie sich selbst. Die Superreichen münzen wirtschaftlichen in politischen Einfluss, die Abgehängten bleiben nicht nur von den Wahlen fern, öffentliches Vertrauen und damit die Basis des Zusammenlebens erodiert.

Nessie hat die Fantasie vieler Abenteurer beflügelt, obwohl es offenbar nur ein Mythos ist. Die Forderung nach mehr Gleichheit hat die Kraft, der politischen Debatte wieder Flügel zu verleihen. Denn die Gute Gesellschaft ist kein Mythos, sie ist ein konkretes politisches Projekt. Wir arbeiten dafür.

(Dieser Artikel ist auch erschienen in NG/FH 10/2016)


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