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Die Idee der Predistribution

Patrick Diamond, Dozent an der Queen Mary University of London und Vorsitzender des Thinktanks Policy Network, erläutert in diesem Beitrag das progressive Konzept der Predistribution.

Das Konzept der Predistribution fordert den Staat auf, Ungleichheiten zu verhindern bevor sie überhaupt auftreten, anstelle der Bekämpfung von Ungleichheiten durch traditionelle Steuer- und Ausgabeinstrumente, nachdem diese eingetreten sind. In den letzten 30 Jahren konnten wir einen dramatischen Anstieg von Einkommensungleichheit in den modernen Demokratien beobachten.

Zur gleichen Zeit hat das zunehmende Vertrauen in die Umverteilung zu einer Reaktion gegen den 'Steuerstaat' geführt, die bei Menschen mit mäßigen Einkommen den Unmut gegenüber den Armen verstärkte und gleichzeitig die konservative Haltung über die begrenzten Rolle der Regierung befeuerte. Staaten verfolgen in der Regel unterschiedliche Umverteilungsstrategien und möchten mehr ausgeben als sie absehbar durch Steuererhöhungen einnehmen können, wodurch das Problem der steigenden Staatsverschuldung noch vergrößert wird (Streek, 2014; Atkinson, 2014). Die predistributive Politik zielt auf Marktreformen, die eine gleichere Verteilung der ökonomischen Macht fördert und präventiv Ungleichheit verhindert, bevor die Regierung Steuern einzieht oder Leistungen auszahlt (Hacker, 2012). In einer Phase mit relativ schwachem Wachstum und gleichzeitigen demografischen und technologischen Veränderungen, die den Druck auf das traditionelle Wohlfahrtsstaatsmodell erhöhen, strebt Predistribution danach, wirksame Ansätze für die Restrukturierung der Marktwirtschaft zu entwickeln, um langfristiges Wachstum zu gewährleisten, von dem alle gerechter profitieren. Bei dieser Strategie, so Matzner und Streek (1991:16), "wird das Prinzip der Gleichheit in die Organisation der Produktionsprozesse direkt integriert, anstatt von der Wirtschaft auf Kosten der Effektivität geformt zu werden".

Die Predistribution vertraut nicht alleine auf den Umverteilungsaspekt der Sozialpolitik, sondern setzt auf die Forderung nach Arbeitsqualität, auf die Schaffung 'guter Jobs' in der Wirtschaft, auf den bestehenden Rahmen von Arbeitnehmerrechten sowie auf die Auswirkungen von Märkten, die dem gesellschaftlichen Interesse dienen, indem sie alle Konsumenten (auch die Verletzlichen) fair behandeln. Natürlich ist das Konzept der Predistribution keine Devise, mit der man Wahlen gewinnen kann, aber es bietet wichtige Einsichten über sozialdemokratische Politik in der Zeit nach der Krise.

Ein predistributiver Rahmen

Ein neuer sozialer und ökonomischer Rahmen, der sich an dem Prinzip der Predistribution orientiert, muss drei grundlegende Ansatzpunkte haben:

Erstens, Predistribution benötigt einen aktiven Staat mit klaren Prinzipien und Absichten in einer Zeit, in der öffentliche Ausgaben stark eingeschränkt werden, viele Staaten einen strengen Schuldenabbau verfolgen und auch bei geringem Wachstum und säkularer Stagnation weiter eine Sparpolitik betreiben. Seit 2008 haben politische Interventionen, wie die Quantitative Lockerung (Quantitative Easing, QE), die Ungleichheit deutlich verschärft, indem relative Vermögenswerte in die Höhe getrieben wurden, während die realen Haushaltseinkommen stagniert sind (Gamble, 2014).

Zweitens muss Predistribution sich damit auseinandersetzen, dass die Möglichkeiten des Wohlfahrtsstaats zur Umverteilung schon vor der Krise abgenommen haben. Neben der Einführung neoliberaler Regimes, die die egalitären Effekte des Wohlfahrtsstaates geschwächt haben, ist dies zum Teil auf Veränderungen seit den 1970er und 1980er Jahren zurückzuführen. Gleichermaßen verantwortlich ist ein struktureller Wandel, zum Beispiel in der Demografie und durch steigende Abhängigkeitsverhältnisse, der die Ausgaben für Gesundheit und Soziales unter Druck gesetzt und im Gegenzug die Ressourcen eingeschränkt hat, die die allgemeinen Chancen durch Vorschulinvestitionen, Bildung, Ausbildung und Umschulung vergrößern sollten. Es überrascht nicht, dass viele europäische Gesellschaften seit den 1960er und 1970er Jahren einen abnehmenden Anteil an relativer sozialer Mobilität vorweisen.

Drittens produzieren Märkte mehr Ungleichheit als bisher, weil der Anteil des Wachstums, der vom Kapital zu Lasten der Arbeit absorbiert wird, exponentiell angestiegen ist. Die Wachstumsraten haben sich zwar aus den Abgründen der Rezession nach 2008 erholt, aber das Wachstum bleibt langsam und unregelmäßig. Es gibt kein neues 'Wachstumsparadigma', das fähig scheint, den westlichen Wohlstand wiederzubeleben. Die Auswirkungen der Digitalisierung in Schlüsselsektoren waren bisher uneinheitlich und gleichzeitig behindert eine fehlende wirksame Koordination die Erholung der liberalen Weltwirtschaft (Gamble, 2014; Mason, 2014). Einige Kommentatoren haben gefragt, ob ein neues Wachstumskonzept benötigt wird, das ökologische Nachhaltigkeit und das Wohlergehen der Menschen berücksichtigt und gleichzeitig sicherstellt, dass das Bruttosozialprodukt nicht auf eine immer kleinere Gruppe der Bevölkerung verteilt wird (De Beer, 2014). Weil die Rentabilität der Unternehmen zurückgegangen ist, sind die Realeinkommen gesunken (Carlin, 2012). Wenn sich die Möglichkeiten des Wohlfahrtsstaats verringern, die steigenden sozialen und ökonomischen Ungleichheiten auszugleichen, ist ein Modell der Predistribution notwendig.

Politische Interventionen

Sparprogramme und Finanzkrise treffen die Bedürftigen am härtesten. Hinzu kommt die Last steigender Arbeitslosigkeit in Europa, vor allem bei der Jugend. Es ist wichtiger denn je, Ungleichheiten durch eine Reform des Systems der kapitalistischen Produktion zu verringern, anstatt auf nachträgliche Interventionen durch den Wohlfahrtsstaat zu vertrauen. Das Ziel ist, den Rahmen neu zu setzen, in dem kapitalistische Märkte operieren, und sowohl Gerechtigkeit als auch Effizienz zu stärken, anstatt die 'Verlierer' für die nachteiligen Auswirkungen des Marktes zu entschädigen. Beispiele für politische Eingriffe sind:

  • Härtere Regulierung der Finanzmärkte, um 'subjektive Risiken' zu mäßigen und sicherzustellen, dass Steuerzahler nicht für die Rettung gescheiterter Banken und Finanzinstitutionen zahlen müssen;

  • Begrenzung der Prämien für Manager, indem Aktionäre und Angestellte das Recht bekommen, gegen überhöhte Gehälter und Bonuszahlungen Einspruch zu erheben;

  • Entflechtung von Monopolen und Kartellen in Produkt- und Kapitalmärkten und Unterstützung bei der Gründung von Start-ups und kleinen und mittleren Unternehmen;

  • Ein System der Geschäftsführung in großen Unternehmen, das Arbeitern Einfluss im Management des Unternehmens gewährt;

  • Maßnahmen zur Erhöhung des nationalen Mindestlohns und des Existenzminimums, um Geringverdiener dabei zu unterstützen, ihre relative Außenseiterposition auf dem Arbeitsmarkt zu stärken und zum Eintritt in die Gewerkschaften in traditionell prekarisierten Branchen zu ermutigen;

  • Arbeitsmarktreformen, die die Flexibilität der Arbeiter und der Unternehmen verbessern: Die Absicht ist nicht, Entlassungen, die die Kluft zwischen Insidern und Outsidern vergrößern, gesetzlich zu verbieten, sondern sicherzustellen, dass marginalisierte Gruppen, wie Alleinerziehende und Behinderte, dauerhaft im Kontakt mit dem Arbeitsmarkt bleiben können;

  • Systematische Weiterbildungs- und Ausbildungsprogramme, die sich an diejenigen 50 Prozent richten, die nicht studieren;

  • Neue Regeln für die Auftragsvergabe, um bei öffentlichen und privaten Unternehmen, die staatliche Güter und Dienstleistungen liefern, gerechte Beschäftigung zu gewährleisten;

  • Definition von sozialen Normen und Regeln zur Stärkung von rechtlichen Vorschriften und Regeln, um die Kultur des Niedriglohns in den Privatwirtschaft zu bekämpfen;

  • Regulatorische Marktinterventionen, die steigende Preise von Gütern und Dienstleistungen für die ärmsten Gruppen beschneiden, insbesondere für Energie, Verkehrsmittel und Lebensmittel;

  • Eine 'Demokratie mit Eigentümerbesitz', die der Mehrheit einen Anteil an Wohlstand und Kapital der Nation überträgt und vererbte Wohlstandskonzentrationen der Privilegierten angreift (O'Neill & Williamson, 2014): Dazu sollte ein Anteil der Einkommen in Form von Aktien ausgezahlt werden.

Zwei Seiten der Medaille

Predistributive Politik zielt auf die Anhebung der zugrunde liegenden Wachstumsraten der Wirtschaft ebenso wie auf die Förderung der Gleichheit und ist wesentlich für einen neuen Gesellschaftsvertrag in der Wissensökonomie (Hall, 2014). Größere soziale Gerechtigkeit wird nicht zu Lasten der wirtschaftlichen Effizienz angestrebt, sondern muss als ergänzender Bestandteil betrachtet werden. Durch größere Chancengleichheit und ihre Auswirkungen werden verbesserte, langfristige wirtschaftliche Leistungen in Europa noch gesteigert. Die Einschränkung von Niedriglohnstrategien soll beispielsweise die Erhöhung der Produktivität unterstützen und gleichzeitig die Effizienz von Arbeit und Produktmärkten stärken (Matzner & Streek, 1991). Das Ziel sollte sein, aus dem Ungleichgewicht zwischen geringem Lohn und geringer Produktivität auszubrechen, das zu einem Bestandteil der 'anglo-liberalen' Wirtschaften geworden ist, um Bildungsniveau, Produktivität und Lebensstandards zu erhöhen.

Dies bedeutet nicht, dass Sozialdemokraten den traditionellen Wohlfahrtsstaat und seine Umverteilungsmechanismen einfach aufgeben sollen. Im Gegenteil, Märkte werden immer mangelhafte Ergebnisse produzieren. Einige Bürger werden einfach nicht fähig sein, nutzbringend am Markt teilzuhaben, und von traditionellen staatlichen Unterstützungen abhängig bleiben, um ihre Existenz zu sichern. Darüber hinaus ist die Angleichung der Wirtschaftsergebnisse in den modernen kapitalistischen Demokratien notwendig, um eine stabilere und kohäsive Gesellschaft zu gewährleisten. Die Lehre der letzten 30 Jahre ist, dass sowohl predistributive als auch redistributive Programme notwendig sind, um eine gerechtere und gleichere Gesellschaft zu formen. Redistribution und Predistribution sind zwei Seiten der selben Medaille.

Aus dem Englischen übersetzt von Dr. Valeska Henze

Die Beiträge, auf die sich dieser Aufsatz bezieht, sind zu finden in: C. Chwalisz & P. Diamond (eds.), The Pre-Distribution Agenda: Tackling Inequality and Supporting Sustainable Growth (IB Tauris, 2015).


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