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Dierk Hirschel, Chefökonom der Gewerkschaft ver.di, fordert mehr Widerstand gegen den neoliberalen Zeitgeist. Ein Blick auf verteilungspolitische Erfolge lateinamerikanischer Mitte-Links-Regierungen lohne sich.
Die Ungleichheit ist bekanntlich nicht auf dem ganzen Erdball gestiegen. Einige unbeugsame Länder leisteten dem neoliberalen Zeitgeist erfolgreich Widerstand. Sie erreichten durch eine andere Politik mehr Verteilungsgerechtigkeit.
Uruguay etwa hat in der jüngsten Vergangenheit international beachtete Erfolge beim Abbau der Ungleichheit erreicht. Vor zehn Jahren, inmitten der schwersten Wirtschaftskrise des Landes, gewann das Mitte-Links-Bündnis Frente Amplio die Nationalwahlen. Es folgten zwei weitere Wahlsiege. Die neue Regierung unter Führung von Tabaré Vázquez reformierte zunächst den Arbeitsmarkt. Die Einrichtung von Lohnräten belebte die Kollektivverhandlungen. In diesen Lohnräten treffen sich Vertreter der Gewerkschaften, der Unternehmensverbände und des Staates und legen Tariflöhne sowie Mindestarbeitsbedingungen fest. Viele bislang informell Beschäftigte wurden in Kollektivverhandlungen einbezogen. Heute hat Uruguay den kleinsten informellen Beschäftigungssektor Lateinamerikas. Des Weiteren erleichterte der Ausbau von Kollektivrechten gewerkschaftliches Handeln innerhalb und außerhalb der Betriebe.
Ein weiterer Eckpfeiler der Arbeitsmarktreformen war die Mindestlohnpolitik. Der reale Mindestlohn stieg zwischen 2006 und 2011 um 60 %. Arbeitsinspektoren, harte Sanktionen und eine Generalunternehmerhaftung sorgten dafür, dass der Mindestlohn auch eingehalten wird. Darüber hinaus erhöhte die Mitte-Links-Regierung die Leistungen der Arbeitslosenversicherung. Diese Politik der Aufwertung von Arbeit stärkte die Gewerkschaften. Ihre Mitgliederzahl vervierfachte sich in den letzten zehn Jahren. Aufgrund der veränderten Kräfteverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt stiegen die Reallöhne um 40 %. Die gestärkte Binnennachfrage kurbelte das Wachstum an. Natürlich war das kräftige Wirtschaftswachstum auch dem Boom der Rohstoffmärkte geschuldet. Die gerechtere Verteilung der Wachstumsfrüchte sorgte aber auch für eine bessere Ernte.
In diesem guten wirtschaftlichen Umfeld schufen Unternehmen und Staat neue Jobs. Die Zahl sozial versicherter Arbeitsplätze stieg um mehr als 50 %. Gleichzeitig sank die Arbeitslosenquote von 20 auf 7 %. Die gute wirtschaftliche Entwicklung ermöglichte die Finanzierung umfangreicher Sozialreformen. Die Frente Amplio bekämpfte mit Sozialprogrammen erfolgreich extreme Armut. Im Gesundheitswesen wurde eine kostenlose Mindestversorgung eingeführt und die Regierung investierte kräftig in Bildung. Die gesetzliche Rentenversicherung wurde gestärkt und eine progressive Einkommens- und Kapitalbesteuerung eingeführt.
Die politisch gewollte Korrektur der Primär- und Sekundärverteilung reduzierte die Ungleichheit. Der Schlüssel für mehr Verteilungsgerechtigkeit in einem Land mit der längsten demokratischen Tradition Lateinamerikas war die Neuordnung des Arbeitsmarktes.
In Brasilien wurde im Jahr 2002 mit Luiz Inácia Lula da Silva ein Gewerkschafter und Mitglied der Arbeiterpartei (PT) zum Staatspräsidenten der größten lateinamerikanischen Volkswirtschaft gewählt. 2010 folgte ihm seine Parteifreundin Dilma Rousseff. Seit der Regierungsübernahme durch Lula stieg der reale Mindestlohn um 70 %. Reguläre Beschäftigung verdrängte informelle Arbeit. Der Anteil der regulären Jobs an der Gesamtbeschäftigung kletterte von 45 auf 60 %. Zwei von drei brasilianischen Beschäftigten werden heute durch Tarifverträge geschützt. Ähnlich wie in Uruguay führte die verbesserte gewerkschaftliche Verhandlungsposition zu steigenden Reallöhnen. Die höhere Kaufkraft belebte die Wirtschaft und schuf mehr Wohlstand. Unter den Mitte-Links-Regierungen wuchs das Bruttoinlandsprodukt um jährlich fast 3,5 %. Gleichzeitig entstanden rund 20 Millionen neue Arbeitsplätze. Die Arbeitslosenquote sank auf ein historisches Tief.
In diesen "goldenen Jahren" kämpfte die Lula-Regierung mit bedingungsgebundenen Sozialtransfers gegen die extreme Armut. 50 Millionen Brasilianer profitieren von Sozialleistungen. Zudem investierte die Regierung massiv in Bildung, Gesundheit und den sozialen Wohnungsbau. Der ländliche Raum wurde elektrifiziert und die familiäre Landwirtschaft gefördert. Diese Sozialpolitik ermöglichte 35 Millionen Brasilianern den Aufstieg aus der Armut in die Mittelschicht. Die Armutsquote sank von 25 auf 7 %.
Die brasilianischen Mitte-Links-Regierungen verringerten die Kluft zwischen Arm und Reich. Im letzten Jahrzehnt stiegen die Einkommen der Armen - der untersten 10 % - viermal so stark wie die Einkommen des reichsten Zehntel. Heute erschweren der politische Machtwechsel, eine fordernde Mittelschicht, eine konfliktbereite Oberschicht und ein geringerer wirtschaftlicher Verteilungsspielraum eine Fortschreibung dieses sozialen Fortschritts. Das ändert aber nichts an der verteilungspolitischen Erfolgsbilanz der PT-geführten Regierungen.
Von Nachbarn zu lernen ist nicht immer einfach. Südamerika ist nicht Europa, Schwellenländer sind keine Industrieländer und Arbeitsmarktinstitutionen haben immer eine eigene nationale Geschichte. Doch trotz aller sozialen, ökonomischen und kulturellen Unterschiede zeigen die verteilungspolitischen Erfolge der lateinamerikanischen Mitte-Links-Regierungen eines sehr deutlich: Das beste Rezept gegen Ungleichheit sind starke Gewerkschaften und ein arbeitnehmerfreundliches Regelwerk auf dem Arbeitsmarkt. Eine Politik für mehr Gleichheit erfordert ein breites Bündnis von progressiven Parteien, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Nur gemeinsam kann die Verhandlungs- und Durchsetzungsmacht der Beschäftigten gestärkt werden. Hierzulande ging dies bekanntlich kräftig schief. Seit geraumer Zeit bemüht sich die Sozialdemokratie aber wieder darum, ihr Verhältnis zu den Gewerkschaften zu verbessern. Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns, die Rente mit 63 und die erleichterte Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen waren wichtige vertrauensbildende Maßnahmen. Weitergehende Korrekturen waren jedoch in der großen Koalition nicht durchsetzbar.
Die Konzentration auf die Arbeitsmarktinstitutionen als zentrales politisches Feld im Kampf gegen die Ungleichheit bedeutet natürlich nicht, dass alle anderen Politikfelder vernachlässigt werden können. Steuer-, Sozial-, Gesundheits- oder Bildungspolitik haben einen wichtigen Einfluss auf die Verteilung von Lebenschancen. Die geschwächten Sozialstaaten korrigieren noch immer Ungleichheit im nennenswerten Ausmaß. Zudem beeinflusst der Wohlfahrtsstaat direkt und indirekt die Kräfteverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt.
Auch zwischen Berlin und München sollte sich eine gleichheitsorientierte Politik zunächst auf die Neuordnung des Arbeitsmarktes konzentrieren. Jetzt geht es darum das Tarifsystem weiter zu stärken, den Mindestlohn zu erhöhen, Minijobs, ungleich bezahlte Zeitarbeit, unfreiwillige Teilzeitarbeit und Werkverträge durch reguläre Beschäftigung zu ersetzen sowie die Mitbestimmung auszubauen. Zudem sollte der Erwerbsarbeitszwang durch eine Korrektur der Hartz-Gesetze gelindert werden. Der Ausbau des Sozialstaates, mehr Bildung für alle, eine armutsfeste und lebensstandardsichernde Rente, höhere Reichensteuern, etc. bleiben weiterhin wichtige verteilungspolitische Forderungen. Ihre Durchsetzbarkeit steigt jedoch erst, wenn die Gewerkschaften in der Offensive sind.
Artikel in Auszügen aus NG/FH 10/2016